Frau Shen atmete erleichtert auf.
Nanli dachte einen Moment nach und sagte dann: „Wenn ich Madam Chens Gesichtsfarbe betrachte, frage ich mich, wie oft der Arzt kommen muss, um ihren Puls zu fühlen."
Madam Chens Herz setzte aus.
Könnte es sein, dass Nanli etwas aufgefallen war? Unmöglich. Wie konnte ein junges Mädchen wie sie, das noch nicht einmal volljährig war, bloß mit ihren Augen irgendwelche Hinweise erkennen? Sie beruhigte sich und lächelte: „Der Arzt wird morgen früh kommen, um den Puls zu fühlen. Ich danke Ihnen für Ihre Fürsorge, Miss."
„Das ist gut", nickte Nanli.
Die Auskunft des Arztes war am glaubhaftesten.
Da Marquis An'yang und Chu Ye bald zurückkehren würden, war das gesamte Anwesen in den Vorbereitungen für das Familienbankett am nächsten Tag beschäftigt.
Frau Shen hatte bereits angewiesen, dass Madam Chen nicht kommen musste, um sie zu begrüßen.
Doch Madam Chen hatte Chunmei angewiesen, ihr bei den Vorbereitungen zu helfen.
Sie saß vor dem Frisiertisch, ihr Teint war blass, aber die Flecken in ihrem Gesicht waren verschwunden.
Madam Chen betrachtete sich sorgfältig im Spiegel und zeigte schließlich ein schwaches Lächeln.
Chunmei trug ein Puder auf ihr Gesicht auf, das kaum die Blässe verdeckte, und fügte dann etwas Rouge hinzu, das Madam Chen ein wenig gesünder erscheinen ließ.
„Ist die Medizin fertig?", fragte Madam Chen kalt.
Chunmei brachte die Medizin herüber und sagte: „Sie ist bereit. Sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen?"
„Sicher, nur so kann ich in Zukunft mehr Wertschätzung vom Marquis erlangen", erwiderte Madam Chen, während ihre Augen voller Groll aufblitzten.
„Diese Liang ist offensichtlich älter und konkurriert doch ständig mit mir um die Gunst des Marquis. Sie soll es noch bereuen."
„Aber ... wenn der Marquis sie mag, wird er sie vielleicht nicht streng bestrafen", gab Chunmei zu bedenken.
„Wenn der Marquis zögert, ist da nicht immer noch die alte Dame?", entgegnete Madam Chen, während sie ihren Bauch berührte und eine Regung von Zärtlichkeit spürte.
Mit diesem Gedanken nahm Madam Chen den medizinischen Trank und trank ihn auf ex aus.
Es war fast Mittag.
Madam Shen wartete zusammen mit ihren Kindern und zwei Dienstmädchen im Hof, um sie in Empfang zu nehmen.
Auch Madam Chen erschien, stützte sich auf ihre Hüfte.
Frau Shen runzelte die Stirn: „Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen im Hof warten? Warum sind Sie herübergekommen?"
„Madam, ich und das Kind haben uns so sehr nach dem Herrn gesehnt, also kam ich, um ihn zu begrüßen", antwortete Madam Chen lächelnd und sah dabei gut gelaunt aus.
„Chunmei hält mir einen Schirm, sodass ich keine Angst vor der Sonne haben muss."
Frau Shen seufzte leise: „Seien Sie vorsichtig. Wenn Sie sich unwohl fühlen, gehen Sie zurück zur Seitenhalle und setzen Sie sich."
Da alle hier waren, wäre es mühsam gewesen, sie zurückzuschicken.
„Danke, Madam", erwiderte Madam Chen und positionierte sich absichtlich neben Madam Liang.
Nanli drehte den Kopf und blickte Madam Chen an, dabei huschte ein Anflug von Zweifel über ihre Augen.
Chu Yan stand neben ihr und fragte: „Kleine Schwester, fragst du dich, ob Madam Chen in drei Monaten einen jüngeren Bruder oder eine jüngere Schwester zur Welt bringen wird?"
Nanli lächelte und antwortete: „Nein, ich frage mich, welches Theaterstück heute aufgeführt wird."
Chu Yan wirkte verwirrt.
Hatte das Anwesen heute eine Theatergruppe eingeladen?
Nach einem Augenblick des Nachdenkens rief Nanli Yuanbao zu sich und flüsterte: „Geh zum Xianghe-Hof. Wenn du siehst, dass jemand eine Nachricht überbringen will, schlag ihn nieder."
Ihre Großmutter war schon zuvor von bösen Geistern verletzt worden und konnte sich keinen weiteren Schock leisten.
Yuanbao war stark und würde die Aufgabe sicher erfüllen.
„Ja, Miss", Yuanbao stellte keine weiteren Fragen und machte sich sofort auf zum Xianghe-Hof.
Schließlich kehrten Marquis An'yang und sein Sohn zurück.
Beide trugen Rüstungen, sahen sich ähnlich und waren stämmig gebaut.
Kaum abgestiegen, konnten sie es kaum erwarten, Nanli zu finden.
„Li'er!" rief Chu Hanlin, als er Nanli auf den ersten Blick erblickte.Seine Tochter glich seiner Frau, als diese jung war.
Er eilte herbei und wollte seine Tochter umarmen, fürchtete jedoch, dass sein verschwitzter Körper sie stören könnte.
Tränen traten in seine Augen und mit erstickter Stimme sagte er: „Li'er, du bist endlich zurück."
„Vater", entfuhr es Nanli, und sie fühlte eine ähnliche Nähe sowohl zu ihrem Vater als auch zu ihrem Bruder.
Sie empfand keine Entfremdung.
„Tongtong, ich bin dein ältester Bruder!" Chu Ye drängte sich dazwischen, sein Blick glühte vor Erwartung, als er seine Schwester ansah.
Hätten nicht die strengen militärischen Befehle vorgelegen, wären er und sein Vater längst zurückgestürmt.
Das war seine leibliche Schwester, die so viele Jahre verloren gegangen war!
Nachdem seine Schwester verschwunden war, konnte er, genau wie seine Mutter, schlecht essen und schlafen.
Tagtäglich machte er sich Vorwürfe und fragte sich, warum er damals nicht besser auf seine Schwester aufgepasst hatte.
Nanli drehte sich um und sah Chu Ye an.
Ihr großer Bruder war in seinen Zwanzigern, seine Rüstung strahlte eine heldenhafte Aura aus.
Seine Augen leuchteten hell und lebendig, sein schwarzes Haar war sauber gebunden, und ein paar lose Strähnen wiegten sich sanft im Wind und verliehen seinem stattlichen Aussehen einen Hauch von Eleganz.
„Ältester Bruder!" Nanlis Herz war erfüllt von Wärme, ihre Augenbrauen und Augen lächelten.
Chu Ye hatte zehn Jahre gewartet und als er schließlich diese beiden Worte von seiner Schwester hörte, stiegen ihm sofort die Tränen in die Augen.
Er nickte wiederholt und sagte: „Nun, jetzt ist alles gut. A'li, du bist so ein liebes Mädchen."
Der Hof brannte unter der Sonne, und Shen wollte gerade alle auffordern, in den Seitenflügel zurückzugehen, als Madame Chen plötzlich aufschrie und zu Boden fiel.
Die Menge wich auseinander und Madame Chen kam in zerknitterter Kleidung zum Vorschein. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen rollten nach hinten, als sie zu Boden sank.
„Wie könnt ihr so grausam sein, Madame Liang? Ihr habt meine Frau zu Boden gestoßen, nur wegen ihrer unabsichtlichen Scherze!", schrie Chunmei.
Madame Liang, die Madame Chen am nächsten stand, war für einen Moment sprachlos. Sie fand keine Worte.
Die Aufmerksamkeit war nach vorne gerichtet, und niemand war Zeuge der Auseinandersetzung zwischen den beiden Tanten geworden.
Natürlich verteidigte Chu Huan seine leibliche Mutter und trat vor, um zu erklären: „Meine Mutter hat ein gutes Herz und würde so etwas nie tun."
Auch Chu Yang mischte sich eindringlich ein: „Meine Mutter würde an einem gewöhnlichen Tag nicht einmal einer Ameise etwas zuleide tun!"
Doch Chunmei beharrte darauf: „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, es war Madame Liang, die sie geschubst hat. Marquis, ich bitte euch, Gerechtigkeit für Madame walten zu lassen!"
Chu Hanlin befahl: „Tragt Madame Chen schnell zurück, Ye'er, reite schnell, um den Arzt zu rufen. Sorgt dafür, dass es umgehend geschieht."
In diesem Moment rief Chunmei: „Junger Meister, reite zur Ren'an-Klinik und hole Doktor Hu. Er kennt Madames Zustand am besten."
Ohne lange zu zögern, nickte Chu Ye und machte sich auf den Weg.
Die beiden Dienstmädchen trugen Madame Chen in einen Nebenraum, während die anderen in der Haupthalle auf Neuigkeiten warteten.
Bald darauf kehrte Chu Ye mit Doktor Hu zurück.
Nachdem er Madame Chens Puls kontrolliert und Akupunktur angewendet hatte, kam Doktor Hu heraus und sagte: „Marquis, Madame, Madame Chen erlitt einen schweren Stoß, und der Fötus in ihrem Uterus hat seine Vitalzeichen verloren. Wir müssen die Wehen einleiten. Was Madame selbst angeht, ist ihr Leben außer Gefahr, sobald die Totgeburt entbunden ist."
Madame Shens Augen röteten sich, und sie wies Doktor Hu an, das Medikament zur Weheneinleitung vorzubereiten.
Chu Hanlin bemühte sich, seinen Schmerz zu verbergen; sein Blick auf Madame Liang war erfüllt von komplexen Emotionen. „Können Sie sich erklären?"
Madame Liang kniete mit geradem Rücken nieder und erklärte: „Ich habe sie nicht geschubst. Sie ist von selbst gestolpert. Sogar wenn diese Angelegenheit vor die Behörden gebracht würde, hätte ich ein reines Gewissen."
Als Chu Huan und Chu Yang ihre leibliche Mutter knien sahen, folgten sie ihr selbstverständlich. „Vater, es muss ein Missverständnis vorliegen."
Chunmei trat aus dem Nebenzimmer, ihre Augen geschwollen: „Wollen Sie damit sagen, dass meine Frau absichtlich gefallen ist? Sie war im siebten Monat schwanger, und der Fötus war gesund. Warum sollte sie das Leben des jungen Meisters riskieren, nur um Madame Liang etwas anzuhängen?"
Diese beiden Fragen machten Madame Liang sprachlos.
In der Tat, sobald Madame Chen ihr Kind geboren hätte, wäre ihre Stellung im Herrenhaus des Marquis gesichert. Warum sollte sie ihr Kind opfern, um Madame Liang anzuschwärzen?
Die Augen von Chu Huan und Chu Yang waren nun vor Wut blutunterlaufen.
„Es ist ganz einfach", sagte Nanli, ihre Worte klar und bestimmt. „Weil das Kind bereits in Madame Chens Schoß gestorben war."
Erst gestern hatte sie festgestellt, dass es in Madame Chens Bauch keine Lebenszeichen mehr gab.