--Ein Monat nach dem Abschlussball--
"Lucien, ich bin wieder da!" rufe ich aufgeregt, als ich durch die Tür trete. Zwei Dienstmädchen kommen sofort herein, um mir mit meiner Tasche und meinem Mantel zu helfen. Seitdem ich auf der High School bin, mag ich es nicht mehr, meinen Stiefvater "Vater" zu nennen. Wir reden jetzt stattdessen mit Vornamen miteinander, und das macht mich wirklich glücklich. Ich gehe auf das Esszimmer zu, wo Lucien sicher auf mich wartet.
"Hallo! Ich heiße Angela! Schön, dich endlich zu treffen, Natalia."
Eine Blondine mit funkelnden blauen Augen, enorm großen Brüsten und einem kurvenreichen Hintern in einem eng anliegenden Kleid steht vom Tisch auf und begrüßt mich mit einer übermäßig freundlichen Umarmung.
"Hi, ich bin Natalia. Freut mich auch", erwidere ich höflich, während ich mein süßestes Lächeln aufsetze, das ich mir für gesellschaftliche Anlässe angewöhnt habe. Meine Blicke schweifen umher, auf der Suche nach Lucien. Er ist nirgendwo zu sehen. Wo steckt er? ... und wer ist sie?
Wir setzen uns beide an den Tisch, wo das Dienstmädchen ein dreigängiges Menü vorbereitet und serviert hat. Zum Glück betritt Lucien den Raum, gerade als ich mir ein Gesprächsthema überlege, um die peinliche Stille zu durchbrechen.
"Natalia, du bist zurück. Willkommen zu Hause, Liebes. Lass mich dir unseren bezaubernden Gast des Abends vorstellen! Das ist Angela ... sie ist meine Verlobte. Angela, das ist Natalia, meine Tochter", sagt Lucien zu mir und lächelt über das ganze Gesicht. Es kostet mich all meine Kraft, ein ebenso fröhliches Lächeln zu zeigen. Wenn die Welt jetzt untergehen würde, dann bitte jetzt.
Wir drei führen höfliche und scheinbar nette Gespräche über dies und das, während wir unser Abendessen genießen. Nach außen hin agiere ich wie eine Dame, während mein echtes Ich den Schock in meinem Innern verarbeitet. Immer wieder schaut Lucien mich direkt an, als wollte er zeigen, dass er wohl ahnte, dass ich das alles nicht so gut verkrafte, wie er gehofft hatte. Während des Essens mache ich beiläufige Kommentare, wo es passt.
"Natalia, suchst du nicht nach einem Praktikumsplatz für dein letztes Semester an der Universität? Ich würde mich freuen, wenn du nach deinem Abschluss in unserem Familienunternehmen arbeiten würdest. Natürlich werde ich dich nicht dazu zwingen, aber es wäre eine tolle Chance für dich, während deines Praktikums mehr über unser Geschäftsfeld zu lernen. Ich habe mit deinem Onkel Edward gesprochen, und er ist der Meinung, dass du viel von ihm lernen könntest, wenn du mit ihm in einem unserer Labors arbeitest", schlägt Lucien mir mit einem strahlenden Lächeln vor. Mir ist egal, was er sagt; mit diesem Lächeln täte ich alles, was er verlangt.
"Oh, sicher. Ich denke, es wird Zeit, dass ich auch Einblicke in unser Geschäft erlange..." antworte ich mit einem kleinen Lächeln meinerseits.
"Prima, dann ist das abgemacht. Edward wird später nach seinem Feierabend vorbeikommen, um mit dir über mögliche Aufgaben zu sprechen. Du kannst ihn gerne alles fragen."
Mit dem Ende des Essens entschuldige ich mich schnell und gehe auf mein Zimmer. Ich sage meinem Zimmermädchen, dass ich gerne allein sein würde. Allein in meinem Zimmer angekommen, übermannen mich die unterdrückten Gefühle. Mir schießen die Tränen in die Augen, und langsam laufen sie meine Wangen hinab, als mir bewusst wird, dass Lucien bald eine andere Frau heiraten wird. Sicher, er hatte schon früher Freundinnen, aber ich ignorierte sie, im Wissen, dass keine davon bleiben würde. Nie hätte ich gedacht, dass der Tag kommen würde, an dem ich Lucien mit einer anderen Frau teilen müsste.
**Klopf, klopf**
"Natalia, ich bins." Tolle Wurst, Lucien ist hier und ich weine mir die Augen aus.
"Komm bitte rein ..."
Lucien öffnet die Tür und setzt sich sofort neben mich auf mein Bett.
"Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung, Lucien", sage ich mit einem aufgesetzten Lächeln und versuche, meine Stimme nicht zittern zu lassen. Ich muss die Tränen zurückhalten!
"Danke...aber...wenn du dich wirklich für mich freust...warum sieht es dann so aus, als hättest du geweint?"
Kein Wunder. Lucien kennt mich schließlich sehr gut.
"Hör zu, Natalia. Es sind jetzt zehn Jahre vergangen, seit deine Mutter uns verlassen hat. Bald wirst du erwachsen sein und dein eigenes unabhängiges Leben führen. Ich liebe dich und will nur das Beste für dich. Ich glaube, Angela wird helfen, unsere Familie zu komplettieren, und sie kann bei deiner Unterstützung mitwirken ..."
"Ja, ich verstehe. Mach dir keine Sorgen um mich ..." entgegne ich, lächle süß und umarme ihn fest, um meinen schmerzerfüllten Gesichtsausdruck und die Tränen, die zu fallen drohen, zu verbergen.
"Ich möchte ein kleines Nickerchen machen, bevor ich Onkel Edward treffe ... Genieß deinen Abend!"
"Ok...Vergiss nicht, ich liebe dich", flüstert Lucien mir ins Ohr und küsst mich zärtlich auf die Stirn, so wie er es immer tat, als ich noch ein Kind war. Jetzt brennen die Stellen, die er berührt und geküsst hat, mit einer neuen, pochenden Hitze. Lucien verlässt das Zimmer, und ich lasse mich auf mein Bett fallen.
--Fortsetzung folgt...--