Der Priester wich erschrocken zurück und hob beide Hände über seinen Kopf, als Zeichen seiner Kapitulation. Ich hoffte, er hatte sich nicht vor Angst eingenässt. Obwohl ich es nicht mit Sicherheit sagen konnte, war doch offensichtlich, dass er vor Angst zu weinen begonnen hatte. Besser, ich halte die Klappe und warte ab, bis dieser Vorfall vorbei ist, falls ich meinen Kopf heil und auf meinen Schultern behalten möchte.
"Wo ist mein Sohn? Wo ist Hayden?", brüllte der Boss aus Leibeskräften.
Toll, also heißt er Hayden. Nicht nur, dass ich meinen zukünftigen Ehemann noch nie zuvor getroffen habe, ich wusste nicht einmal seinen Namen. Noch habe ich je ein Foto von ihm gesehen, also keine Ahnung, wie er aussieht. Nicht, dass es mich interessieren würde. Wenn ich ohnehin keine andere Wahl habe, als ihn zu heiraten, was macht es dann für einen Unterschied, ob er so attraktiv wie ein Prinz oder so hässlich wie ein Biest ist?
Der Boss drehte sich um und fing an, mit seiner Pistole die Reihen von Männern zu bedrohen, die bis oben hin in schwarze Anzüge gekleidet waren, die offensichtlich die Standarduniform der Mafia darstellten.
Es war ein ungewöhnlicher Anblick, Männer verschiedenen Alters unbehaglich auf ihren Sitzen hin und her rutschen zu sehen, ähnlich kleinen Kindern, die bei einer Missetat erwischt wurden, während sie sich gegenseitig besorgt ansahen. Offenbar wollte niemand dem Boss schlechte Nachrichten überbringen.
"Äh... Ich bin mir sicher, Hayden ist auf dem Weg, Boss. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen...", sagte ein Mann, von dem ich annahm, dass er einer der Vertrauten des Chefs war, in einem Versuch, ihn zu beruhigen.
"Ich soll mir keine Sorgen machen? Hayden ist zu spät!", schrie der Boss und sein Gesicht färbte sich vor Wut noch röter.
"Er ist unterwegs, Boss. Bitte warten Sie noch ein wenig", antwortete der Mann hastig.
"Wissen Sie, wo er ist? Haben Sie ihn gefunden?! Antworten Sie mir!", fuhr der Boss fort zu brüllen, während er den Mann am Kragen packte und kräftig daran riss.
Die Männer warfen sich Blicke zu, während sie darüber nachdachten, wie sie mit dem temperamentvollen Boss umgehen sollten. Es war klar, dass Hayden noch nicht gefunden worden war. Ehrlich gesagt, konnte ich ihm nicht verübeln, dass er nicht erschienen war. Ich stellte mir vor, dass es ihm genauso ging wie mir. Wer bei klarem Verstand würde schon eine Frau heiraten wollen, die er noch nie zuvor getroffen oder von der er noch nie gehört hatte? Dasselbe galt für mich: wie ich ihn nicht heiraten wollte, so wollte er offensichtlich auch nicht mich heiraten.
Danke, Hayden, oder wer auch immer du bist. Danke, dass du nicht erschienen bist.
Wenn diese Heirat daran scheitert, dass er nicht erschienen ist, dann ist es nicht meine Schuld. Ich habe verzweifelt gebetet, wie ich noch nie zuvor gebetet habe. Ich bin keine religiöse Person und habe kaum an Gott geglaubt. Aber wenn es Gott wirklich gibt, dann lass mich bitte zu meinem alten, friedlichen Leben auf dem Land zurückkehren.
"Meister Hayden ist eingetroffen!"
Was?!
"Perfekt! Mein Hayden ist endlich da!", rief der Boss glücklich, während ein Lächeln auf seinem Gesicht erblühte.
Ich hingegen fühlte mich, als wäre ich für alle Ewigkeit verdammt. Warum musste er gerade jetzt auftauchen? Hatte er seine Meinung über diese Ehe geändert?Ich wirbelte so schnell ich konnte in meinem schweren und übermäßig aufgeblasenen Hochzeitskleid herum, um zum Eingang der Kirche zu blicken. Die große Holztür öffnete sich langsam, so theatralisch langsam, als wären wir mitten in einem Kinofilm.
Ich hielt den Atem an, während ich darauf wartete, dass mein zukünftiger Ehemann durch die Tür schritt. Ich fragte mich, wie er wohl aussähe. Wenn sein Vater so weit gehen musste, eine Ehe für ihn zu arrangieren, dann war er wahrscheinlich alt, hässlich und unfähig, selbst eine Freundin zu finden – trotz des Reichtums, den er zu besitzen schien.
„Hayden!", rief der Boss aufgeregt und klatschte freudig in die Hände, als er seinen Sohn die Kirche betreten sah.
Ich war mir nicht sicher, was ich erwarten sollte, aber was ich sah, sprengte jegliche Vorstellungen. Hayden war nicht alleine hereingekommen. Um genau zu sein, schien es, als könne er nicht selbst gehen oder sein eigenes Gewicht tragen. Zwei große Männer, ganz in Schwarz und mit Sonnenbrillen, stützten Hayden an ihren Schultern.
Großartig, Hayden scheint ... bewusstlos zu sein.
Soweit ich erkennen konnte, wurde Hayden von den beiden Männern in die Kirche geschleppt. Bewusstlos und nichts von seiner Umgebung wahrnehmend, betrat er den Raum. Als die Männer ihn weiter den Gang entlangführten, erkannte ich Hayden näher und deutlicher.
Obwohl sein Gesicht wegen der vorgebeugten Haltung und seines tief hängenden Kopfes nicht deutlich erkennbar war, war klar, dass er nicht alt und hässlich war. Hayden war groß, sehr groß sogar. Die beiden schwarz gekleideten Männer, die ihn stützten, waren schon größer als Durchschnitt, doch Hayden überragte sie noch. Er hatte hellblondes Haar und war sicherlich nicht passend zum Anlass gekleidet.
Als die beiden Männer ihn zum Altar führten, oder besser gesagt schleiften, verstand ich endlich den Grund dafür, und mit mir wohl auch die meisten Gäste. Der unangenehme Geruch von Alkohol war so intensiv, dass zweifellos jeder ihn wahrnehmen konnte. Mein Nase kräuselte sich bei dem Geruch, und ich begann instinktiv, mit der Hand die Luft vor mir zu wedeln.
Hayden war maßlos betrunken.
Anhand seiner Kleidung konnte ich schlussfolgern, dass man ihn in diesem Zustand angekleidet haben musste. Ohne Hemd, aber dafür mit weißer Hose, weißem Sakko und einem Paar schwarzer Lederschuhe bekleidet, waren seine gut definierten Brustmuskeln und die Bauchmuskeln durch den geöffneten Blazer klar sichtbar.
Also, das ist also der Mann, den ich heiraten soll. Um ehrlich zu sein, sah er nicht so schlimm aus, wie ich befürchtet hatte. Er wirkte jung, ungefähr in meinem Alter, groß, gut gebaut und – ich nehme an – gutaussehend. Doch das berührte mein Herz nicht im Geringsten. Egal was auch geschehen würde, ich wollte diesen Mann nicht heiraten.
Ich wollte fragen, ob wir die Trauung fortsetzen könnten, obwohl der Bräutigam deutlich bewusstlos war, aber ich fürchtete, der Vater würde mir wortwörtlich den Kopf mit seiner Waffe wegpusten. Also schwieg ich und wartete darauf, was als Nächstes geschehen würde.
Die Gäste, großteils Mitglieder der Mafia-Familie, begannen leise miteinander zu flüstern. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ich hatte eine Vermutung. Aus dem, was ich bislang mitbekommen hatte, konnte ich erraten, dass dieser Hayden unter seinen Mafiamitgliedern keineswegs ausschließlich beliebt war.
„Ähm… ist der Bräutigam überhaupt bei Bewusstsein?", flüsterte der alte Priester so leise, dass ich ihn beinahe nicht verstanden hätte.
Genau... Danke, dass Sie das ansprechen, Herr Pfarrer!
-- Fortsetzung folgt...