-Aus Satoru's Sicht-
Angekommen im regen und lauten Treiben der Innenstadt Tokios beschlossen wir von dort aus mit der Bahn weiter nach Ginza zu fahren, um zu meinem Lieblingsrestaurant für Sushi zu gelangen. Trotz, dass wir schon recht spät am Abend hatten, schienen die einzelnen Stadtbezirke noch lange nicht schlafen gehen zu wollen.
Grelle Leuchtreklamen zusammen mit den Straßenlaternen und den vielen Schaufensterbeleuchtungen ließen die Umgebung beinahe wie am helllichten Tage wirken. Lautes Gelächter und heitere Unterhaltungen, die aus allen Richtungen zu uns hallten, taten ihr Übriges, wobei ich mich mehr auf das Gespräch mit meiner hübschen Begleitung konzentriert hatte, als die wenigen Gesprächsschnipsel aufzuschnappen.
„Du kamst aus Shimoda, wenn ich das noch richtig im Kopf habe, oder?", ließ ich meine Neugierde ungehemmt auf sie los, während wir Hand in Hand durch die vollen Straßen liefen.
Und wenn ich nicht gerade völlig daneben lag, dann war dem auch so. Aus dem ansehnlichen südwestlichen Teil Japans, an dem ein Strand den nächsten jagte. Für mich eigentlich unvorstellbar, dass man einer wahrhaftigen Urlaubsregion, wie dieser, einfach so den Rücken zukehrte und in das genaue Gegenteil zog. Einer Großstadt, die niemals zu schlafen schien und keine Erholung bot. Wobei es bestimmt nichts mehr Besonderes gewesen war, wenn man das tagtäglich um sich hatte.
„Ja, genau. Viel Strand und Meer. Ruhe und keine Action."
„Wieso?", verlieh ich meinen Gedanken den missverständlichen Ausdruck, „ich verstehe nicht, wieso du nicht mehr in so einer schönen Gegend bleiben wolltest. Was genau hat dich nach Tokio gelockt?"
Sie schmunzelte auf, „glaub mir, so ganz einfach fiel mir das auch nicht. Aber allein nur wegen der schönen Gegend wollte ich dort nicht mehr bleiben. Es war die Arbeit und die Stadt selbst, die mich nach Tokio gelockt hat", verriet sie mit zunehmenden strahlenden Augen, „ich weiß, das klingt verrückt, aber Tokio hat mich einfach in seinen Bann gezogen, während ich die paar mal hier Urlaub gemacht habe. Kennst du Shimoda, weil du davon schwärmst?"
„Das klingt mehr als verrückt... Und nicht nachvollziehbar. Ja, kenne ich, der Arbeit halber war ich zweimal in der Stadt, um Flüche auszutreiben."
Ziemlich verrückt zu wissen, dass ich ihr bereits da über den Weg hätte laufen können. Und in Tokio. Als wäre das Schicksal gewesen – aber an so etwas glaubte ich nicht.
„Echt? Ist ja witzig", strahlte sie, „dann mussten wir uns über den Weg laufen."
Argwöhnisch schaute ich zu ihr herunter, ließ den Satz, auf den ich im Gegensatz zu ihr eh keinen Wert lag, unkommentiert und packte das eigentliche Thema wieder am Kragen.
„Und was war mit der Arbeit? Hattest du keinen schönen Job, dem du nachgegangen bist?"
„Oh doch, sogar einem sehr schönen, den ich auch nur ungern hinter mir gelassen habe."
…?
Verstand jemand diese Frau? Dann bitte erklärt es mir...
Auf meinen völlig perplexen Gesichtsausdruck konnte sie sich nicht mehr zusammenreißen und lachte herzlich auf.
„Ich sehe genau, was du denkst, Satoru. Ja, ich habe auch meiner geliebten Arbeit den Rücken zugekehrt. Ich habe, bevor ich hier in die Unfallchirurgie gewechselt bin, zehn Jahre lang in einer Hausarztpraxis gearbeitet. Nichts Besonderes und auch teilweise eher langweilig, aber ich habs geliebt. Wir waren ein großes Team aus neun Helferinnen und drei Ärzten", verriet sie, während wir kurzum in eine Gasse bogen, welche nichts mehr von dem Glanz und der Attraktivität der Hauptstraße abbekam.
Hier wurde es schlagartig ungemütlicher und düster. Die ausgelassenen Gespräche tauschten mit einer bedrückten Stimmung sowie auch mit zwielichtigen Gestalten, an denen vermehrt grässliche Fluchgeister hingen. Das missfiel Mayu keineswegs, weshalb sie sich mehr an mich herangeschmiegt hatte und meinen Arm umschlang. Dennoch behielt sie ihr sorgenloses Lächeln sowie Gemüt aufrecht und überspielte ihre unbehaglichen Gefühle, die sie augenblicklich versucht hatten einzunehmen.
„Langweilig? Wie hast du es dann zehn Jahre dort ausgehalten? Was genau waren deine Aufgaben?", verstand ich ihre Angsthasensprache und begann sie auf andere Gedanken zubringen.
„Mädchen für alles", schmunzelte sie, wandte den Blick zur Seite hinweg ab, während wir an einem boshaften Fluchgeist vorbeiliefen, der an einem zwielichtigen Typen haftete.
„Ich habe mich um Verwaltungsarbeiten gekümmert und war auch hin und wieder an der Anmeldung tätig. Was mir jedoch am meisten Spaß gemacht hatte, war die Tätigkeit im Labor, also Blut abnehmen, EKG's und Lungenfunktionstests durchführen sowie auch bei kleineren Eingriffen assistieren. Ich hatte es wirklich geliebt, aber es war auch Zeit für was Neues. Ich brauchte mehr Herausforderungen und ein neues Gebiet zum Erforschen, also habe ich mich hier nach einer neuen Praxis umgesehen."
Wenn das mal nicht ein Fall für Shoko war. Hatte sie nicht erst kürzlich darüber geseufzt, wie sehr sie sich in manchen Situationen eine Assistenz gewünscht hatte? Somit hätte ich eine vor Begeisterung für diesen Beruf strotzende Assistentin gefunden. Und mal ehrlich – ich konnte mir auch zu gut vorstellen, dass die beiden hervorragend miteinander ausgekommen wären.
Mayu schien eine weltoffene Person gewesen zu sein und das konnte Shoko in ihrem tristen Arbeitsdasein gut gebrauchen.
Zudem konnte ich mir Mayu im Kittel ziemlich heiß aussehend vorstellen.
„Und bei deiner letzten Arbeitsstelle?", fragte ich neugierig, „Unfallchirurgie klingt blutig."
Sie lachte erneut auf, „sicherlich. Aber da war ich viel zu kurz, um den vollen Umfang der Praxis kennengelernt zuhaben. Da hatte ich leider nur an der Anmeldung gesessen. Ich wäre zu gerne bei den OP's mit dabei gewesen und hätte assistiert."
„Kannst du sowas sehen?!"
„Klar", grinste sie breit, wobei sich mein leerer Magen in alle Richtungen verdrehte, während ich mir blutige Unfälle zurecht malte.
Das war definitiv nichts für mich. Da konnte ich schon eher übel zugerichtete Fluchgeister sehen und auseinandernehmen.
„Gehe ich also richtig davon aus, dass du dieser Arbeit liebend gerne wieder nachgehen würdest?"
„Aber natürlich", bestätigte sie überschwänglich, „ich vermisse es total, neben dem Training."
Das schrie ja förmlich danach, Shoko demnächst einen Besuch abzustatten.
Erneut liefen wir an einem Typen vorbei, welcher einen scheußlichen Fluchgeist auf der Schulter sitzen hatte, der sich auf der Seite von Mayu befand. Im Augenwinkel konnte ich sehen, dass dieser seine Fänge nach ihr richten wollte, was sie aber nicht sah, da sie abermals in die gegenteilige Richtung schaute. So befreite ich kurzum meinen Arm aus ihrer ängstlichen Umklammerung, schnipste einen winzigen mit meiner Umkehrtechnik der Farbe Rot geladenen Energieball auf diesen, während ich meinen Arm um Mayu's Schulter legte und sie näher an mich heranzog.
Derart hastig und unscheinbar, dass es keiner der beiden mitbekam, wie ich dieses Mistding, welches sich an meine Begleitung heranmachen wollte, austrieb.
Somit war meine Ablenkung gegenüber den Fluchgeistern erfolgreicher, als ich es mir gewünscht hatte, auch wenn es mich insgeheim ärgerte, dass ich nach wie vor keinerlei Fluchkraft in ihr durchströmen vernahm. Hoffentlich hatte ich vorhin nicht zu hoch gepokert, was ihre noch schlummernde Fluchkraft anbelangte, die ich zu entfesseln vermochte.
„So, da wären wir", frohlockte ich, als wir am Restaurant ankamen und die dunkelbraune hölzerne Tür für uns öffnete.
Sogleich wurden wir von dem köstlichen Duft der Speisen tänzelnd umgarnt, was mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Das ließ meinen Appetit und mittlerweile großen Hunger in die Höhe schießen. Zusammen traten wir ein und wurden von dem gemütlichen Ambiente sowie von einem der Angestellten, höheren Alters, in Empfang genommen.
„Oh, guten Abend, Herr Gojo. Schön Sie wiederzusehen", begrüßte er mich tief verbeugend und freundlich, „heute in weiblicher Begleitung? Guten Abend", und verbeugte sich nochmals vor Mayu, welche neben mir stand und es ihm gleichtat.
„Guten Abend, der Herr", begrüßte sie ihn im überaus freundlichen Ton, während sie über beide Ohren strahlte.
„Ich darf Sie sicherlich zu ihrem Stammtisch führen", erriet er meinen unausgesprochenen Wunsch, da wir mitunter auch von den lauten und unangenehmen Gesprächen der anderen Gäste umworben waren und folgten ihm durch das traditionell eingerichtete und ziemlich gut besuchte Restaurant in den hinteren Bereich, wo es glücklicherweise deutlich ruhiger zuging. Es hatte schon seine Vorteile gehabt, ab und zu mit den Bediensteten in Gespräche zukommen und ihnen davon zu berichten, dass ich es ruhiger bevorzugt hatte.
Im Augenwinkel konnte ich beobachten, dass Mayu sich unauffällig umsah. Ganz zu schweigen von ihren erneut aufleuchtenden Augen, die das ansehnlich hergerichtete Restaurant begutachteten.
Kaum hatten wir uns auf die gemütliche Sitzbank an unseren zugewiesenen Tisch gesetzt, überreichte uns der Kellner die übersichtlichen und gut sortierten Speisekarten.
„Ich werde gleich wieder auf Sie zurückkommen und Ihre Bestellung entgegennehmen."
Bestätigend nickten wir beide synchron und er machte auf dem Absatz kehrt. Kaum hatte er sich wenige Schritte von uns entfernt, wie wir auch die Speisekarten aufgeschlagen, ergriff Mayu auch schon das Wort.
„Wow. Wie schön es hier ist", flüsterte sie begeistert und inspizierte einen der unechten Kirschblütenzweige, die zu Hauff an den unzähligen dunkelbraunen Pfosten befestigt waren. Zwischen den einzelnen Blüten versteckten sich warmweiße Leuchtkugeln, die genügend Licht abgaben, um für eine wohlfühlende Helligkeit zu sorgen.
„Du bist so leicht zu begeistern", merkte ich schmunzelnd an.
„Gar nicht wahr", grinste sie peinlich berührt, während sich eine hauchzarte Röte auf ihre Wangen legte und sie sich wieder auf die Speisekarte konzentrierte, „du hast halt guten Geschmack", nuschelte sie verlegen.
War es kindisch, dass ich es gerade übertrieben süß fand? Und selbst wenn. Gedankenlesen konnte gewiss niemand. Es stimmte mich einfach zufrieden, dass ich mit meiner Auswahl gänzlich ins Schwarze getroffen hatte. Schließlich zielte ich auch mitunter darauf ab, dass sich Mayu wohlfühlen sollte. Wobei es auch bei ihr keine große Kunst war. Bisher hatte ich nicht viel entdeckt, was sie nicht unbedingt gemocht hatte – außer dem Training, über welches sie oft genug theatralisch murrte.
Nachdem der Kellner wieder bei uns war, unsere Bestellung aufnahm und wir auf das Essen gewartet hatten, lehnte sich Mayu seitlich auf ihren Platz zurück, stützte sich mit ihrem Ellenbogen an der Lehne ab und wandte sich mir zu.
„Du hast vorhin erfahren, wo ich aufgewachsen bin und wie es dazu kam, dass ich nun hier in Tokio lebe. Bist du denn eigentlich hier in Tokio aufgewachsen?", wollte sie neugierig von mir wissen.
„Nein. Ich bin geboren und aufgewachsen in Kyoto."
„Kyoto? Und dann ziehst du auch nach Tokio?", klang sie mehr tadelnd, als überrascht, „Kyoto war auch in meiner engeren Auswahl gewesen, wo ich hingezogen wäre, aber die Praxis in Tokio, die mich letztlich angenommen hatte, war schneller. Was also hat dich hierhergezogen?"
Klang so, als wäre sie nicht nur Tokio verfallen gewesen. Ich sagte ja – sie war leicht zu begeistern.
„In erster Linie wegen der Arbeit. Es gibt hier in Japan nur zwei Bildungseinrichtungen für Jujutsu. Eine ist hier in Tokio und die andere in Kyoto."
Nun war sie es, die mich verwirrt ansah, was ich genauso verstand, als sie mich vorhin selbiges wissen ließ. Vermutlich hatte sie gedanklich nach einer Anleitung für mich gesucht. Aber gerade bemerkte ich auch, dass wir unabhängig voneinander denselben Weg eingeschlagen hatten. Gab es vielleicht doch diesen Humbug namens Schicksal?!
„Du fragst dich jetzt bestimmt, warum ich dann nach Tokio gekommen bin, oder?", riet ich richtig, „lass es mich kurz und knapp erklären. Ich wollte meinen zu überheblichen Eltern entfliehen."
„Zu überheblich?", prustete sie auf, „bestimmt wegen dir, oder?", vermutete sie mehr spaßeshalber ins Blaue hinein.
„Volltreffer", bestätigte ich jedoch grinsend, während ihr die Gesichtszüge entglitten.
„Ernsthaft?"
„Ernsthaft."
„Oh, i-ich wollte dir nich-", rasch legte ich meinen Zeigefinger auf ihre weichen Lippen und schüttelte den Kopf.
„Du liegst vollkommen richtig, Mayu", begann ich und ließ von ihren Lippen ab, damit sie mich gleich, wie alle anderen auch in meiner Erklärung unterbrechen konnte.
„Unter uns Jujuzisten gibt es drei Clans, die aus großen Elitefamilien bestehen. Eine von ihnen ist der Gojo-Clan – meine Familie. Es ist mir zwar bis heute ein Rätsel, aber die gehörten zu den Stärksten, wobei meine Eltern nicht sonderlich begabt sind, was das Jujutsu anbelangt. Und dann kam ich. Derjenige, der die Unendlichkeit beherrscht und die sechs Augen besitzt, durch welche ich ausnahmslos alles wahrnehmen kann", deutete ich spielerisch auf meine Augenbinde hin, „zudem bin ich auch mit einer immensen Fluchenergie gesegnet."
Komisch?! Sie unterbrach mich bis jetzt nicht, wohingegen mir alle anderen schon längst überfällig ins Wort gefallen wären, so traute ich mich doch etwas weiterzuerzählen. Vielleicht kam der Unterbrechungspunkt ja noch.
„Mit anderen Worten haben meine Eltern innerhalb der Gojo-Familie einen höheren Status erlangt, was zur Folge hatte, dass sie völlig durchgedreht sind. Ich wurde streng erzogen, musste viele Regeln einhalten und wurde überaus besonders behandelt, was mir gewaltig auf den Sack ging. So kam es, dass ich hin und wieder – oder besser gesagt – viel zu oft von Zuhause ausgebüxt bin und mich lieber draußen rumgetrieben habe. Wenn ich dann doch Zuhause war, litt ich unter dem Kommando meiner Eltern und wurde gefühlt jede freie Minute des Jujutsu gelehrt. Also, zumindest die Grundlagen, denn niemand konnte mir meine Fähigkeiten bei- oder näherbringen."
Noch immer saß sie still und aufmerksam mir gegenüber und schien förmlich an meinen Lippen zu hängen.
„Und wie hast du es dann geschafft, so stark zu werden?", stellte sie mir sogar eine Frage, die mich im ersten Moment stutzig machte.
Diente diese Frage mehr einer Verspottung oder wollte sie das tatsächlich wissen?
„Na ja. Ich habe damit begonnen, mich in diversen Büchern der Kyoto-Akademie zu belesen. Habe dann das ein oder andere ausprobiert und habe es schließlich für mich perfektioniert", ließ ich schwammig durchsickern und zog meine Sicherheitsmauer hoch.
Das kam mir seltsam vor. Niemand hatte sich bisher für mich interessiert. Die Erkenntnis, dass ich der Stärkste war, wurde bisweilen schlichtweg hingenommen oder auch angenommen, dass ich so vom Himmel gefallen war und jetzt saß da diese junge Jujuzistin mir gegenüber und fragte mich über meine Person aus?!
Was wollte sie damit bezwecken? Hatte Mayu vor hinter meine Fassade zu blicken oder mir damit schaden zu wollen, wobei mir nicht erkenntlich war, wie?
„Eltern...", sinnierte sie abwegig, „wie ging es dann weiter? Da warst du ja noch Zuhause, also wann war der Zeitpunkt, als du nach Tokio gezogen bist?"
„... Nach meiner Zeit im Internat. Um genau zu sein, nach meiner Teeniezeit."
Spann ich oder verzerrte sich ein Hauch des Mitleids auf ihr Gesicht?
„Das klingt nicht unbedingt danach, als hättest du eine typische Kindheit genossen...", ließ sie schon deutlich vorsichtiger, abermals argwöhnisch verlauten. Ihr entging wohl nicht, dass ich meine Mauer hochgezogen hatte, was?
Jedoch war da nichts! Nichts als reines Interesse las ich aus ihren Augen ab. Da war kein einziges Fünkchen der Heuchelei oder Verhöhnung dabei. Ganz im Gegenteil, sie schien mir vom oberflächlichen Schwank aus meiner Kindheit derart gefesselt gewesen zu sein, als hätte sie einer spannenden Reportage gelauscht.
„Das war doch bestimmt schwer, oder? Also bezogen auf deine Fähigkeiten und diese zu trainieren. Ich mein, bis vor vier Monaten war mir der Begriff des Jujutsu noch vollkommen fremd und du unterrichtest mich seither darin, was ich persönlich mega schwer finde. Aber bei dir? Du hast dir alles selbst beigebracht. Du hattest eigentlich niemand Richtiges, der dir das zeigen, erklären oder auch mal vormachen konnte. Nicht so wie du bei mir und hast dir das alles selbst beigebracht. Das ist schon wahnsinnig bewundernswert."
Sie bewunderte mich gerade?! Das fühlte sich unglaublich seltsam an.
„Ach was. Das war ein Kinderspiel", belächelte ich abwinkend den schwierigen Teil meiner Vergangenheit, „hin und wieder war das nicht immer leicht, aber inzwischen ist das kein Problem mehr."
„Beeindruckend", merkte sie nachdenklich an, „wie oft bist du daran verzweifelt, wenn es mal wieder schiefging oder es dir nicht gelang?"
Blitzartig zog ich meine Augenbrauen zusammen, jedoch nur für einen kurzen Moment.
„... Oft genug."
Ich musste nicht nochmal erwähnen, dass mir das Ganze spanisch vorkam, oder? Wen hatte es denn bitteschön interessiert, ob ich mit meinen Fluchtechniken zurechtkam? Schon drollig.
„Ich kann mir zu gut vorstellen, dass das alles andere als leicht war. Mitunter eben, weil es niemanden gab, der dir das richtig zeigen konnte. Könnte das der Grund gewesen sein, dass du für dich entschieden hast, Lehrer zu werden? Jedenfalls finde ich es wirklich bemerkenswert, wie du das gemacht hast... Ich habe wirklich großen Respekt vor dir, Satoru. Und das ist nicht alleine auf das bezogen, was du alles gelernt hast."
Mit solchen Worten hatte ich schlichtweg nicht gerechnet, weshalb ich mich für einen Bruchteil einer Sekunde klein gefühlt hatte. Wieder zurück versetzt in diesen kleinen Jungen, aus dem ich unlängst gewachsen war, der mehr als genug seine Probleme mit seiner immensen Fluchenergie sowie mit seinen Techniken hatte. Es gab immer mal wieder kurze, dafür aber intensive Phasen, wo es mich an den Rand der Verzweiflung gebracht hatte, aber das musste sie ja nicht wissen.
Gerade als ich darauf eingehen wollte, kam mir der Kellner mit dem vollgepackten Tablett zuvor, wobei sich Mayu wieder gerade an den Tisch setzte.
Kaum war dieser weg, der Tisch mit Speisen und Getränken gedeckt und wir bereit, mit dem Essen zu beginnen, durchbrach Mayu's liebliche Stimme die kurzweilige Ruhe zwischen uns.
„Lass es dir schmecken."
„Danke, du dir auch."
Weg war mein darauf einzugehender Einwand. Vermutlich hatte ich es auch einfach so gewesen sein und es darauf beruhen lassen sollen. Aber ich konnte es nicht verhindern, dass sich winzig kleine Zweifelsgeister zu mir auf die Schulter gesellt hatten – in Bezug auf Mayu. Was wollte sie damit bezwecken?
„Sag mal", begann sie nach einer Weile, nachdem wir mit dem Essen begonnen hatten, „du erwähntest vorhin, dass du besonders behandelt wurdest. Wie ist dann dein aktuelles Verhältnis zu deinen Eltern?", erklang es deutlich vorsichtiger als zuvor.
Nun wollte sie also mehr über meine Eltern erfahren? Ich bemerkte, dass die Zweifelsgeister warnend an meinem Hemd herumzerrten.
Woher kam dieses immense Interesse an mir?
„Mein Verhältnis zu ihnen ist und bleibt schwierig. Man hört sich ab und zu, sieht sich noch weniger, aber mehr möchte ich auch nicht mehr haben", verriet ich nichtssagend, „das mag vielleicht hart kling-" „nein. Tut es nicht", war sie nun diejenige, die mich nonchalant unterbrach, „du musst dich nicht dafür rechtfertigen. Was du vorhin schon über sie gesagt hast, reicht. Ich kann das nachvollziehen."
„Nachvollziehen?", fragte ich hellhörig und schnappte mir noch ein Stück Sushi.
Durfte ich indes darauf hoffen, dass sie nun ungefragt ein paar überfällige Eigentümlichkeiten von sich erzählte? Bisweilen hatte ich es eher als unpassend erachtet, sie über solch persönliche Hintergründe auszufragen.
„Ja, richtig. Es ist ja kein Geheimnis mehr, dass ich Flüche sehen kann", erwähnte sie schmunzelnd, „auch ich wurde sonderbar behandelt. Nicht besonders, sondern wirklich sonderbar."
„Das klingt nicht wirklich gut."
„Ist es auch überhaupt nicht. Meine Eltern zum Beispiel können keine Flüche austreiben, geschweige denn überhaupt sehen. Sie sind also sogenannte Nicht-Jujuzisten, wie du mir beigebracht hast. Zudem kommt hinzu, dass sie an solch übernatürlichen Kram nicht glauben, obwohl sie streng religiös sind."
Welch Widerspruch schmunzelte ich in mich hinein. Wie konnte man an etwas glauben, was man nicht sah, wohingegen man Fluchgeister, je nach Rang, trotzdem sehen konnte? Ich ahnte bereits, in welche Richtung das verlief.
„Kann das jemand anderes in deiner Familie? Also Flüche sehen oder austreiben?"
Eifrig schüttelte sie den Kopf, „nein. Keiner aus meiner Familie. Weder Großeltern, Tanten, Onkel, Neffen, Cousinen oder Geschwister, weil ich keine habe. Niemand außer mir kann Flüche sehen. Das war auch letztlich der Grund, weshalb sie mir öfters an den Kopf warfen, dass ich Unheil in die Familie gebracht habe. Ich bin auch daran schuld, dass meine Eltern keine weiteren Kinder wollten. Sie glaubten, dass sie genauso einen an der Waffel haben könnten, wie ich."
Was?!
Gut, dass ich saß, denn das wäre der Moment gewesen, mich hinsetzen zu wollen. Mal die Tatsache außer Acht gelassen, dass es eigentlich nicht möglich gewesen war, ohne Vorahnen Fluchkräfte oder auch Fluchenergie zu besitzen, aber was waren das bitte für unmenschliche Eltern gewesen?! Solche Aussagen warf man doch nicht an sein Kind?! Es sei denn, man hegte einen gewissen Hass gegen sie, welcher aus tiefgründigen Ursachen entstand.
„Haben die nicht wirklich gesagt", stolperte mir fassungslos über die Lippen.
„Doch, haben sie."
Dass es ihr nicht wirklich damit gutging, konnte ich an ihrem gekränkten Lächeln ausmachen. Das glich einer Backpfeife, die man sich eingehandelt hatte, wenn man unsagbar über die Stränge geschlagen hatte.
„Aber davon jetzt mal wieder weg, Satoru", entführte mich ihre liebliche Stimme aus meiner Schockstarre und ergriff meine Hand, „ich wollte dir bloß nur erklären, warum ich nachvollziehen kann, weshalb du mit deinen Eltern auf Distanz bleiben möchtest."
„Du etwa nicht?!", bezog ich mich auf ihre schrecklichen Eltern.
Sie lachte gequält auf, „doch, natürlich. Die Arbeit und die Stadt sind meine eigentlichen Nebengründe, weshalb ich Shimoda den Rücken zugekehrt habe. Ich erzähle es bloß nicht gerne, weil es zu viele Nicht-Jujuzisten gibt und ich es lieber im Verborgenen sitzen lasse. Aber da du so ausführlich von deinen Eltern erzählt hast und ich dabei bemerkt habe, dass ich im Grunde auch sowas durch habe, dachte ich mir, dass ich dir das erzählen kann."
Daher rührte also ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte sich geringfügig mit mir identifizieren. Somit sprang ein Zweifelgeist nach dem anderen von meiner Schulter, bis nur noch wenige sitzen geblieben waren. Und dass sie mitunter die Arbeit als eigentlichen Grund vorzog, war auch mehr als verständlich. Ich hatte es ja nicht anders gehandhabt. Mich erdrückte die bedrückte Stimmung zwischen uns, weshalb ich es mir kurzerhand zur Aufgabe machte, diese vertreiben zu wollen.
„Streng religiös, sagtest du?! Deswegen trägst du nie einen Ausschnitt", neckte ich sie wohl wissend falsch, worauf ihr die Kinnlade runter klappte und sie mir ihre Hand entzog.
„Was?! Stimmt doch gar nicht", lachte sie nun auf, „das hat was mit Klasse zu tun und damit, dass ich nicht möchte, dass mir ständig jemand auf die Brüste starrt. Mal davon abgesehen, hatte ich auch schon was Freizügigeres an?!", bäumte sie sich verteidigend auf, was ich unsagbar süß und witzig fand.
„Ist dem so?", spielte ich weiter, worauf sie sich weiter echauffierte.
„Ja! Außerdem sind meine Eltern religiös und nicht ich. Diese Schiene konnten sie mir nicht aufzwängen."
„Hatten es aber versucht?"
„Aber natürlich. Unzählige Male", verrollte sie dabei großzügig ihre Augen, „gefühlt blieb keine Methode aus, um mich nicht doch umzustimmen. Gottesdienste besuchen, Gebete auswendig lernen, die Bibel und alles rund um den Glauben durchlesen und ach ich könnte dir eine ganze Liste darüber schreiben, aber dem konnte und wollte ich partout nicht zustimmen. Das können die machen, wie sie wollen, aber mir hatte es schon gereicht, dass ich diese komischen Flüche sehen konnte."
Ich nickte belustigt als auch verständlich, „... Klingt eigentlich so, als wärst du diejenige von uns beiden, die keine typische Kindheit genießen durfte, oder?"
„Ich denke, das liegt im Auge des Betrachters, aber ja, auch ich hatte nicht diese typische Kindheit, in der man sorgenlos gespielt hatte und durfte nicht meinen eigenen Hobbys nachgehen. Ich hatte jeden Tag strenge Regeln zu befolgen, ähnlich wie du, jedoch fingen diese bei meiner Kleiderwahl an, folgten einem durch getakteten Zeitplan meiner Eltern und endete mit einer frühen Schlafenszeit. Mein Alltag bestand überwiegend aus der Schule und lernen, lernen und nochmal lernen. Und was ich gerade vergessen habe zu erwähnen, war lernen. Wenn ich mal nicht lernen musste, wurde ich zum Haushaltsdienst beordert. Dazu hatte alles gezählt, was meine Mutter übernahm. Also kochen, putzen, aufräumen und den allzu bekannten Rest. War das dann endlich fertig und noch ein wenig Zeit, bevor es ins Bett ging, durfte ich dann auch mal was spielen oder fernsehen, wobei sie mir vorgaben, was es sein durfte. Das war aber wirklich eine Seltenheit, wie du bestimmt raushören kannst."
Ich nickte stumm, eigentlich eher sprachlos – was ich grundsätzlich selten war. Aber gerade hatte sich mein Wortschatz zusammen mit meiner guten Laune sonst wohin verdünnisiert.
„Durftest du überhaupt was machen?", musste ich schlichtweg fragen, da ich dezent geschockt darüber gewesen war, wie man sein Kind derart unter seine Fittiche nehmen konnte.
Sie hatte nicht mal ansatzweise die Chance dazu gehabt, sich auch nur in irgendeine Richtung zu entfalten. So schien mir das jedenfalls.
„So gut wie gar nicht. Alleine rausgehen war so lange kein Thema zwischen uns, bis ich mein erstes Handy bekam und das war in der fünften Klasse, wobei sie es tagtäglich akribisch kontrolliert haben. Wenn ich mal Spiele jeglicher Art spielen durfte, haben sie sie vorher sozusagen geprüft, ob sie was für mich waren und Fernsehen war noch seltener, als dass ich draußen war und selbst da gaben sie vor, was ich sehen durfte. Sozusagen hatten sie erstmal alles prüfen und freigeben müssen, bevor ich etwas machen konnte. Das Einzige, was mir tatsächlich Spaß gemacht hat, war, dass ich das Spielen auf einer Geige erlernen durfte. Aber ansonsten glich meine Kindheit mehr einer Haftstrafe, die es für mich galt abzusitzen."
„... Warum?", entfleuchte es mir.
„Keine Ahnung, Satoru", zuckte sie mitfühlend mit den Schultern, „vielleicht weil ich Flüche sehen konnte und sie mich deswegen als Teufelswerk angesehen haben?! Ich weiß es nicht."
Teufelswerk... Wie ich solche Menschen unaussprechlich gehasst hatte. Nur weil sie nicht daran geglaubt hatten, dass es unter uns jene gegeben hatte, die Fluchzauberer und Jujuzisten sein konnten. Mit ihrem Helikopter-Verhalten hätten sie riesengroßen Schaden anrichten können, was bei Mayu zumindest bis jetzt nicht erkenntlich war.
Sie schien eine überaus ausgeprägte Reife besitzt zu haben und dieses Verhalten nicht als richtig oder akzeptabel anzusehen. Es hätte aber auch schlichtweg der Tatsache halber gewesen sein können, dass sie nun selbst Jujuzistin war.
„Durften dich Freunde besuchen oder umgekehrt?", fragte ich deutlich erkaltet, wobei ich wahrlich darauf achten musste, nicht allzu herablassend zu klingen.
„Jaein. Das entschied sich mehr aus einer Laune heraus. War ich artig, lieb und bin dem nachgegangen, was mir auferlegt wurde, durfte ich dann mittwochs auch mal eine Freundin besuchen oder sie auch zu mir einladen. Wobei das auch eher schwierig war. Ich hatte nur zwei Freundinnen, mit denen ich mich sehr gut verstanden habe. Wie bereits erwähnt, galt ich als sonderbar. Es ist schwierig für ein Kind unter Normale zu sein, die nicht verstehen können, dass ich vor etwas Unsichtbarem Angst hatte. Einer von ihnen hatte ich mich damals anvertraut, die das zu Beginn eher cool und abgefahren empfand, aber je älter wir wurden, desto bekloppter erschien es ihr und wandte sich letztlich von mir ab."
„Das kenne ich auch nur zu gut. Man verschweigt es lieber, weil andere nicht damit umgehen können und jemand Gleichgesinntes zu finden erwies sich als schwierig."
Sie nickte bestätigend, wobei sich ein melancholischer Schleier auf ihr Gesicht legte. Hätte es doch schon damals die Möglichkeit gegeben, dass wir uns kennengelernt hätten, dann wäre sie nicht zur Gänze mit dem Scheiß alleine gewesen.
„Und dein jetziges Verhältnis zu deinen Eltern? Sorry, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das auch nur ansatzweise gut sein kann."
„Da liegst du auch vollkommen richtig. Ich kann es noch nicht mal als schwierig bezeichnen. Angespannt ist noch zu sanft und liebevoll, ist völlig fehl am Platz. Ich wollte damals so schnell wie möglich raus aus der wortwörtlichen Hölle und bin mit sechzehn von Zuhause ausgezogen. Selbstverständlich gegen den Willen meiner Eltern, aber was hielt mich noch Zuhause? Ich konnte ja alles, weil ich zu allem gedrängt wurde und so habe ich mit viel Ach und Krach meinen Willen zum ersten Mal durchgesetzt bekommen und bin gegangen."
„Die vermutlich beste Entscheidung, die du hättest treffen können", merkte ich mitfühlend an, „... Wann hast du dich das letzte Mal mit ihnen gehört?"
Als hätte sie einen Fluchgeist gesehen, riss sie ihre Augen weit auf, griff umgehend nach ihrer Handtasche, kramte ihr Handy aus und erjagte den letzten Anrufeintrag.
„Oh nein, das war bereits vor zwei Tagen. Ich werde mich also morgen wieder mit denen hören müssen", bejammerte sie.
Trotz, dass es nicht meine Eltern waren, verspürte ich genau dieselbe Emotion wie sie. Ich hätte ebenso wenig Bock darauf gehabt, diese Personen anzurufen oder gar auch zu besuchen. Apropos besuchen.
„Und wann habt ihr euch das letzte Mal gesehen?"
Schwermütig als auch missbilligend stieß sie die Luft aus und rieb sich mühselig über das Gesicht.
„Vor nem halben Jahr zu meinem Geburtstag und Weihnachten. Mit anderen Worten muss ich sie demnächst wieder besuchen gehen. Das war ihre Voraussetzung dafür, dass ich damals schon so früh ausziehen durfte."
Gott, die Arme. Hätte ich ihr das nicht abnehmen können?
„... Ich begleite dich!", schlug ich überfallend vor, worauf sie mich innerhalb eines Wimpernaufschlags perplex anschaute.
„Du?", platzte es überrascht aus ihr heraus, „du willst mich begleiten, wenn ich die besuchen gehe?!"
„O-oh ja! Ich leiste dir Gesellschaft."
„Äh- … I-ich …", stammelte sie überfordert vor sich her, „bi-ist du dir da sicher? Du weißt nicht wirklich, worauf du dich da einlässt, Satoru."
„Aber natürlich weiß ich das."
Wiedermal schenkte sie mir ein verkrampftes, wie auch auswegloses Lächeln zu, was so viel mitteilte wie 'du verrennst dich zwar in die größte Scheiße, aber ich danke dir'. Meine aufkeimenden Bauchschmerzen, die ich bei dem Gedanken verspürte, ignorierte ich gekonnt und dachte viel mehr daran, dass ich es als Recherche hatte ansehen sollen. Meiner Meinung nach hätte jemand in ihrer Familie an Fluchenergie bereichert gewesen sein müssen.
Und wer wusste schon, ob sie nicht von ihren Eltern über die Jahre hinweg belogen wurde? Mayu hatte nicht die nötige Erfahrung, um genau das herauszufinden. Das hätte mitunter ein Grund für die radikale Erziehung gewesen sein können. Um etwas zu verbergen, wovor sie ihre Tochter vermutlich zu schützen vermochten. Aber dann mit solch einem harten Weg? Wohl eher kaum. Demnach kam mir das durchaus gelegen.
„Na schön", gab sie überrascht, aber dennoch skeptisch zu, „wollen wir das nächstes Wochenende hinter uns bringen? Also nicht kommendes, sondern nächste Woche?"
„Wie lange gedenkst du dort zu bleiben?"
Sie stockte erneut, schien angestrengt nach dem passenden Zeitraum zu suchen und nahm sich noch ein Stück der letzten verbliebenen Sushi-Häppchen zur Hand.
„Maximal eine Nacht. Von Samstag auf Sonntag."
„Sicher? Ich hätte auch nichts gegen zwei Nächte einzuwenden."
„Zwei Nächte?!", fiel sie aus allen Wolken, womit ich schon gerechnet hatte, „gewinne ich dann etwas?", bezog sie sich auf die von mir vorgeschlagene und unerträglich lange Zeit bei ihren Eltern.
„Jap. Zeit mit mir alleine, wobei wir unachtsam miteinander rummachen können, ohne dass uns jemand von den anderen in die Quere kommt."
Schluss damit, mir den Trauerkloß vor mir anzuschauen. Es musste die ausgelassene, schöne und lustige Stimmung zwischen uns zurück.
Mit dem Stück Sushi im Mund prustete sie drauflos und hielt sich die Hand vor den Mund. Ihre Schultern wackelten, ehe sie in heiteres Lachen ausbrach.
„Ich muss ja schon zugeben, dass wenn ich so schlagfertig wie du wäre, ich dir jetzt einen passenden Spruch reindrücken würde, aber ich denke, es genügt, dass ich dich einfach mitnehmen werde."
„Das denke ich auch."
Da waren sie wieder, die kirschroten Bäckchen. Es stimmte mich zufrieden, dass sie ihrem unangenehmen baldigen Elternbesuch ein wenig Humor beimengen konnte. Kaum zu glauben, aber bisweilen war ich der Meinung gewesen, dass ich mit meinen Eltern schon genug bestraft gewesen war und es nicht noch schrecklicher hätte gehen können... Aber Mayu's Eltern?!
Da verdiente der Satz 'Schlimmer geht immer' einen weiteren Orden in seiner Sammlung. Natürlich hätte es noch weitaus unliebsamer gehen können, bis hin zu Handgreiflichkeiten und tief verstörenden Handlungen, aber das hatte bereits mehr als ausgereicht.
„Ist das wirklich in Ordnung für dich?", vergewisserte sie sich vorsichtig und legte dabei ihre Hand auf meinen Unterarm.
„Na klar. Wird als Kurzurlaub gewertet."
„Kurzurlaub... Das ist alles andere als erholsam. Da begegne ich lieber hunderten von Fluchgeistern hintereinander und bin erholter...", brummte sie abwertend, „aber gut! Dann werde ich das morgen mit denen abklären, wenn ich die sowieso anrufen muss..."
Ich grinste in mich hinein. Auf dieses Aufeinandertreffen freute ich mich insgeheim mehr, als dass ich auf Fluchgeisterjagd ging, auch wenn ich ein gemischtes Gefühl darüber hegte. Waren die tatsächlich derart schräg drauf gewesen?
Inzwischen waren unsere Teller leer und das letzte Getränk ausgetrunken. Allmählich machte sich die Aufbruchsstimmung breit, die sich nicht nur an der weit fortgeschrittenen Uhrzeit hatte ablesen lassen, sondern auch die aufkommende Müdigkeit sehnte sich so langsam nach dem gemütlichen Bett. Jede Minute, die ich heute mit Mayu verbringen konnte, genoss ich in vollen Zügen. Auf einer anderen Art und Weise, wie bisher, was mir den schleichenden Wunsch einbrachte, die ganze Nacht mit ihr verbracht hätten zu wollen.
Der Kellner hatte sich bereits unaufdringlich darum gekümmert, den Tisch abzuräumen und uns die Rechnung zu bringen. Es verstand sich natürlich von selbst, dass ich diese bezahlt hatte, wobei sie auf die glorreiche Idee kam, ihr Portemonnaie zu zücken, obwohl ich sie eingeladen hatte. Das versprach noch ein Nachspiel, auch wenn ich ihre Intension dahinter mehr als deutlich verstanden hatte.
Umschlossen und zart eingenommen von der kühlen sowie erfrischenden sommerlichen Nachtluft ließen wir Meter um Meter das Restaurant hinter uns und bestritten gemächlich unseren Heimweg Richtung U-Bahn, mit welcher wir hierhergekommen waren. Dicht vor mir lief meine Begleitung, die ich nach diesem tiefgründigen Gespräch mit völlig anderen Augen ansah. Plötzlich und unerwartet machte sie vor mir Halt und wandte sich zu mir um, was beinahe dazu geführt hätte, dass ich gegen sie gelaufen wäre. Dabei war das ihr Part gewesen, den ich insgeheim immer sehr genossen hatte.
„Danke, Satoru. Für das leckere Essen und den schönen Abend mit dir."
Sie hielt sich an meinem Oberarm fest, stellte sich auf ihre Zehenspitzen, wobei ich ihr meinen Arm um die schmale Taille schlang, um mich selbst zu festigen und bekam sogleich einen zärtlichen Kuss auf die Wange gehaucht.
„Trotz dieser bedrückenden Themen?"
„Natürlich. Davon lasse ich mich doch nicht unterkriegen."
Genau diesen Eindruck vermittelte sie auch wahrhaftig in ihrer unerschütterlichen und aufrichtig lächelnden Ausstrahlung. Eindringlich schauten wir einander an. Ihre Hand ruhte nun mehr auf meiner Schulter, von der eine enorme Wärme durch mein schneeweißes Hemd hindurchdrang.
„Hat dich das nicht zu sehr aufgewühlt?", denn genau das wollte ich nicht bezweckt haben.
„Nein. Hat es nicht, sonst hätte ich auch nicht so ausschweifend darüber erzählt."
„Eine letzte Frage habe ich dazu noch."
Sanft strich ich eine ihrer fliederfarbenen Haarsträhne, die von der seichten Windbrise in ihr Gesicht geweht war, hinters Ohr zurück.
„Auch gerne mehrere", entgegnete sie mir warmherzig.
„Wann genau hast du bemerkt, dass du Flüche sehen kannst?"
„Eigentlich schon immer, aber so richtig realisiert, dass das irgendwie anders oder verboten sei, war ungefähr mit fünf oder sechs. Bedingt der Arbeit meines Vaters, der bei der Bank arbeitet, nahm er gelegentlich Flüche mit nach Hause, die sich an ihn geheftet hatten. So im Nachhinein rückblickend und mit dem jetzigen Wissen, in welche Stufen sie eingeteilt werden, waren es bisher zum Glück nur welche der 4. Stufe, die ich dann mit Spielzeug abgeworfen habe, damit sie verschwinden. Aber Angst hatten sie mir trotzdem eingejagt. Und was macht man, wenn man vor etwas Angst hat? Besonders kleine Kinder?"
„Sie vertrauen sich ihren Eltern an, ihre Bezugspersonen, bei denen sie Schutz suchen", beantwortete ich ihre Frage, worauf sie nickte.
„Und genau das tat ich. Ich wusste ja zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht, dass sie das nicht konnten und ich wurde von ihnen behandelt, als hätte ich gerade etwas sehr Schlimmes angestellt. Neben meiner Angst vor dieser Ungestalt, die sich um meinen Vater geschlängelt hatte."
Ich zog sie näher an mich heran und gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. Das Verhalten dieser Nicht-Jujuzisten gegenüber ihr war mehr als fehl am Platz, was meine innerlich steigende Wut zum Brodeln brachte. Wohlgemerkt konnte ich deren Seite durchaus verstehen, aber gewiss nicht nachvollziehen.
„Komm, gehen wir nach Hause", nuschelte ich gegen ihre zarte Haut – darauf bedacht, wiedermal meine Gefühle zu unterdrücken, die mich erneut versucht hatten, bei den Gedanken an ihre Eltern einzunehmen. So ergriff ich ihre kleine Hand, verhakte meine Finger mit den ihren und liefen schlendernd wie auch weiterhin gesprächig in Richtung Heimweg.