-Vorbereitung auf das Specialtraining-
-Aus der Sicht von Mayu-
Zwischen dem Wohnheim und uns lag nur noch die geschlängelte, lange und teils wäldliche Straße hinauf und wir hatten endlich unser Ziel erreicht, welches ich allmählich herbeigesehnt hatte. Ganz gewiss nicht, weil ich nicht die Zeit mit Satoru genossen hätte, sondern weil die Müdigkeit an mir zerrte, als sei sie ein Klotz am Bein. Und das spürte ich auch bei jedem Schritt, der mir immer träger und träger vorkam.
Dabei hatte der Abend, der inzwischen bis in die tiefe Nacht hineinragte, niemals enden sollen. Durfte ich mal eben anmerken, wie sehr ich dieses tiefgründige Gespräch mit Satoru geliebt hatte? Endlich bekam ich einen etwas tieferen Einblick in seinen Charakter, auch wenn das nur eine größere Spitze seines Eisbergs gewesen war. Aber um ehrlich gewesen zu sein, nahm er mich bereits seit unserem ersten Aufeinandertreffen vollends mit seinem Erscheinungsbild sowie geheimnisvollen Charakter ein, weshalb ich das immense Verlangen verspürt hatte, diesen Mann näher kennenlernen zu wollen.
Ich wollte wissen, wie er tickte, welche Beweggründe sowie Persönlichkeit sich hinter diesem sogenannten stärksten Jujuzist verbarg. Mit anderen Worten wollte ich nicht bloß nur seine Fluchkraft sowie Fluchenergie kennenlernen, die ich bereits in kleinen Mengen miterleben durfte, sondern Satoru Gojo.
Mein Interesse schlich sich viel mehr hinter die Fassade und wollte erfahren, welche Ansichten er vertrat und was ihn dazu getrieben hatte, derjenige gewesen zu sein, der er letztlich war. Und wenn ich ehrlich war, ging das ziemlich schlecht während einer Trainingseinheit, in der er so manches Mal Fliegenköpfe – Fluchgeister des 4. Ranges, auf mich losließ oder mir Kampftechniken nähergebracht oder mir die Unterschiede zwischen Fluchkraft, Fluchenergie sowie Fluchtechniken erklärt hatte.
So kam mir dieses Abendessen mehr als gelegen, auch wenn er mich vorhin damit mehr oder weniger überfallen hatte.
Nach meiner Welle an auf ihn geworfenen Fragen blieb mir natürlich nicht im Verborgenen, dass er sich, wie hätte ich es am besten ausdrücken sollen, als in die Enge getrieben fühlte?! Anfänglich sprudelten nur so seine Antworten aus ihm heraus, die ausführlich waren, jedoch aber mit jeder weiteren Antwort seinerseits bedachter und verschlossener ausfielen.
Er schien darauf achtgegeben zu haben, was er von sich preisgab und woran er mich teilhaben lassen wollte. Im Übrigen beruhte das auch auf Gegenseitigkeit, denn auch ich legte noch lange nicht alles auf dem Präsentierteller offenkundig aus, was meiner Meinung nach noch im Verborgenen bleiben musste.
Aber dafür gab es gewiss noch weitere Abende oder auch andere Gelegenheiten, um nochmals in Gespräche zu kommen. Wenn es nach mir gegangen war, dann war mit heute ein großer Stein dafür ins Rollen gebracht worden. Und ich war wirklich nur daran interessiert, den Weißhaarigen kennenzulernen. Ihn mal völlig außerhalb jenes Trainings gegenüberzutreten und mich mit ihm über nun entdeckte Gemeinsamkeiten auszutauschen. Mit wem sonst konnte ich über diese Merkwürdigkeit sprechen, die wir miteinander teilten?
Ich fühlte mich zum ersten Mal verstanden. Nicht komisch oder wurde abgestempelt.
Dieses seltene abermals fast schon verbotene Gefühl der Zugehörigkeit bekam ich doch auch erst seitdem ich zu den Jungs auf die Akademie gezogen war.
Dennoch überstieg die heutige Empfindung dessen um Längen in die Höhe und das erfreute mich insgeheim. Mir war es bisweilen nicht möglich gewesen, über all diese Erfahrungen und Erinnerungen offenkundig zu sprechen, ohne, dass man mich schief, um die Ecke schauend oder gleich mit einem Jesus-Kreuz zeigend ansah und bereits die unterste Schublade öffnete oder die Nummer eines Exorzisten gewählt hatte.
Allen Vorrang meine Eltern...
Diejenigen, von denen ich es am meisten gebraucht hatte.
Von den Personen, welche mir die größte Unterstützung und Verständnis hätten entgegenbringen sollen, nach welcher ich mich gesehnt hatte...
Aber da war nichts. Nichts als das Gegenteil. Sie hatten verständlicherweise Angst. Konnten sich nicht richtig mit dem auseinandersetzen, mit welcher Sonderheit ich verflucht war. Wie auch? Ich verstand doch selbst bis vor kurzem gar nicht, was es damit auf sich hatte. Und wenn ich das richtig deuten durfte, schien es mir so, als dass Satoru deutlich entsetzt über das Verhalten meiner Eltern gewesen war. Zugegeben, wenn ich das selber von der Seite betrachten durfte, dann musste ich mir auch eingestehen, dass das ziemlich verletzend war, wie man mit mir umgegangen war und was ich erleben musste.
Und das war es auch. Ich erlebte Ereignisse, die nicht unbedingt in ein schönes Kinderleben hineingehörten. Angefangen von dem strengen Verhalten meiner Eltern mir gegenüber, wie auch die fehlenden Freundschaften und den anderen Terminen, die ich für diesen Moment schlichtweg begraben lassen wollte.
Sicherlich hatte Satoru mit einer anderen Fürsorge gerechnet, die man für gewöhnlich seinem Kind geschenkt hatte, als jene, die ich bekommen hatte. Und das bemerkte ich auch an seinen Reaktionen darauf. Er war bestürzt, wenn auch sein Pokerface anderes sprach und zeigte. Ich spürte und vernahm deutlich, dass ihm das missfiel. Mir konnte man zwar ein Gesicht vor die Nase halten, aber gewiss nicht seine Emotionen sowie Gemütserregung dahinter verbergen. Ich spürte als hochsensible Person umgehend etwaige Gemütsbewegungen.
Oh – erst jetzt bemerkte ich, dass ich durch das Durchstreifen meiner Gedanken meine Hand fester um seine geschlossen hielt, wie ich eigentlich beabsichtigt hatte. So lockerte ich meinen Druck und petzte die Lippen zusammen.
„Alles in Ordnung?", entging meiner Begleitung natürlich nicht und durchbrach somit auch die herrschende Ruhe zwischen uns, mit seiner warmen Stimmfarbe, der herauszuhören war, dass etwas Besorgnis darin lag.
„Na klar", tat ich überspielend sowie dementierend ab und ließ mir sogleich ein Themenwechsel einfallen in Form von einer, wie hatte es auch anders sein sollen, als mit einer Frage, „wie funktioniert das eigentlich mit deiner Unendlichkeit?"
Auch wenn sie nur der Ablenkung diente, aber das hatte mich wirklich interessiert. Hoffentlich fühlte er sich nicht dadurch allzu durchlöchert.
Jedoch stoppte er augenblicklich, hielt für eine Millisekunde inne, ehe er erhaben aufgrinste und meine Hand losließ.
„Ich erkläre es dir anhand eines Beispiels", verriet er mir und streckte mir die Hand entgegen, „jetzt berühre mich."
Witzbold. So oft wie ich ihn berührt hatte, war das doch ein schlechtes Beispiel. Aber nun gut, er wollte es so, so streckte ich ihm auch selbstverständlich meine Hand entgegen und riss die Augen weit auf. Ich konnte ihn diesmal nicht berühren. Stattdessen wurde ich langsamer und langsamer. Ich konnte ihn zum ersten Mal überhaupt nicht erreichen. Meinen verwirrten und sicherlich auch teils verletzten Gesichtsausdruck nahm er sich zum Erklären vor.
„Je näher du mir kommst, desto langsamer wirst du und kannst mich nicht berühren."
So fühlte sich das also an? Das war diese sogenannte Unendlichkeit? Das glich einem Traum, in dem ich ununterbrochen rannte, ich aber nicht vom Fleck kam. Ich bewegte mich zwar, aber überhaupt nicht merklich. Das hatte es also damit auf sich?!
„Wie stellst du das an? Bisher konnte ich dich immer problemlos anfassen. Ohne dass eine Barriere", betonte ich, deutete dabei mit der freien Hand Gänsefüßchen an, „zwischen uns herrscht. Du musst doch bestimmt die ganze Zeit über Fluchenergie aufrechterhalten, oder?"
„Genau so ist es. Wenn du in meiner Nähe bist, schließe ich dich mit ein, weshalb es zwischen uns diese Barriere nicht gibt. Mit anderen Worten sind wir beide von der Unendlichkeit eingeschlossen und geschützt."
Das... Ich hielt intuitiv die Luft an, während ich mit großen Augen auf unsere Hände schaute.
Deshalb war es mir bisher uneingeschränkt möglich, ihn anzufassen und näherzukommen? Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
„Ich hingegen", erklärte er weiter und verschränkte seine Finger mit den meinen, während ich mich weiterhin nicht bewegen konnte, „kann dich ganz einfach berühren."
Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, wohingegen sich von meiner Brustmitte aus eine wahnsinnige Hitze ausbreitete. Ich konnte noch nicht einmal ausmachen, ob es nun die Erkenntnis darüber war, was er ununterbrochen für mich tat oder weil seine Berührung derart zärtlich war. Gespannt schaute ich weiter auf unsere Hände, ehe er seinen Zeigefinger unter mein Kinn legte und es sachte anhob, während er sich zu mir herunterbeugte.
„Und jetzt küss mich", forderte er mich raunend auf.
Mein Herz setzte aus. Ich sollte ihn küssen? Wo er zwischen uns die Unendlichkeit aufrecht hielt? Abgesehen davon war dies unser erster Kuss. Ja, wir waren uns in den letzten zwei Wochen außerordentlich nähergekommen, aber zu einem Kuss kam es bisher noch nicht, weshalb ich auch vorhin auf sein Rummach-Angebot herzlichst lachen musste.
Innig schaute ich ihm auf seine verdeckte Augenpartie, statt dass ich ihm näher kam, kam er mir näher. Von der einen auf die andere Sekunde spürte ich, dass er mich entweder in seine Fluchtechnik wieder miteinbezog oder sie gänzlich ruhen ließ. Ich konnte mich wieder bewegen, so stellte ich mich auf meine Zehenspitzen und hielt mich an dem Kragen seines wolkenweißen Hemdes fest.
Derweil schlang er seinen freien Arm um meinen Rücken und spürte, wie sich seine weichen Lippen auf meine legten. Hauchzart und gefühlvoll, ehe ich den Druck sanft erhöhte. Für mich war diese Art der Innigkeit unlängst überfällig. In mir explodierte es. Mein Herz raste hoch und die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten wild umher.
Aus einem flüchtigen Kuss wurde nun mehr ein leidenschaftlicher, wobei unsere Lippen miteinander tanzten. Seine Hand ließ indes meine los und bahnte sich ihren Weg auf meine Wange, die sich glühend heiß anfühlte. Unzählige Male schon hatte ich von einem Kuss mit ihm geliebäugelt, aber bei weitem nicht damit gerechnet, wie wunderschön er sich anfühlte.
Moment um Moment vergingen in der liebevollen Liebkosung, ehe diese fast schon einvernehmlich endete und Satoru seine Stirn gegen meine lehnte.
Ich ließ weiterhin die Augen verschlossen und genoss noch seicht lächelnd die allmählich abkühlende Wärme auf meinen feuchten Lippen, die er hinterließ.
„Ist das eigentlich schwer, so viel Fluchenergie die ganze Zeit über aufrechtzuerhalten?", fragte ich hauchend und wanderte mit meinen Fingern unter den dünnen Stoff seines Hemdes und zog mit meinem Zeigefinger die Kontur seines definierten Schlüsselbeins nach.
„Oh ja und wie", neckte er mich ironisch, „aber du kannst es mit unendlich vielen Küssen wiedergutmachen."
Ich kicherte. Unendlich viele Küsse für seine aufrechtzuerhaltende Unendlichkeit?! Auch wenn es mehr ein Scherz war, stimmte es mich glücklich. Das war indirekt eine Erlaubnis dafür, dass ich mich in Sachen Satoru zu küssen austoben durfte und das ließ ich mir gewiss nicht zweimal sagen.
Schon gar nicht, wo ich jetzt in den Geschmack dessen gekommen und diese nicht ausgesprochene Hürde zwischen uns gefallen war.
„Ich würde das nicht zu laut sagen, denn das könnte dir schnell zu viel werden."
„Niemals."
Ich nahm mir sein Wort zu Herzen und strich behutsam mit meinen Fingerspitzen von seinem Schlüsselbein über seine Wange bis hin zu seiner Schläfe hinauf und glitt behutsam unter den samtigen Stoff seiner Augenbinde, die ich ihm widerstandslos von seinem Kopf hinweg abstreifte.
Noch ein verdeckendes Detail weniger zwischen uns und ich konnte mich sogleich in seinen ausdrucksvollen azurblauen Augen verlieren, die selig auf mir ruhten.
Bei Gott, wieso hatte er auch nur so gut aussehen müssen?!
Mir schlug das Herz bis zum Halse und vernahm deutlich, wie die Hitze in mir stieg und sich gänzlich in meinem Körper ausbreitete.
Ich wollte ihn nochmals küssen, schließlich hatte ich für die Unendlichkeit einiges wiedergutzumachen.
So war ich es nun, die ihre Lippen zärtlich auf seine legte und dabei meine Arme um seinen Hals schlang. Er tat selbiges, jedoch umschloss er mich sowohl um meine Schultern sowie Lendenbereich näher an sich und erwiderte den Kuss intensiver als zuvor. Feuriger und hingebender. Es raubte mir im ersten Moment den Atem, bis ich wohlig in den Kuss hinein seufzte. Wie automatisiert wanderte ich mit meiner Handfläche zu seinem Hinterkopf und strich über seinen Undercut, für den ich eine insgeheime Vorliebe hegte. Ich liebte dieses Gefühl, welches seine kurzen Haare auf meiner Haut hinterließen.
Weiterhin spielten unsere Lippen miteinander, mal hauchzart und kaum berührend, bis einer von uns wieder den Druck erhöhte und nicht mal einen Hauch von einem Windzug dazwischen erlaubte.
Gefühlt waren es etliche Minuten, die unser Lippenbekenntnis für sich beansprucht hatten, ehe wir es ein zweites Mal unterbrachen. Wenn auch eher widerwillig.
Während ich mich wieder gänzlich auf meine Füße stellte, schmiegte ich mich vollends an ihn und legte dabei meine Arme um seine Taille und lehnte meinen Kopf gegen seinen Brustkorb. Zufrieden lächelnd schloss ich die Augen und lauschte seinem erschnellten Herzschlag, während sein lieblicher Duft meine Nase umgarnte.
Auch Satoru hielt mich eng umschlungen in seiner Umarmung fest und ruhte mit seiner Wange auf meinem Kopf. Gefühlvoll strich seine warme und große Hand langsam über meinen Rücken auf und ab, ehe er damit begann, mit seinen Fingern durch mein Haar zu streifen und die einzelnen Strähnen zärtlich zu entwirren. Und waren wir mal ehrlich – wer hatte das nicht geliebt und bekam eine ausgeprägte Gänsehaut?
In jenem Augenblick fühlte ich mich zum ersten Mal endlos beschützt und unsagbar wohl, wie ich es bisher noch nicht einmal erfahren durfte.
„Ich könnte jetzt so einschlafen", flüsterte ich von Müdigkeit geprägt.
„Geht mir genauso", nuschelte er gegen meinen Seitenscheitel, ehe er einen Kuss darauf verteilte.
Wir verharrten noch weitere wenige Augenblicke in der wohltuenden Umarmung und genossen einander, bis doch glatt mein Gähnen dazwischen grätschte.
„Lass uns nach Hause gehen", nahm er sich meinen Gemütszustand vor.
Ich nickte und löste mich gemächlich von ihm, wenn auch vollkommen ungewollt. Ich hätte noch Stunden in seinen Armen verbringen und seine Wärme genießen können.
Alleine seine Anwesenheit glich einer Wohltat. Hätte jemand was dagegen gehabt, wenn ich ihn für heute Nacht nicht einfach mit in mein Zimmer genommen hätte? Ja, der Gedanke gefiel mir, aber ich wollte gewiss nichts überstürzen, auch wenn unsere Annäherungen nun ein schnelleres Tempo aufgenommen hatten.
So überbrückten wir träge die letzten Meter und erreichten endlich das Wohnheim.
Unmittelbar nach dem Betreten des Eingangsbereichs zogen wir unsere Schuhe aus, nachdem wir geräuscharm die Tür hinter uns zugeschlossen hatten. Auf Zehenspitzen liefen wir in das Innere des Gebäudes und schlichen zur Hälfte durch den langen Flur hindurch. Kein einziger von den anderen war noch wach oder hatte noch das Licht in seinem Zimmer an, denn einzig und alleine der seichte Mondschein erhellte uns spärlich durch die Fenster hindurch den dunklen Holzboden. Es wäre schlichtweg fatal gewesen, das Licht anzumachen.
Zunächst steuerten wir beide gleichzeitig das Bad an, in welches wir kurzum verschwanden und ließen uns prompt vom grellen Licht blenden, nachdem wir hinter uns die Tür leise zugeschlossen hatten. Vielsagend tauschten wir einander unsere Blicke aus, bei denen wir uns doch sehr beherrschen mussten, nicht laut drauflos zulachen.
„Wie Eltern, die nach Hause schleichen", merkte ich flüsternd sowie belustigt an und nahm mir meine Zahnbürste zur Hand.
Aufprustend tat es mir Satoru gleich und warf mir einen liebevollen schmunzelnden Blick zu, „du siehst richtig müde aus", bemerkte er mitfühlend an – dabei sah er auch nicht mehr gerade unbedingt wach und fit aus.
„Da-af bin if auc-", antwortete ich unverständlich, mit der Zahnbürste im Mund und begannen zeitgleich damit, uns bettfertig zumachen.
Ich schminkte mich noch schnell ab, ehe unsere Ninja-Mission in die zweite Runde ging und verließen wieder mucksmäuschenstill das Bad und streiften auf leisen Fußsohlen durch den Gang. Ich lief vorweg und zog Satoru mehr oder weniger hinter mir her. Vorbei an Megumi's Zimmer, aus dem nicht mal ein kleines Geräusch zu hören war. Was er wohl geträumt hatte?
Weiterhin leise ging es an der nächsten Tür vorbei – die von Kento.
Aus seinem Zimmer konnte man klar und deutlich seine tiefen Atemzüge vernehmen, die allmählich in Richtung Schnarchen hineingeragt hatten. Da hörte ich doch glatt hinter mir, wie sich Satoru wiedermal das Lachen verkneifen musste, was mich natürlich umgehend angesteckt hatte. Ich drückte ermahnend seine Hand zusammen, drehte mich zu ihm um und legte meinen Finger auf meine zusammengepressten Lippen.
„Pssscht", zischte ich, versuchte darin meine Belustigung gefangenzuhalten, was ich damit vermutlich nur noch schlimmer gemacht hatte.
Er hielt sich umgehend die andere Hand vor den Mund und kämpfte darum, seine Laute nicht entkommen zu lassen.
Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ihn das derartig amüsierte, so hoffte ich insgeheim, dass ich nicht im Schlaf geschnarcht hatte.
War ich auch grundsätzlich nicht, jedoch hatte mir bereits mein damaliger Exfreund amüsierend darüber berichtet, dass, wenn ich ein wenig zu viel Alkohol getrunken hatte, ich genauso ziemlich laute Atemzüge nahm und ein paar lautere Schnarcher dazwischen quetschte. Er nannte es zur damaligen Zeit süß – ich hingegen aber peinlich, besonders jetzt nach Satoru's Reaktion darauf. Ich konnte mir schon gut vorstellen, dass es bei mir auch witzig klang.
Zügig schlichen wir weiter und liefen geradewegs auf meine Zimmertür zu, die die hinterste im Gang war. Links von ihr gelangte man in das Reich von Satoru, welches wir zuerst ansteuerten. Gott sei Dank hatte uns keiner bemerkt, denn wie hätten wir das erklären sollen? Auch wenn ich selbst für die merkwürdigsten Situationen jegliche Ausreden parat hatte, so hätte ich für diese überhaupt keine gehabt.
Wie hätte ich denn auch erklären solle- ah, ja doch! Ich hätte eine gehabt! Im Nu hatte sich mein Geistesblitz ausgedacht, dass mich Satoru auf einen außergewöhnlichen Auftrag mitgenommen hätte. Es musste ja keiner wissen, dass es sich dabei um ein gemeinsames Abendessen gehandelt hatte.
Kurzum zog mich Satoru wieder an sich und schlang seine Arme um mich, worauf ich überrascht zu ihm aufsah. Mit einer Umarmung hatte ich eigentlich nicht mehr gerechnet, aber einzuwenden auch nichts. Sogleich trafen wieder unsere Lippen aufeinander, um sich ein letztes Mal flüchtig zu berühren.
„Gute Nacht, Mayu", flüsterte er mir zu, „schlaf schön und träum was Schönes von mir", ging er nochmals auf das Baden von vorhin ein.
„Sehr witzig. Schlaf du auch schön und träum was Schönes", erwiderte ich und löste mich nun gänzlich von ihm.
Und schon verschwanden wir jeweils in unsere Räume, ehe wir uns ein letztes Mal gleichzeitig zulächelten.
Ich war mehr als tot! Derart lange wach war ich schon ewig nicht mehr gewesen. Nicht, dass ich es bereut hatte – keineswegs. Aber meine letzte halb durchgemachte Nacht hatte sich auch bereits mehrere Jahre nicht mehr blicken lassen.
Rasch schlüpfte ich aus dem Kleid raus, ließ es unliebsam auf dem Boden liegen und zog mir den BH aus, den ich dazu warf. Endlich Freiheit für die Boobies! Es gab doch nichts Erholsameres für uns Mädels, als nach einem langen Tag dieses eng anliegende Ding auszuziehen. So streifte ich mir mein braunes Schlafshirt über und huschte in mein gemütliches Bett. Was für eine Wohltat! Wie im Wolkenreich.
Jetzt durfte ich nur nicht vergessen, mir den Wecker für morgen früh zu stellen, um bei meinen Eltern anzurufen und für das angsteinflößende Training aufzustehen. Das tat ich auch sogleich und legte es auf mein Nachtschränkchen zurück. Ich gähnte nochmals ausgiebig aus, ehe ich meine Augen schloss und in das kurze Reich der Träume entschwand.
Völlig erschrocken wurde ich sogleich durch das Klingeln der scheiß Nervensäge, die man auch Wecker nannte, aus dem Tiefschlaf gerissen. Hastig setzte ich mich kerzengerade in meinem Bett auf und ließ mich noch vollkommen schlaftrunken vom hell aufleuchtenden Display meines Handys blenden, ehe ich diesen nervtötenden Bombenangriff ausgeschaltet hatte.
Herrgott, wer hatte sich diesen Mist ausgedacht, zu bestimmten Uhrzeiten aufzustehen?! Oh, ich selbst. Weil ich mir das Vergnügen aufgesetzt hatte, meine heißgeliebten Eltern anzurufen...
Es gab doch nichts Schöneres...
Noch vollends im Land der Träume hängend, streckte ich mich ausgiebig und erhaschte vereinzelte Sonnenstrahlen durch die zugezogenen dunkelblauen Vorhänge durchsickern, die mein Zimmer bereits in ein warmes morgendliches Licht einhüllten. Bei Gott war ich noch todmüde. Das wurde definitiv zu spät gestern Abend. Aber ich konnte doch unmöglich dieses wunderschöne Erlebnis unterbrechen. Hatte ich auch nicht, aber die Quittung dafür schmeckte mir so gar nicht.
Ich fiel wieder zurück in mein Kissen und zog mir die Decke bis hoch unter die Nase. Ein paar Minütchen Zeit blieb mir noch.
Was nicht bedeutete, dass ich wieder die Augen schließen konnte, denn aus diesem Schlaf wäre ich gewiss nicht so schnell aufgewacht, aber ich konnte mir nun zumindest meine Gedanken und Sätze zusammenkratzen für mein bevorstehendes Telefonat. Und da überkam es mich doch im Nu. Dieses flaue Magengefühl.
Ich telefonierte überhaupt nicht gerne mit meinen Eltern. Auch wenn es nie über eine Minute hinausging, mit ihnen zu plaudern, so gehörte dies absolut nicht zu einer meiner liebsten Beschäftigungen. Wie reagierten die wohl darauf, wenn ich ihnen sagte, dass ich Satoru mitbringen wollte? Und überhaupt – gleich zwei Nächte?!
Bisweilen blieb ich maximal eine Nacht, weil ich es endlos unerträglich mit ihnen empfunden hatte. Am liebsten hätte ich mir jedes Mal ein Hotel dafür genommen – je weniger Zeit mit ihnen, desto besser war es für mich, aber Satoru entschied sich gestern dafür, dass wir in meinem Mädchenzimmer übernachten.
Ich begann zu schmunzeln. Mein teeniehaftes Zimmerchen. Das könnte eventuell doch spaßig werden. Es freute mich ungemein, dass er mich begleiten wollte. Mit einem solchen Vorschlag hatte ich auch niemals gerechnet und hoffte inständig, dass er das auch nicht bereuen würde. Meine Eltern waren überaus schräg drauf gewesen. Durch und durch, aber mit Satoru an meiner Seite fühlte ich mich irgendwie – gewappnet?
Nun ja. Der Anruf dafür musste ja auch erstmal getätigt werden.
Rief ich am besten an mit 'jo, hier ist eure gestörte Tochter, die euch mal wieder besuchen muss, also komme ich übernächstes Wochenende mit einem oder meinem' … Was war Satoru jetzt eigentlich für mich? Ich starrte an die Decke.
Dieser ganze Abend...
Er hatte mir maßgeblich viel bedeutet. Nicht nur unsere Gespräche über den kompletten Abend hinweg, sondern auch, dass wir uns nähergekommen waren. Es stimmte mich überaus glücklich, aber auf der anderen Seite war da diese Ungewissheit. Nicht zu wissen, wie er dazu stand und darüber nachgedacht hatte, quälte mich. Vielleicht hatte er einfach nur gespielt? Oder bekam entgegen seinen Erwartungen ein anderes Bild von mir? Vielleicht war ich ihm zu aufdringlich oder nervig oder was auch immer?!
All diese negativen Vermutungen zählten leider zu meinen durchgemachten Erfahrungen. So kam es bereits vor, dass ich einem Mann nähergekommen war, der sich dann doch von jetzt auf gleich anders entschied und das Ganze zwischen uns umgehend gekappt hatte. Das würde mir bei Satoru durchweg sehr zusetzen.
Schwer einatmend sowie genauso seufzend setzte ich mich auf und schenkte mir selbst über den Wandschrankspiegel einen Blick zu.
Och du scheiße – wie sah ich denn bitte aus?!
Meine fliederfarbenen Haare feierten in der Nacht auch mehr, als sie es hätten tun sollen, so wie die in allen Himmelsrichtungen abgestanden hatten.
„Sach doch mal, wie fest habe ich denn geschlafen?! So sah ich bisher noch nie aus", sinnierte ich mir selbst zu und entwirrte diesen zerzausten Partylook auf meinem Kopf, ehe ich mein Handy wieder zur Hand nahm.
So, nun aber wieder zum nächsten unangenehmen Thema – das Telefonat.
Ja, aber wie bezeichne ich denn jetzt Satoru? Als meinen Freund? Das wäre gelogen. Als einen Freund? Das klang doch irgendwie abgedroschen – warum sollte ich einen Freund mit zu meinen Eltern nehmen? Oder einfach als meinen Lehrer?!
Ich schmunzelte auf. Zumindest wäre es die Wahrheit gewesen, aber wieso hatte ich meinen Lehrer mit zu meinen Eltern nehmen sollen?! Und worin hatte er mich unterrichtet? Aber natürlich! In Jujutsu. Hätten die zwei vermutlich nie verstanden und über gläubig verabscheut, aber so war es jedoch.
Ich schnaufte entmutigt die Luft durch die Nase.
Rief ich lieber meinen Vater oder Mutter an? Im Endeffekt kam immer dasselbe bei raus. Die zwei waren mehr als ein eingespieltes Team. Sie waren praktisch gesehen zwei Körper mit einem Gehirn, einem Mund und einer Meinung sowie Gefühlslage. Da hatten sogar siamesische Zwillinge mehr Privatsphäre und Eigenmeinungen für sich gehabt als die...
Puh. Warum hatte es nur so schwierig mit denen gewesen sein müssen?
Ich scrollte zum letzten Anrufeintrag, der meiner Mutter galt und wählte Augen rollend ihre Nummer. Es klingelte und klingelte nochmals, ehe sie sogleich abnahm.
„Hallo Mayu", so ihre kalte und fast schon unterkühlte Begrüßung.
Also ihre Freude hatte sich auch beim Handyklingeln wiedermal selbst in die Luft gesprengt, was? Zumindest klang sie nicht vollends genervt, wie es bereits mehrmals vorgekommen war.
„Hallo Yuna", begrüßte ich ebenfalls emotionslos, „es ist mal wieder an der Zeit, dass ich vorbeikomme", -n muss, hätte ich am liebsten angehängt, blieb aber dann doch lieber in der freundlicheren Ebene.
„Ja", presste sie entnervt kurz und knapp durch ihre schmalen Lippen hindurch.
Ja... Glaube mir, wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich auch komplett auf euch verzichten können...
„Wie schaut es mit übernächstem Wochenende aus?"
„Moment, bitte. Ich muss nachschauen, ob wir da Termine haben."
Tu dir keinen Zwang an.
„Von wann bis wann, bitte?", wollte sie wissen, während ich im Hintergrund das Rascheln von Papier hörte. Ihren zweiten Liebhaber oder wie manch andere es auch nannten – Kalender. Und ich hatte gewiss nicht damit untertrieben, wenn ich gesagt hatte, dass sie diesen mehr gehegt und gepflegt hatte als meinen Vater und mich zusammen.
„Von Freitagmittag bis Sonntagabend", antwortete ich ordentlich, schnitt aber dabei eine gen Decke schauende sowie angewiderte Grimasse. Wie hatte ich diese zwei Tage überleben wollen?
„Was?!", entkam es ihr laut entsetzt, „zwei Tage? Wieso so lange?"
Weil Satoru das so wollte. Aber mal ehrlich, wie kann man denn so entsetzt über einen längeren Besuch sein? Andere Eltern hätten sich so sehr darüber gefreut, ihre Kinder zusehen und die? Das ist schon irgendwie verletzend...
„Ich würde gerne meinen Freund mitbringen und ihm zeigen, wo ich aufgewachsen bin", ließ ich mir mal eben einfallen und ließ diese Lüge ungebremst über den roten Teppich flitzen.
Oh man. Jetzt bist du doch mal eben zu meinem Freund geworden, Satoru. Entschuldige.
„Aha. Deinen Freund also? Wie lange seid ihr schon zusammen? Erzählt hast du ja nichts von ihm", warf sie mir verachtend vor die Füße, in der Stimmlage verärgert.
Ach stell dir vor. Weil er bis eben auch nicht existiert hat und seit wann hat es dich interessiert, ob ich einen Freund hatte, oder nicht?!
„Das ist auch erst seit zwei Monaten."
Jawoll, Mayu. Reite dich tiefer in die Scheiße! Aber wie hätte ich sonst erklären wollen, dass ich meinem noch nicht Freund meine Heimatstadt zeigen wollte? Also, nein, eigentlich nicht. Mein Lehrer leistet mir doch bloß nur Gesellschaft. Aber das nehme ich mir trotzdem vor.
„Na schön. Da bin ich mal gespannt, welchen Kerl du dir da ausgesucht hast. Ich habe mir jedenfalls den Termin mit dir und deinem Freund eingetragen. Übernächstes Wochenende von Freitagmittag bis Sonntagabend."
Mit freundlichen Grüßen, Yuna Ryomen.
Ich schüttelte über ihre Formalitäten den Kopf und ließ den angedeuteten Seitenhieb über Satoru besser unkommentiert, „gut. Dann sehen wir uns übernächstes Wochenende."
„Ja. Tschüss", verabschiedete sie sich kurz und knapp und hörte bereits nur noch das Tuten durch den Hörer.
Unachtsam ließ ich mein Handy auf das Bett in meinen Schneidersitz fallen und rieb mir mit meinen Händen übers Gesicht.
„Ja, tschüss und so", nuschelte ich und schüttelte dabei wiedermal verachtend den Kopf.
Dumme Kuh. 'Da bin ich mal gespannt, welchen Kerl du dir da ausgesucht hast'. Nur, weil mein Exfreund damals ihre religiösen Ansichten infrage gestellt und sie ihn deshalb angefangen hatte zu hassen... Es waren nicht alle Männer gleich, du …
Aber – geschafft! Auch wenn es von beiden Seiten nicht unbedingt gewollt war, aber so war es doch erleichternd zu wissen, dass ich das vorgeschlagene Wochenende 'genehmigt' bekommen hatte. Schon bescheuert gewesen...
Klammheimlich hatte ich mir ja doch irgendwie gewünscht, dass an diesem Wochenende irgendetwas vollkommen daneben laufendes passierte, dass sich diese verhassten Anstandsbesuche erledigen würden. Klar, ich hätte es auch einfach sein lassen können, aber dagegen rebellierte mein inneres Kind, welches sich immer noch nach ein wenig Liebe ihrerseits gesehnt hatte, auch wenn mein Verstand unlängst darüber im Klaren war, dass sie mir das hätten niemals geben können – zudem auch nicht wollten.
Für sie war ich nichts weiter, als eine unerwartete Last in einer sehnlichst gewünschten Tochter gewesen. Ein Teufelsfluch in ihrem gewünschten normalen Kind, wie sie es mir oft genug gesagt hatten. Nicht mehr und nicht weniger.
Mal abgesehen davon, wollte ich meine Sicherheitsdistanz aufrechterhalten. Je näher sie mir kamen, desto mehr verletzte es mich im Endeffekt. Es trafen mich immer wieder unvoreingenommene, erlebte schlechte Zeiten und Ereignisse, die sie mir in mein Leben gebracht hatten. Zudem war da auch von meiner Seite aus nichts mehr mit Liebe.
Meine Bindung zu ihnen war kaum bis eigentlich gar nicht mehr da. Und das befand ich für gut, wenn auch grausam. Aber wieso sollte ich als ihre nicht gewünschte Tochter ihnen etwas geben, wonach ich mich selbst gesehnt und es nicht bekommen hatte? Eine Liebe – jeglicher Art – bestand aus einem geben und nehmen. Nicht aus nehmen und nehmen.
Aber es diente nun mal zu meinem Eigenschutz – so zumindest auch von meiner damaligen Psychologin angeraten.
Ich schloss die Augen und ließ mich rücklings zurück ins Kopfkissen fallen. Ich musste schleunigst auf andere Gedanken kommen. Dieses überaus finstere, dunkle und viel zu lange Kapitel musste zugeschlossen bleiben.
Oh Mist! Was sagte denn eigentlich die Uhr? Musste ich nicht langsam aus den Federn? Rasch blickte ich auf die kleine Uhr auf meinem Nachtschränkchen, welche mir verriet, dass ich noch ein paar Minütchen Zeit gehabt hatte.
Dabei fiel mir auch Satoru's samtige schwarze Augenbinde ins Auge, welche ich gestern Abend noch auf mein Kopfkissen gelegt hatte. Meine rettende Ablenkung. Mein vermeintlicher Freund, der nichts von seiner Freundin wusste.
Die Augenbinde nahm ich mir sogleich zur Hand und strich mit meinem Daumen zärtlich über den weichen Stoff, auf den Lippen ein seichtes Lächeln und schon drifteten meine Gedanken wieder zu meinem Lehrer ab.
Die hatte ich gestern in all meiner Müdigkeit mitgenommen. Die durfte ich nachher nicht vergessen. Ohne sie würde er an Reizüberflutung ersticken. Es musste schon eine gewaltige Macht gewesen sein, wenn man ausnahmslos alles wahrgenommen hatte. Für jemanden, der das nicht nachvollziehen konnte, war dies auch nur schwer vorstellbar.
Zu schade aber auch, dass nur seine Augenbinde neben mir lag und nicht er selbst...
Satoru Gojo.
Ein Name, der dazugehörige hübsche Mann und schon begann mein Gedankenbaum massive Wurzeln zu schlagen. In allen erdenklichen Richtungen, jedoch insbesondere an unseren gestrigen Abend, bei dem eine Menge passiert war. Um genau gewesen zu sein, eine ziemlich große Anzahl an Ereignisse und aufschlussreiche Gesprächsthemen.
Und das alles begann mit meinem harmlosen Baden. Da kam er doch einfach hereingestürmt. Ich traute meinen Augen nicht und dann kam er noch in die Wanne, statt wieder rauszugehen. Wusste er denn überhaupt, dass ich im Bad war? Wenn nein, ging er schier das Risiko ein, auf einen der anderen Jungs getroffen worden zu sein?
Warum war eigentlich ich die Hauptperson in diesem Spektakel gewesen? Ich hätte wirklich zu gerne mitbekommen, wie er sich verhalten hätte, wenn nicht ich, sondern Kento oder Megumi im Bad gewesen wären. Die hätten ihn doch hochkant wieder hinaus beordert. Ich kicherte schmunzelnd auf. Herrliches Kopfkino, welches ich zu gerne erlebt hätte.
Wieso tat ich das eigentlich nicht? Ihn rauszuschmeißen.
Zum einen, weil ich ziemlich überrascht darüber gewesen war und zum anderen, weil ich einen Hang für absurde Situationen hatte? Nein, eigentlich nicht. Also ja doch, schon irgendwo, aber ich hatte auch nichts gegen seine Anwesenheit. Somit konnte er sich glücklich schätzen. Aber... Wollte ich wirklich nochmal darüber nachdenken, dass ich mich nackt vollends gegen ihn geschmiegt hatte? Nackt! Mit meinen Brüsten! Nachdem ich ihn an den Schultern massiert hatte und ihn umarmen wollte?!
„Alter", begann ich fassungslos, „wie kam ich denn auf die Idee?"
Ganz einfach – ich wollte ihn tatsächlich nur umarmen und vergaß vollkommen, dass wir nackt waren. Nichts weiter. Als ich es realisiert hatte, war es auch schon viel zu spät dafür. Und die innige Atmosphäre zwischen uns ließ es auch ohne jeglichen Einwand zu, weshalb ich nicht nachgedacht hatte. Blieb also zu hoffen, dass es für ihn nicht unangenehm war. Aber andererseits?
Er hätte mich doch schlichtweg abweisen können – wieso tat er das nicht?!
Wollte er nicht unhöflich wirken? Vielleicht mochte er mir auch keine Abfuhr erteilen? Also, wenn dem wirklich so gewesen wäre, wieso kam er dann auf die Idee, mir mein selbst eingehandeltes zweites Bad als seine Belohnung auszusetzen?
Gott. Vielleicht sollte ich nicht weiter so naiv denken. Als hätte ihm das nicht gefallen... Warum sonst pochte er darauf, dass er nochmals mit mir baden gehen wollte? Ich Schussel...
Typisch Männer. Es ging ihm bestimmt nicht nur darum, dass er mir einen Gefallen bei den obersten Heinis tat, sondern – nun ja.
Naivchen Mayu hatte soeben ihren großen Moment auf der Bühne, den sie nun bitte beenden durfte.
Wieder schweifte mein Blick auf den schwarzen Stoff zwischen meinen Fingern.
Ja, er hatte das geschickt für sich eingefädelt bekommen, dennoch entging mir nicht, dass er auch ernst darüber gestimmt war, dass es mein Wunsch gewesen war, dem Sonderrang entkommen zu wollen. Ich mochte nicht länger zu Unrecht, als solchen bezeichnet zu werden.
Ich konnte es gerade noch so dulden, dass mich Satoru bisweilen damit aufzog. Weitere hatte ich auch nicht gebraucht und war indessen überaus froh darüber gewesen, dass mich Megumi sowie Kento nicht damit angesprochen hatten.
Aber, was mir gestern Abend noch deutlich aufgefallen war, war seine Beklommenheit in Bezug auf die kleine Mayu, die ich ihm gestern vorgestellt hatte.
Ich konnte schon gar nicht mehr mitzählen, wie oft ihm ein dunkler Schleier übers Gesicht huschte. Er schien regelrecht schockiert darüber gewesen zu sein. Dabei war auch seine Kindheit nicht unbedingt die eine, die man eine glückliche nennen konnte. Dabei ging ich seltsamerweise davon aus, dass er ziemlich gut behütet und herzlichst umsorgt worden war. Vollkommen falsch, wie ich gestern erfahren durfte.
Klar, man hätte es trotzdem so sehen können, aber in einem verglichenen Käfig gefangen gehalten worden zu sein, empfand ich nicht als sonderlich liebevoll, was er auch ohne große Umschweife bestätigt hatte. Wie er sich wohl als Kind gefühlt haben musste?
Er erwähnte ja bereits gestern, dass er ziemlich oft von Zuhause ausgebüxt war. Wäre ich nicht ebenso gefangen gehalten worden, wäre ich auch vermehrt abgehauen.
„Welch Ironie", seufzte ich aus.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir im weit entferntesten Sinne eine ähnliche Kindheit erlebt hatten. Völlig egal, ob sie nun vollkommen unterschiedlich waren, aber im Grunde waren sie beide nicht schön gewesen.
Was sich Eltern alles einfallen ließen. Besonders die eines Jujuzisten.
Ob das bei Megumi oder Kento auch so war? Wie die wohl aufgewachsen sein mussten?
Bei Kento hätte es in alle Richtungen gehen können. Er hätte eine liebevolle Familie haben können oder auch genau das Gegenteil. Vielleicht war er aber auch ein Draufgänger? Wobei ich mir das eher bei Megumi vorstellen konnte. Oh ja. Er war bestimmt so ein kleiner Rebell, der sich nichts sagen lassen hatte und zog dann mit seinen Höllenhunden von dannen. So konnte ich mir das zumindest vorstellen.
Ob dem so gewesen war? Kento hätte ich dahingehend vermutlich eher weniger ausfragen können, aber Megumi? Ich glaubte, dass er nichts dagegen gehabt hätte, wenn ich mich bei ihm über dieses Thema erkundigt hätte. Er würde mir sicherlich ein paar Details über sich verraten, ohne dass er mich gleich als Schnüfflerin abstempelte.
„Komische Welt dieser Jujuzisten", seufzte ich abermals aus und warf nochmals einen Blick auf mein Handy. Mein morgendliches im Bett rumgewälze durfte ich nun leider beenden.
Das Specialtraining beanspruchte nun seinen Zeitblock für diesen Tag. Und das bereitete mir noch viel mehr Magenschmerzen, als mit meinen Eltern zu telefonieren.
Auf eine Mission mitgenommen worden zu sein, wobei ich Megumi oder Kento Gesellschaft leisten durfte und mir etwaige Informationen über diese Jujutsu Sachen erklärt wurde, war das eine, jedoch war ich mir bereits sehr sicher, dass ich heute den Mist alleine bestreiten durfte.
Dieses Gefühl ließ mich keine Sekunde los.
Wieso tat er das eigentlich noch als Training ab? Er hätte es auch schlichtweg Mayu's Mission nennen können...
Ich raffte mich widerwillig aus dem warmen Bett auf und zog zunächst die dunkelblauen Vorhänge zur Seite, um der Sonne ihren gebührenden Langauftritt zu gewähren. Bereits durch die Fenster hindurch vernahm ich, dass dieser Tag eine ordentliche Portion an hohe Temperatur anzubieten hatte.
Kurzum stattete ich meinem Wandschrank einen Besuch ab und entnahm aus diesem meine dunkelblaue Rockuniform, die mir bis zu den Knien reichte und mit ihren kurzen Ärmeln für genügend Hitzefrei sorgte. Meine wärmende Haarpracht verbannte ich in einen schlichten Pferdeschwanz und schlüpfte in schwarze Schuhe.
Noch bevor ich hinausging, steckte ich mir mein Handy zu meiner rechten und Satoru's Augenbinde in meine linke Rocktasche.
Zur Abwechslung musste ich mal nicht durch den langen Flur schleichen oder darauf bedacht gewesen sein, etwas verbergen zu müssen, was sich beinahe falsch angefühlt hatte und machte noch einen kleinen sowie kurzen Schlenker ins Badezimmer. Kurzum machte ich mich frisch für den Tag, putzte mir die Zähne, trug mein Alltagsmake-up auf und verschwand in die gegenüberliegende Küche. Ein derartiges Geheimtraining, was daraus gemacht wurde, konnte und wollte ich gewiss nicht auf nüchternen Magen antreten.
So bereitete ich mir auf die Schnelle eine kleine Mahlzeit zu.
„Viel Glück, Mayu. Und vergiss nicht, auf die kleinen Details zu achten, wovon ich dir geraten habe."
Ich stockte kurz, begann bei der aufbauenden Stimmfarbe Megumi's zu lächeln und spürte, wie ich von hinten um die Schultern in den Arm genommen wurde.
„Dankeschön", erwiderte ich freudig, ehe meine Stimmung wieder schwankte und ich mich in der Umarmung halb zu dem Schwarzhaarigen umdrehte, „du musst doch bestimmt wissen, was der werte Herr mit mir vorhat, oder?", versuchte ich ein Stück meinem baldigen Schicksal zu erhaschen.
Sonst hätte er mir doch auch niemals diesen Tipp genannt. Aber es besänftigte meine aufkommenden Muffensausen, die sich auftaten, wenn ich an die nächsten Stunden gedacht hatte. Von Megumi hatte ich allerlei Tipps und Tricks erfahren. Um genau gewesen zu sein, hatten wir bei der ein oder anderen Mission zusammen an meinem Nahkampf getüftelt. Zwar nicht viel, aber genug, um mich größtenteils verteidigen zu können, wofür ich überaus dankbar war.
„Ja, natürlich. Aber ich soll dir kein Wort darüber verraten."
„Nicht mal einen Hinweis?!"
„Leider nein. Und nein, hör auf, mich so anzugucken. Ich darf nichts verraten!", blieb er hart und schaute provokativ zur Seite hinweg, „ok. Fluchgeist! Mehr verrate ich nicht..."
Juhu! Ein Hinweis, der mir leider so gar nicht gefiel, womit ich aber schon gerechnet hatte. Na immerhin hatte mein flehender Blick wieder seine Wirkung bei Megumi gezeigt. Damit hatte ich ihn bisweilen immer bekommen, wenn es mir wahrlich wichtig war.
Aber nun gut. Es handelte sich also um einen Fluchgeist. Was hatte er nur vor? Wollte er mich ins kalte Wasser werfen oder mit mir zusammen diesen Fluch austreiben, wobei ich ehrlich gesagt nicht das Gefühl hatte, dass Letzteres der Fall gewesen war?! Zumal ich ohne eine Waffe schneller unter die Erde gebracht worden wäre, als es mir lieb war.
„Na schön", sinnierte ich aufgebend, „ich hoffe, es verläuft gut", versuchte ich mich kläglich selbst aufzubauen und reichte ihm ein Stück Birne, die er entgegennahm.
„Natürlich", grinste er mir zu, „ich habe da auch noch etwas für dich", begann er, worauf ich neugierig wurde.
Gespannt schaute ich ihm dabei zu, wie er mit seiner freien Hand etwas Kleines aus seiner Hosentasche heraus kramte und mir seine geballte Faust hinhielt. Fragend streckte ich meine offene Hand unter diese und bekam sogleich eine kleine weiße Kapsel überreicht. Um sie herum waberte die hellblaue Fluchenergie, wie ich es bereits beobachten konnte, wenn Megumi seine Shikigami hinauf beschworen hatte.
„Was ist das?", wollte ich meine Neugierde befriedigt bekommen.
„Unser Gespräch vom letzten Mal hat mich zum Nachdenken angeregt. Ich habe die letzten Tage ein wenig herumgebastelt und habe hier drin einen Teil meiner Fluchkraft extrahiert. Du bist heute mein Versuchskaninchen und darfst es testen. Wenn du diese Kapsel öffnest, kannst du meinen weißen Höllenhund hinauf beschwören. Wichtig hierbei ist zu beachten, dass du diese im Schatten öffnest. Am besten auf den Boden und ziehst mit deinem Finger meine Form nach, die ich benutze, um sie zu rufen. Wenn meine Rechnung aufgeht, kann er weder angreifen noch ist er tatsächlich physisch da, aber er kann dir dabei helfen, nach Hinweisen und Fluchgeistern zu suchen. Nebenbei leistet er dir Gesellschaft. Und keine Sorge – sollte er angegriffen werden, verschwindet er über die Schattentechnik zurück und verliert nichts an seiner Fluchenergie. Also praktisch gesehen, funktioniert er wie du", schmunzelte er und bezog sich auf meine nicht vorhandenen Fluchkräfte, was mich auflachen ließ.
„Mega", bewunderte ich erfreut, „ich werde dir dann berichten, ob es geklappt hat. Danke dir, Megumi", und ließ unsere Halbumarmung zu einer vollen Umarmung werden.
Das hatte mir wirklich viel bedeutet und dass ihn meine Spinnerei über diese Fluchkräfte und den Kram zum Nachdenken angeregt hatte, ließ mich erfreuen. Nun war ich richtig gespannt und aufgeregt darüber, ob es auch geklappt hatte, was ich innig gehofft hatte. So war ich zumindest nicht vollends alleine mit dem Scheiß, denn warum sonst hatte er mir diese Kapsel präpariert?
„Das ist doch nur eine Kleinigkeit", ließ er mich verlegen wissen.
„Nein, ist es nicht. Jedenfalls für mich", verriet ich ehrlich und löste mich wieder ein Stück von ihm, „so bin ich wenigstens nicht vollkommen alleine, denn ich glaube nicht, dass ich mit Satoru zusammen dieses Training absolvieren werde."
„Ich darf immer noch nichts sagen", pfiff er gespielt unwissend und biss ein Stück der Birne ab, „er sollte im Übrigen nicht unbedingt davon Wind mitbekommen, ok?"
„Ja, ja. Ich weiß", spielte ich unschuldig mit, „ich werde mich dann mal meinem Specialtraining widmen. Er muss bestimmt schon draußen auf mich warten."
Meine etwas Angst nehmende Kapsel steckte ich mir in die Tasche des Rocks, worin ich auch Satoru's Augenbinde verstaut hatte. Musste ich nachher nur darauf aufpassen, diese vorsichtig herauszuholen, damit er mein kleines Hilfsmittelchen nicht zu Gesicht bekam.
„Bestimmt. Wir sehen uns später, Mayu. Und pass auf dich auf."
„Natürlich. Bis später und danke dir nochmals, Megumi."
„Nicht dafür."
So ließ ich nun das mich gut behütete Wohnheim hinter mir und ging hinaus. Sogleich wurde ich von den beinahe heißen Sonnenstrahlen herzlichst umarmt, die ich bereits vorhin in mein Zimmer hineinschienen ließ. Nicht mal ein Mini-Wölkchen hätte der makellose blaue Himmel heute geduldet. Hätten wir nicht eigentlich heute ins Schwimmbad gehen können? Da gab es doch sicherlich genug Fluchgeister zum Verscheuchen...
Nun ja – ich kam letztlich wohl nicht drumherum und steuerte geradewegs die beiden auf mich wartenden Herrschaften an, bestehend aus unserem Assistenzaufseher – Kiyotaka, der neben dem schwarzen Wagen stand und meinem Lehrer Satoru.
„Guten Morgen", begrüßte ich beide zuvorkommend und verbeugte mich mehr vor dem im schwarzen Anzug gekleideten Kiyotaka, als vor Satoru, der nach wie vor nicht sonderlich viel von Formalitäten hielt.
„Guten Morgen, Mayu", begrüßte mich genauso verbeugender Kiyotaka stets freundlich und öffnete bereits die Fahrertür.
„Guten Morgen, mein Lehrling", freute sich Satoru überschwänglich, gewiss aber distanziert.
Umgehend drehte sich mein Magen wieder auf links und schien sich dazu entscheiden zu wollen, mal wieder flau zu werden. Nein, nicht wegen des vermeintlichen Spezialtrainings, sondern mehr der Kälte wegen, die zwischen uns geherrscht hatte.
Auch wenn es mir nur Recht kam, denn ich wollte jetzt nicht unbedingt vor unserem Assistenten rumknutschen, auch wenn das Kiyotaka schätzungsweise nicht die Bohne interessiert hätte, aber mulmig wurde mir dabei schon. Wir allen kannten doch diesen Morgen danach, wenn etwas Intimität zwischen zwei gekommen war.
„... -Ann können wir jetzt losfahren", holte mich die freudige Aufforderung Satour's von meiner aufschlagenden Gedankenwurzel und zerrte mich wieder ins Hier und Jetzt.
Widerwillig stieg ich also zusammen mit den anderen beiden in das aufgeheizte Auto und wünschte mir gerade nichts Lieberes, als mich in Luft aufzulösen.
Sogleich legte mir Satoru seine Hand in den Nacken und massierte mit seinen Fingern meine stramme Hautpartie, worauf ich ihm einen wehleidigen Blick zuwarf. Er musste sicherlich gemerkt haben, dass ich nicht unbedingt die Entspannteste war und das auch nicht genießen konnte. Es hatte ja auch nicht dafür gedient, sondern hauptsächlich dafür, dass er zur Kenntnis genommen hatte, dass er meine Angespanntheit deutlich vernommen hatte.
„Gibt es irgendwelche Neuigkeiten, Kiyotaka?", fragte er und entzog mir wieder seine Hand.
Wenigstens eine kleine Berührung von ihm, welche mir einen Hauch der Unsicherheit wegnahm.
Und somit entschwand ich gedanklich wieder in meinen Gedankenbaum und schlug mal wieder ordentlich große Wurzeln. Ich stellte mir allerlei Fragen zu meinem gleich bekanntmachenden Training oder auch Fluch.
Angekommen an einem stillgelegten Einkaufszentrum, welches einer Geisterstadt glich, hielt Kiyotaka den Wagen an. Über die kurze Fahrt hinweg sprachen die Jungs über Belanglosigkeiten und über Neuigkeiten, die nichts Weltbewegendes mit sich gebracht hatten, was in unserem Alltag schon eher zu einer guten Nachricht gehört hatte.
So zumindest die Gesprächsfitzelchen, die ich manchmal mitbekommen hatte, denn gänzlich verfolgt hatte ich bloß nur meine innere Kopfstimme, mit der ich mich regsam unterhalten hatte.
„Da wären wir", unterrichtete uns Kiyotaka's ruhige Stimme und schaute über den Rückspiegel zu mir.
Ich konnte nicht umhin und warf dem Brillenträger ein unbehagliches Halbgrinsen zu.
Er wusste doch bestimmt auch schon, was mir jetzt blüht...
„Bleib auf Abruf bereit, Kiyotaka", befahl ihm Satoru und stieg bereits aus dem Wagen aus.
„Sehr wohl", nahm er gewissenhaft zur Kenntnis, ehe ich auch ausstieg.
In Empfang genommen wurde ich von einem Fleckchen Tokios, von welchem man wirklich ausgehen konnte, dass hier so schnell keiner mehr herziehen wollte. Die Fassaden der wenigen Häuser, die dort im nahen Umkreis standen, splitterten den Putz förmlich von sich ab, als würden sie sich davon befreien wollen, bis hin zu kaputten und zersprungenen Fensterscheiben.
Nicht zu vergessen die unzähligen bunten Graffitis, die dem heruntergekommenen Viertel noch ein wenig Buntes verliehen, wohingegen die Straßen einiges an Müll beherbergten. Das kannte man so auch noch nicht. War es doch üblich gewesen, dass die Straßen Tokios überaus sauber und gepflegt erschienen. Hier herrschte das Gegenteil.
Während ich mir die Gegend zur Genüge unter die Lupe nahm, hatte Satoru bereits einen langen Koffer aus dem Kofferraum geholt und somit Kiyotaka erlaubt wegzufahren, was meine Aufmerksamkeit wieder umgehend auf meinen Lehrer lenkte, den ich neugierig musterte. Jedoch fiel mir dabei das im Hintergrund stehende Einkaufszentrum auf, welches mir augenblicklich den Atem raubte.
Das war nicht wirklich das, was er für mich bereithielt, oder?!
Mit aufsteigender Angst schaute ich an dem hohen Gebäude, welches vier Stockwerke in die Höhe ragte, rauf und ab. Es waberte unsagbar gefährlich aus den teils zersprungenen Fenstern schwarz-violett heraus. Die verfluchte Präsenz legte sich beschützend um das Gebäude und fauchte schon förmlich nach uns und unserem Auftreten. Fehlte nur noch, dass sie ihre ellenlangen Krallen nach uns ausfuhr, um uns auch ja wieder zu vertreiben.
Die Sache wurde mir mit einem Mal um Längen ungeheuerlicher. Er hatte doch nicht allen Ernstes vorgehabt, mich da durch zu hetzen, oder?! Mir waren derartige Orte nicht unbekannt – hatte sie aber bisher immer mit Megumi oder auch Kento zusammen durchstreift oder eben einfach vermieden.
Argwöhnisch inspizierte ich nun den Koffer in seinen Händen, von jenem eine unheilvolle Aura ausging, die fast mit jener die des Einkaufszentrums zu vergleichen war.
„Jetzt beginnen wir unser Vergnügen, Mayu."
Ohne jegliche Emotion auf meinem Gesicht blickte ich auf seine Augenpartie, die von seiner Augenbinde bedeckt war.
Gespannt schaute ich ihm dabei zu, wie er aus dem Koffer eine lange silberne Sense herausholte, welche von rubinroten Ornamenten verziert wurde. Diese hatte nicht, wie man sie für typische Sensen kannte, die gebogene Klinge, sondern zwei unterschiedlich große Klingen, die spitz zueinander liefen.
Wenn er es nicht gleich selbst erwähnte, kam ich auch ohne seine Anmerkung darauf, dass in dieser die verheerende Fluchkraft eines Sonderfluches tobte. Das wiederum verhieß nichts Gutes, denn Satoru bedurfte keine Waffe und ich hingegen würde ohne elendig sterben.
„Unser? Ich korrigiere. Meins."
„Genau so ist es", erfreute er sich über meine Schlussfolgerung und streckte mir das kalte Stahl entgegen.
Na bravo.
Ich musste nicht erwähnen, dass ich am liebsten über Nacht abgehauen wäre, oder? Hoffentlich kam ich da lebend wieder raus... Zögerlich umschloss ich diese überaus gefährliche Waffe, stellte mit Erstaunen fest, wie leicht sie doch war und musterte die Ornamente genauer, aus denen ich keineswegs schlauer wurde. Vielleicht hatten sie auch gar keine Bedeutung gehabt, aber sie waren überaus hübsch anzusehen. Und ein klein wenig stolz war ich auch, dass ich diese nun benutzen durfte.
„Ich möchte von dir, dass du den Fluchgeist des 3. Ranges dort drin austreibst. In dieser Waffe befindet sich bereits die Fluchkraft eines Sonderranges. Damit ist es also ein Kinderspiel. Allerdings erwarte ich von dir, dass du diese nur einsetzt, wenn du wirklich aus eigener Kraft keine Fluchenergie auftreiben kannst."
Ich zog die Augenbraue in die Höhe, ehe ich fast schon verärgert meine Stirn runzelte. Ich bekam so eine hübsche Waffe und durfte sie dann doch nicht benutzen? Scheinbar hatte er wohl vergessen, dass da nichts in mir herumgeisterte bis auf eine immense Angst, oder?!
„Ich weiß genau, was du jetzt darauf erwidern möchtest", kam er mir zuvor, „aber, wie heißt es doch so schön? Not macht erfinderisch und erfordert besondere Maßnahmen. Wenn du wie dieses Mal tatsächlich alleine in Not steckst, könnte es hoffentlich passieren, dass sich deine Fluchkraft endlich entfacht."
Achso?! Darauf zielte er also ab? Das war also sein sogenanntes ins kalte Wasser schmeißen? Eine Sense in die Hand drücken und einfach drauflos stürmen? Na, der hatte ja gut reden, der Kerl.
„Du weißt aber schon, dass das vor vier Monaten dieselbe Situation war, oder?", vermochte ich ihn an die vergangene Situation erinnern, in der er mich zusammen mit Megumi gerettet hatte.
„Natürlich, aber Mayu, es liegen inzwischen vier Monate und eine Reihe an vielen Trainingseinheiten und eine Menge an Wissen dazwischen."
„Ok", begann ich misstrauisch und musste mich ohnehin damit abfinden, „und wenn dein Plan nicht so aufgeht, wie du dir das vorstellst und da noch weitere Fluchgeister umherirren und ich da drin abkratzen sollte?!", ließ ich ihn an meiner Angst teilhaben.
Schließlich hatte keiner von uns jemals einen Fluchgeisterplan zur Hand gehabt.
„Das wird nicht passieren, Mayu. Ich lass dich doch nicht geradewegs in den Tod laufen. Sollte es zu brenzlig werden, dann rufst du laut, Kirsche! Ich bleibe hier am Eingang draußen stehen und komme natürlich auf dein Rufen sofort zu dir."
Kirsche?! Wie kam er denn auf Kirsche? Am liebsten hätte ich das hinterfragt, aber gewiss nicht zu diesem Zeitpunkt.
„Keine Sekunde länger!", bat ich scharf, „schon gar keine Millisekunde."
Er grinste schmunzelnd auf, „so schnell kannst du gar nicht gucken", bezog er sich insgeheim auf seine Teleportation, vor der ich noch ahnungslos war.
„Dein Wort in Gottesohren", spielte ich auf mein streng religiöses Elternhaus an.
Na schön. Dann hieß es also die Arschbacken zusammenzukneifen und diesem Ungeziefer da drin den Gar auszumachen. Blieb zu hoffen, dass es nicht umgekehrt war.
„Dann gehe ich mal mein Tier entfesseln", seufzte ich halb belustigt wie auch entmutigt aus und lief schon in Richtung Einkaufseingang, „nämlich meinen Angsthasen."
„Viel Glück", lachte er mir lauter in den Rücken.