Kaum war das Grab aus der tiefen Grube gehoben, kam das darunterliegende blutige Array zum Vorschein. Im Zentrum des Arrays lag eine Strohpuppe, an der ein Talisman befestigt war, auf dem 'Yan' stand. Um den Kopf der Puppe war eine einzelne Haarsträhne gewickelt. Song Yan sprang in die Grube und untersuchte das Array genau – es gab keine Auslöse- oder Warnzauber darauf, das letzte ihrer Bedenken schwand dahin. Sie spreizte ihre Finger und ihre Handfläche bedeckte sich mit einem schwarzen Nebel, als stünde sie in Flammen.
Mit einer Handbewegung durchbrach sie das Array, welches verhindert hatte, dass sie die Puppe erreichen konnte; die darum kreisende Yin-Energie knisterte und zischte, bevor sie sich in einem Rauchschwall auflöste. Dann betrat Song Yan lässig den blutig gezeichneten Kreis und hob die Puppe auf. Sie begutachtete sie eingehend und seufzte fast erleichtert auf, als sie erkannte, dass ihr Glück bald zu ihr zurückkehren würde, denn sie lebte noch. "Erlösen!" Der Ring an ihrem Finger leuchtete auf, als er einen dünnen Strahl blauer Flammen aussandte und die Puppe zu Asche verbrannte.
Song Yan betrachtete die verbrannten Reste der Puppe, während sich ihre Lippen zu einem spöttischen Grinsen verzogen. 'Ein so kleines Ding, und doch hat es ihre Mutter verschlungen und wäre beinahe auch ihr zum Verhängnis geworden.'
Um ihren Frust abzulassen, trat sie auf die verbrannten Überreste. Es war nur der erste Schritt. Nach und nach würde sie alles zerstören, was Song Lan lieb und teuer war, bis diese keine andere Wahl haben würde, als wie eine Straßenratte zu leben. Aber Song Lan würde wohl eher sterben, als in Armut zu leben, dachte Song Yan. Sehr gut, das war auch in Ordnung – wenn sie stirbt, wird sie daran denken, ihre dunkle Seele einzufangen und zu zerteilen, sodass sie niemals wiedergeboren werden kann… dieses Schicksal hatte Song Lan wahrlich verdient.
Nachdem sie das Array, das von ihrem Glück zehrte, deaktiviert hatte, verließ Song Yan die Grube und brachte alles wieder in den ursprünglichen Zustand zurück, so dass nichts amiss fiel. Vor der Welt gab sie sich liebenswert und süß, jedoch verbarg sie im Dunkeln ihre wahre Natur, wie eine Schlange, die ihre Beute erstickt, ohne dass diese jemals erfährt, wer ihnen langsam die Lebenskraft entzieht.
Es wäre töricht, ihre Pläne durchscheinen zu lassen, denn sie war noch nicht stark genug, um gegen Song Lan anzutreten. Ihre liebe Halbschwester hatte nicht nur diesen geheimnisvollen Meister, sondern auch ihren Vater auf ihrer Seite. Die Familie Song war vielleicht nichts im Vergleich zur Familie Fu, doch für Song Yan, die allein und ohne Verbündete dastand, waren sie eine ernstzunehmende Macht. Jetzt galt es, nicht nur ihre Stärke, sondern auch ihr Bankkonto zu vergrößern, etwas, an dem es ihr mangelte.
"Ist es vollbracht?", fragte Fang Yanli, als sie sah, wie Song Yan das Grab versiegelte.
"Es ist getan", bestätigte Song Yan und wandte sich dem Grab zu, das das Array verbarg, welches das Glück ihrer Mutter aussaugte. Sie atmete zitternd ein und schritt darauf zu, doch je näher sie kam, desto mehr wurde sie zurückgestoßen. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft sie abwehren. Song Yan biss die Zähne zusammen und stemmte sich mit ihren Fersen in den Boden, als sie sich mühsam dem Grab näherte. "Das fühlt sich nicht wie ein Schutzzauber an."Fang Yanli roch die Luft, während sie zugab: "Du hast Recht. Das fühlt sich mehr nach..."
"einem Grollfeld an." presste Song Yan hervor.
Eine so schwere Yin-Energie stieg aus dem Grab empor, unter dem das Feld versteckt lag. Solch eine Energie hatte Song Yan nur an Orten gespürt, an denen die Geister von Menschen umherirrten, die zu Unrecht ermordet worden waren. Diejenigen, die einen ungerechtfertigten Tod erlitten und keine Gerechtigkeit erhalten hatten, trugen immer einen tiefen Groll in ihren Herzen. Anstatt ins Jenseits überzugehen, erschufen diese Seelen ein Feld um den Bereich ihres Todes oder der Unterdrückung - diese Orte wurden später zu Grollfeldern.
Und wer auch immer mit einem Grollfeld in Kontakt kam, wurde von dem Geist gezeichnet, der die Person, die das Feld betrat, nicht ruhen ließ und sie verfolgte, bis sie starb.
" Werden wir von deiner Mutter verfolgt werden? Ich glaube nicht, dass du die Seele deiner Mutter ernten kannst", sagte Fang Yanli besorgt. Obwohl sie ein Geist war, lief ihr ein Schauer über den Rücken, als sie sich dem Grollfeld näherte. Ein Groll wie dieser bedeutete, dass der Tod von Song Yans Mutter nicht nur grausam, sondern auch erschreckend war!
Song Yan war sich dessen ebenfalls bewusst, sie beobachtete die dunklen Schleier aus Miasma, die sie zurückdrängten, und fühlte, wie ihr Herz bei jeder zurückweisenden Yin-Welle immer kälter wurde. Wie hatten sie nur ihre Mutter umgebracht? Dieses... dieses Leid trug nicht nur den Unwillen, den ihre Mutter im Herzen getragen hatte, sondern auch das Versprechen von Vergeltung und Rache. Ihre Mutter war eine gütige Frau, deren Lächeln nichts als Wärme verströmte. Eine Frau wie sie bis zu diesem Punkt zu treiben... Song Yans Nase kräuselte sich vor Bitterkeit, als eine weitere Welle der Wut sie überkam und sie einige Schritte zurückwarf.
"Chu Lian, ich werde dir das niemals verzeihen", zischte eine heisere Stimme, die ihr eine Gänsehaut über die Haut jagte. Nicht aus Angst, sondern weil diese Stimme vom Grund des Grabes kam; Furcht überkam sie nicht, sondern Entsetzen. Diese Stimme... wenn sie aus dem Grund des Grabes kam, dann -
"Dann haben sie ihre Seele in zwei Hälften geteilt."