"Hey, schau mal, wer da ist!" Auf die laute Stimme folgte ein Arm, der sich über Ren Zexis Schultern legte. "Es ist der melancholische Prinz unserer S-Hochschule! Lange nicht gesehen! Wo warst du in den Winterferien? In Dubai? Finnland? Oder auf den Malediven?"
Ren Zexi schnalzte mit der Zunge und schüttelte Huang Zhihes Hände ab. Sein Gesichtsausdruck war kühl und distanziert, ganz anders als wenn er mit Lu Yizhou zusammen war. "Denkst du etwa, ich bin wie du? Die Firma hatte viel zu tun zum Jahresende, natürlich musste ich Onkel Lu helfen. Wie könnte ich ihn einfach so allein lassen?"
Huang Zhihe schüttelte mitleidig den Kopf, doch sein Blick war voller Schadenfreude. "Schau dir diesen verliebten Narren an. Er hat deine Gefühle immer noch nicht bemerkt, obwohl du so offensichtlich bist? Wie dicht ist er denn?"
"Hau ab!" knurrte Ren Zexi und stapfte davon, ließ Huang Zhihe zurück. Er wollte niemandem - nicht einmal Huang Zhihe - verraten, dass Lu Yizhou seine Gefühle nicht nur zur Kenntnis genommen hatte, sondern sie möglicherweise sogar erwiderte, nachdem er bedachte, wie dieser Mann ihn heute Morgen ermutigt hatte. Diese Ehrfurcht und Ungläubigkeit wollte er noch eine Weile für sich behalten!
Die S High war die renommierte Schule des Landes, die seit mindestens einem Jahrhundert bestand. Sie hatte nicht nur viele Talente hervorgebracht, die jetzt wichtige Positionen in der Regierung innehielten, auch das Gebäude war sehr antik, elegant und weitläufig. Aus der Ferne sah es aus wie eine riesige U-förmige Villa. Es war die Traumschule jedes Schülers und auch der Ort, an dem die wohlhabenden jungen Erben und Erbinnen studierten.
Beim Betreten des Tors spürte Ren Zexi, wie zahlreiche Blicke auf ihn und Huang Zhihe fielen, vor allem von Mädchen, deren Augen neugierig glänzten. "Das ist deine Schuld," murmelte er Huang Zhihe mit einem Seufzer zu. "Du fällst zu sehr auf. Geh ein bisschen weg von mir."
Huang Zhihe kicherte und statt sich zu entfernen, legte er locker seine Arme um Ren Zexi, was ihnen ein paar quietschende und überraschte Ausrufe aus der Nähe einbrachte. "Schau genau hin. Wessen Schuld ist das? Du bist der Berühmte, ok? Junger Meister Ren?"
Ren Zexi brummte und ignorierte Huang Zhihe daraufhin offensichtlich.
Dieser 170 cm große, extrovertierte und männlich attraktive Teenager war wohl Ren Zexis einziger Freund. Sie hatten sich vor acht Jahren auf einer Dinnerparty kennengelernt, zu der Lu Yizhou ihn mitgebracht hatte. In jenem Jahr gab es ein großes Projekt zwischen der Lu Group und der Huang Pharmaceutical Company und da die Erwachsenen mit ihren eigenen Geschäften beschäftigt waren, wurden Ren Zexi und Huang Zhihe - die zufällig etwa gleich alt waren - aufgefordert, sich selbst zu amüsieren. So begannen die beiden Jungen zusammen zu spielen. Kurz gesagt, sie stellten fest, dass sie sich miteinander wohl fühlten, und ohne es zu wissen, hatte die Freundschaft bis heute gehalten.
Huang Zhihe war auch die erste und einzige Person, die seine Gefühle für Lu Yizhou entdeckt hatte. Seufz... Obwohl dieser Schlingel entspannt und sonnig aussah, war er in Wirklichkeit sehr scharfsinnig und aufmerksam. Huang Zhihe war auch derjenige, der ihm half, aus dem Morast der Selbstvorwürfe und Schuldgefühle herauszukommen.
Als Ren Zexi das erste Mal erkannte, dass seine sexuelle Orientierung von der Norm abwich und darüber hinaus das Objekt seiner unmoralischen Begierde ausgerechnet die Person war, die ihn großgezogen hatte, litt er für längere Zeit unter Depressionen und Selbstverleugnung.
Wäre Huang Zhihe nicht gewesen, hätte er sich vielleicht nie getraut, seine Gefühle anzuerkennen. Also... trotz allem war Huang Zhihe, auch wenn er nervig und laut war, ein sehr guter Freund von ihm.
"Übrigens," sagte Huang Zhihe. "Hast du schon von dem neuen System gehört, das heute eingeführt wird?"
"Welches System?"
"Das hier", er deutete auf das goldene Emblem in Form eines Flügels, das an den Knopf seines Kragens gekettet war. "Es wird ab heute endlich nützlich sein. Wie du vielleicht weißt, ist unsere Schule ursprünglich in eine Sonderklasse und eine normale Klasse unterteilt. Sonderklasse mit goldenem Emblem - das sind Leute wie du und ich, die ..." Er räusperte sich und machte eine Geste, die Geld symbolisierte. "Die normale Klasse ist für diejenigen, die durch Stipendien aufgenommen wurden. Ich habe gehört, dass der Direktor die Klassen endlich auflöst, sodass wir jetzt mit den Schülern der Normalklasse gemischt werden." Er knirschte verärgert mit den Zähnen. "Dieser alte Mann macht alles so heimlich, dass nicht einmal mein Vater etwas davon weiß! Jetzt ist alles schon zu spät! Und was ist mit dir? Hast du etwas von CEO Lu gehört?"Ren Zexis Gedanken wanderten automatisch zu dem Gespräch zurück, das er zuvor mit Lu Yizhou geführt hatte.
Bezog sich dieses Gespräch darüber, dass er sich anderen Menschen nicht unterlegen fühlen sollte, auf diese Situation? Dachte jener Mann etwa, Ren Zexi ließe sich von einigen Stipendiaten entmutigen? Ein dünnes Lächeln zeichnete sich auf Ren Zexis Lippen ab. Was sollte er tun? Wie konnte Lu Yizhou nur so entzückend sein? Er hätte diesen Mann schon früher küssen sollen, anstatt ihm in die Nase zu beißen...
„Hallo? Erde an Ren Zexi~" Huang Zhihe wedelte mit der Hand vor Ren Zexis Gesicht. „Woran denkst du, dass du so dumm lächelst? Pass auf, deine Fans könnten dir deinen Titel als melancholischer Prinz aberkennen, wenn sie dich so sehen."
Ren Zexi wischte das Lächeln von seinem Gesicht und spottete: „Ich habe nie um diesen lächerlichen Titel gebeten."
„Ach, komm schon." Huang Zhihe hob spielerisch die Augenbrauen. „Mir ist aufgefallen, dass du vorhin sehr gut gelaunt warst. Ist etwas zwischen dir und deinem lieben CEO passiert?"
Ren Zexi bemühte sich, das Erröten zu unterdrücken, doch bei dem Gedanken an Lu Yizhou misslang ihm das stets. Er zog Huang Zhihe am Nacken zu sich herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, während sie zu ihrem neuen Klassenzimmer gingen.
***
Ein Seufzer der Erleichterung entwich Jing Xuehaos Lippen, als er das Klassenzimmer betrat und einige vertraute Gesichter sah. Es war das erste Mal, dass er das Gebäude der Sonderklasse der S-High betrat, und es war nervenaufreibend. Alles war mit Gold und Jade verziert; es kam ihm vor, als würde er den Palast des Präsidenten betreten.
Auf dem Weg dorthin spürte er die Blicke auf sich. Zuerst bewunderten die Mädchen sein Gesicht, aber sobald sie nach unten sahen und kein goldenes Emblem auf seiner Brust entdeckten, wandten sie sich sofort ab und schüttelten mitleidig den Kopf. Jing Xuehao fühlte sich furchtbar, als wäre sein Wert nur durch ein kleines Emblem bestimmt.
„Oh, da ist unser Spitzenschüler!" Der Zweitplatzierte der Normalklasse — Guang Li — rief. „Hier, hier!" Er flüsterte aufgeregt. „Hast du dich auf dem Weg hierher verlaufen? Oh mein Gott, es ist so verdammt luxuriös. Wie es sich für ein Gebäude der Sonderklasse gehört! Hast du gesehen, sie haben sogar gratis Wassererhitzer und Aufzüge!"
Jing Xuehao zwang sich zu einem Lächeln, folgte ihm aber innerlich verfluchte er Guang Li dafür, dass er so peinlich war! Sah er denn nicht, dass die Schüler der Sonderklasse sie spöttisch musterten?
Jing Xuehao wollte wirklich so tun, als würde er diesen streberischen, brillentragenden Jungen nicht erkennen, aber er konnte es nicht. Außer Guang Li kannte er nur einige wenige Schüler aus der Normalklasse. Früher hatte er es nicht einmal für nötig gehalten, sie anzusprechen, weil er es unter seiner Würde fand, sich mit diesen armen, schüchternen und ängstlichen Leuten anzufreunden.
Wenn er Guang Li jedoch verließ, würde er völlig von Schülern der Sonderklasse umgeben sein. Allein der Gedanke, sie würden ihn anstarren, als wäre er ein Affe im Zirkus, ließ Jing Xuehaos Haut kribbeln.
Guang Li ballte aufgeregt die Fäuste. „Der Direktor ist so freundlich, uns in der Sonderklasse unterzubringen. Diskriminierung ist eine schreckliche Sache, und das neue System gefällt mir sehr. Ich hoffe, ich komme mit allen klar, aber es scheint, als wäre unsere Anwesenheit nicht wirklich willkommen, nicht wahr, Jing Xuehao?"
„Ja...", zuckten die Mundwinkel von Jing Xuehao. Konnte Guang Li nicht einfach den Mund halten?! Verstand er nicht? Wenn Jing Xuehao selbst ein Schüler der Sonderklasse wäre, würde er sich auch nicht mit den Bettlern aus der Normalklasse abgeben wollen!
Guang Li seufzte, nahm seine Brille ab und wischte sie mit dem Saum seines Hemdes ab. „Es ist so schade. Es sieht so aus, als müssten wir hart arbeiten, um dazu zu gehören..."Ein leises Geräusch kam von der Tür her, und fast alle Mädchen - sogar die Jungen - erhoben sich in freudiger Erwartung. "Es ist der junge Meister Ren! Er ist zusammen mit dem jungen Meister Huang gekommen?! Oh mein Herr, danke dir für deinen Segen an unserem schrecklichen ersten Tag!"
"Der junge Meister Ren ist gekommen? Und das auch noch mit dem jungen Meister Huang?!"
Die beiden Namen, junger Meister Ren und junger Meister Huang, wurden in jedem Satz wiederholt. Jing Xuehao reckte seinen Hals, um einen Blick zu erhaschen. Waren sie nur reiche junge Meister? Was für ein Aufruhr.
"Junger Meister Ren? Junger Meister Huang? Wer sind die denn?" Guang Li fragte laut und deutlich. Ähnlich verwirrt, aber auch fasziniert blickten alle Schüler der Normalklasse.
"Hmph, natürlich kennst du sie nicht, bei deinem Status." Ein übermäßig aufgeregtes Mädchen, das nahe Guang Li saß, hörte seine Frage und drehte sich zu ihm um, schnippisch mit ihren Haaren spielend. "Auf einen Blick wirst du sie erkennen, sie sind schließlich unser S Highs Melancholischer Prinz und Sonnenkaiser! Ihr solltet nur wissen, dass sie in einer Liga spielen, an der ihr niemals teilnehmen werdet."
Melancholischer Prinz? Sonnenkaiser? Was für lächerliche Titel waren das? Jing Xuehao hätte fast gelacht, als er das hörte, aber das Lachen blieb ihm im Hals stecken, als sein Blick auf die zwei Personen fiel, die gerade den Raum betraten.
Sie schritten lässig ein, ohne den Aufruhr zu beachten, den sie ausgelöst hatten, und vertieft in ihr Gespräch. Ihre bloße Anwesenheit veränderte augenscheinlich die Atmosphäre im Raum. Jing Xuehao konnte die Spannung spüren und endlich begriff er auch warum.
Sie trugen zwar die gleiche gewöhnliche Schuluniform, aber an ihnen wirkte sie, als wäre sie speziell auf Maß geschneidert worden. Zudem hatten sie eine Ausstrahlung, die unwillkürlich Menschen anzog. Besonders der Kleinere mit den dunklen, fluffigen Haaren hatte eine Art von Eleganz in seinen Bewegungen, die Autorität verlangte. Sobald er den Raum betrat, konnte man ihn einfach nicht übersehen.
Und sein Gesicht... Es war das erste Mal, dass Jing Xuehao einen so bezaubernden Teenager gesehen hatte. Seine mandelförmigen Augen schienen Sterne zu bergen; hell, geheimnisvoll und tiefgründig. Jede seiner Bewegungen – sogar sein Starren – war äußerst eleganzvoll. Kein Wunder, dass die Mädchen verrückt nach ihm waren.
"Junger Meister Ren, junger Meister Huang, guten Morgen! Wie waren eure Winterferien?"
Der Größere der beiden lächelte breit und erfrischend. "Sehr spannend. Ich habe meine Zeit in Indonesien verbracht, das Land ist wunderschön und das Essen köstlich! Was den jungen Meister Ren betrifft..." Er schüttelte entnervt den Kopf. "Lasst das, er war mit Arbeit beschäftigt."
Kaum hatten sie sich hingesetzt, umschwärmte sie bereits eine Menschenmenge.
"Cool! Ich plane auch, nach den Zwischenprüfungen Indonesien zu besuchen! Kann der junge Meister Huang mir einige Orte empfehlen?"
"Young Master Ren hat das Geschäft seiner Familie unterstützt? Das ist wirklich bewundernswert! Mein Vater hat mir immer gesagt, ich solle mir ein Beispiel an Young Master Ren nehmen. Er ist in jeder Hinsicht talentiert, ich kann da einfach nicht mithalten!"
"Weißt du, ich habe überlegt, mir nächsten Monat zu meinem Geburtstag dieses limitierte Auto zu kaufen. Was meinst du? Oder wäre es besser, eine neue Villa zu kaufen?"
"Junger Meister Huang..."
"Junger Meister Ren..."
Ren Zexi zwickte Huang Zhihe diskret unter dem Tisch in den Oberschenkel, und der ließ einen überraschten Laut hören.
"Was ist los, junger Meister Huang?"
"Nichts... gar nichts." Huang Zhihe lachte und verteilte die Menge. "Die Klingel läutet bald. Setzt euch." Als der Raum sich geleert hatte, wandte er sich zu Ren Zexi, rieb sich den Oberschenkel und verzog das Gesicht. "Zufrieden jetzt? Kannst du mir das nicht einfach das nächste Mal sagen? Solltest du nicht besser drauf sein, nachdem du mit deiner Liebsten gekuschelt hast?"
"Sei still." Ren Zexi spürte erneut, wie er rot anlief. Er hätte es Huang Zhihe nicht so schnell erzählen sollen. Ständig wurde er jetzt damit aufgezogen! Seufzend stopfte er sich die Ohren mit Airpods zu und ließ sich auf die Tischplatte sinken, Huang Zhihes Beschwerden ignorierend.
Weit hinter ihnen nahm Jing Xuehao die ganze Szene auf, seine Gefühle konnten nicht in Worte gefasst werden.
Eifersüchtig, ja, das war er. Schließlich war auch er gutaussehend und intelligent aufgewachsen. Selbst der Leiter des Waisenhauses hatte gesagt, dass er für Großes bestimmt sei, und er glaubte auch daran, es erreichen zu können.
Er sah keinen Unterschied zwischen sich und diesen beiden jungen Herren. Nein – er übertraf sie in jederlei Hinsicht: fleißiger, talentierter, bescheidener und lernwilliger. Das Einzige, was ihm fehlte, war... Status. Niemals zuvor hatte er sich so bewusst als Waise gefühlt. Nicht, bis er den Unterschied sah, den ihm dieser kostete.
Jing Xuehao ballte seine Fäuste. Eines Tages... schwor er sich, würde er ein höheres Niveau erreichen als alle hier! Wenn dieser Tag came, könnte er endlich auf sie herabschauen, mit denselben Augen, mit denen sie jetzt auf ihn herabsahen.
Bei seinem Leben, er schwor es!
.
.
.
A/N: Das goldene Emblem könnt ihr auf dem Moodboard sehen, das ich im Hilfskapitel "Liste der Bögen" gepostet habe.
Endlich kommen wir zur Haupthandlung. Die Confrontation steht kurz bevor~