Träumst du von der Außenwelt?
Das war ein Satz, den Alice sich nie hatte vorstellen können, je zu hören – nicht nach all dieser Zeit. Verführerische Worte, die Hoffnung weckten; eine Hoffnung, die sie nur in die Verzweiflung über ihre Gefangenschaft trieb.
Sie ballte die Fäuste und fragte sich, welchen Preis eine solche Vorstellung wohl haben könnte. Den Preis der Freiheit, nach der sie sich so lange gesehnt hatte.
"Also..." fragte er. "Möchtest du diese Hölle verlassen und sie gegen eine andere eintauschen?"
Sie nickte. Denn welche Hölle konnte schlimmer sein als die, die sie in den letzten zehn Jahren erlitten hatte?
In der Zwischenzeit betrachtete der rabenschwarz gekleidete Mann sie geduldig. Er konnte das Feuer in ihren Augen sehen, das bei dem Gedanken an Flucht lodernd brannte. Doch ihr Gesicht verriet nichts davon. Ihre Augen waren wirklich das Fenster zu ihrer Seele.
"Oder würdes t du lieber in diesem Raum eingesperrt bleiben?" setzte er hinzu, um sie anzuspornen.
Es war etwas in ihr, das ihn an die Vergangenheit erinnerte. Die Erinnerung an eine Frau voller Mut, die er einst gekannt hatte.
Er konnte diese gleiche Entschlossenheit in ihr sehen.
Als Alice merkte, dass ihre Hoffnung zu schwinden drohte, griff sie in Panik nach ihm. Sie erfasste seine Ärmel, biss sich auf die Lippe und öffnete schließlich den Mund.
"Ich will nicht bleiben... bitte," presste sie mühsam heraus. "Aber... ich weiß... ein Preis muss bezahlt werden."
Sie wollte ihre Gedanken klarer ausdrücken, aber es gab Grenzen in ihrem Vermögen zu sprechen. Alice durfte niemanden ansprechen, außer jenen, die an ihr zerrten, daher fiel es ihr schwer, die richtigen Wörter zu finden, um ihre Gedanken auszudrücken.
Der Mann blinzelte verdutzt, war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Die junge Frau vor ihm schien im frühen Erwachsenenalter zu sein, doch ihre Sprechweise war holprig und unzusammenhängend, ein Missverhältnis im Ton.
Er konnte erkennen, wie sehr sie sich mühte, ihre Gedanken zu vermitteln, doch es fehlten ihr die Wörter dafür. Ihr verzweifelter Blick hoffte darauf, dass er ihre innere Gedankenwelt verstehen würde.
Er ging in die Hocke und seufzte tief, bevor er langsam seine Hand hob.
Sie dachte, sie würde jetzt einen Schlag erhalten, weil sie sich an ihn klammerte, und wich zurück. Sie wollte ihren potenziellen Retter nicht beleidigen, wenn sie es vermeiden konnte.
"???"
"Ich wollte dir nur den Kopf tätscheln, aber ich vermute, das wäre in diesem Fall nicht angebracht," sagte der Mann und hob eine Augenbraue.
"Das ist jedoch in Ordnung. Es gibt ein altes Versprechen, das ich einst jemandem gegeben habe. Ehrlich gesagt, es ist ziemlich lästig. Also hoffe ich, dass jemand anderes mir helfen kann, es zu erfüllen. Ich möchte, dass du diese Person bist. Im Gegenzug werde ich dir einen Weg hier heraus zeigen. Aber es wird nicht einfach werden."
Alice nickte, ohne groß zu zögern. Sie hatte zehn lange Jahre nur am Gedanken an Rache festgehalten. So schnell würde sie nicht aufgeben.
Der Mann lächelte.
"Gut denn. Meine Bitte ist, dass du im Abgrund überleben sollst. Reise weiter, als je jemand zuvor gereist ist, durchwühle Schmutz und Blut, um die Wahrheit aufzudecken. Im Abgrund wirst du mir helfen, mein Versprechen einzulösen. Und im Abgrund wirst du finden, wonach du suchst - ob das Rache ist oder ein neues Leben," sagte er.
Seine Worte hielten sie einen Augenblick lang auf, bevor sie erneut nickte. Sie verstand vielleicht nicht ganz, welche Folgen ihre Zustimmung zu diesem Handel hatte, aber das spielte für sie keine Rolle.
Sie konnte es fast schmecken. Die Freiheit.
"Um sicherzustellen, dass du deinen Teil der Vereinbarung hältst, benötige ich noch eine Sache," fuhr er fort.
Alice sah ihn verwirrt an. Bevor sie fragen konnte, handelte der Mann.
"Der letzte Preis ist, dass ich ein Auge benötige," sagte er mit einem unheilvollen Lächeln.
Aus der Dunkelheit schnellte eine Klaue hervor und bevor Alice reagieren konnte, packte sie ihr rechtes Auge. Mit einer schnellen Bewegung riss sie ihren Augapfel heraus.
Der Schmerz kam für sie unerwartet, denn sie hatte nicht mit diesem plötzlichen Angriff gerechnet; es ließ sie panikartig zusammenzucken. Sie schrie jedoch nicht. Klauen griffen nach ihren Knöcheln und begannen, sie herunterzuziehen, während der Mann über die Szene kicherte.
"Wenn du im Abgrund ankommst, suche eine Frau namens Allura. Sie wird dein Leuchtfeuer sein. Ich weiß, wie sie ist – sie wird dich beschützen."
In diesem Moment verschwand das Licht aus Alices Welt. Die Schatten verschlangen sie und nur ein zerfetztes Halsband blieb zurück, das ihr die Freiheit aller dieser Jahre gestohlen hatte.
Allein im Raum stehend legte der Mann den Kopf zurück und seufzte. Bittersüße Erinnerungen an eine längst vergessene Zeit überfluteten seinen Geist, während er den Kopf schüttelte.
"Ich habe dem Mädchen das Auge gegeben, das es Allura ermöglichen wird, sie zu finden," lächelte er.
Als der Mann den Raum verließ, fand er sich in einem Flur wieder, der mit zerfetzten Kleidungsstücken und Blut übersät war. Sirenenartige rote Lichter flackerten unaufhörlich in den Gängen – alles Folge seiner eigenen Taten.
"Wir werden uns wiedersehen, sobald du im Abgrund ein Zuhause gefunden hast. Ich bin gespannt, wie Allura reagieren wird, wenn sie mich sieht," murmelte er freudenstrahlend, bevor er von dort verschwand.
###
Während sie durch die Dunkelheit fiel, hatte Alice das Gefühl, als würde sie im Meer versinken.Ihre Glieder fühlten sich an, als wären sie gefesselt und könnten sich durch den erdrückenden Druck um sie herum nicht mehr bewegen.
Keine Sicht, kein Ton, kein Gefühl. Sie konnte nichts fühlen.
Es war ein seltsames Gefühl, ziellos inmitten der Dunkelheit zu treiben. Aber es wirkte seltsam beruhigend auf sie. Es gab ihr einen Moment Zeit, um zu verdauen, was gerade geschehen war.
Sie war sich nicht sicher, ob sie immer noch träumte, ob dies nur ein Trick ihres Geistes war, um der grausamen Realität ihrer Situation zu entkommen. Ein Abtauchen in den Wahnsinn.
Aber wenn es kein Traum war, dann brannte ihr Herz vor Lebenswillen. Ihre Seele wollte sich dem alles verzehrenden Hass hingeben, der tief in Alices Herz für ihre Familie verborgen war. Ihre Freiheit war eine einmalige Chance, die sie um nichts in der Welt aufgeben wollte.
Entschlossen riss Alice in der Dunkelheit die Augen auf und blickte fest und konzentriert.
Sie streckte ihre Hand aus und krallte sich in den Schlamm, der sie umgab. Die dicke, zähflüssige Dunkelheit bahnte ihr den Weg nach oben, als ein schwacher Lichtschimmer die Schattenschichten durchbrechen konnte.
Jetzt, da der Ausgang in Sicht und ihre Freiheit zum Greifen nahe war, kletterte sie mit neuer Leidenschaft weiter. Mit einem lauten Platschen durchbrach ihre Hand die Oberfläche der Dunkelheit. Alice griff nach dem nächstgelegenen Gegenstand und hob ihren Körper aus dem zähen Wasser.
Als ihr Kopf die Oberfläche durchbrach, sog sie einen Schluck Luft ein, füllte ihre Lungen auf und ließ die Energie in ihren Körper zurückkehren.
Übelkeit brannte in ihrem Kopf, aber sie zwang sich, zuerst sicheres Land zu erreichen. Sie würde genug Zeit haben, der Müdigkeit zu erliegen, wenn ihr Leben nicht mehr vom Ertrinken im tiefen Wasser bedroht war.
Die seltsame Flüssigkeit klebte an ihr wie Leim und vernebelte ihr die Sicht. Alles, was Alice ausmachen konnte, war ein seltsamer Sandkörper. Er leuchtete in einem zweifachen Farbton aus Silber und Violett, anders als der strahlend goldene Sand, den er normalerweise hatte.
Sie ignorierte die Anomalie und ging bis zum Rand, bevor sie auf dem Sand zusammenbrach. Mit dem Gesicht zum Himmel öffnete sie die Augen und hoffte, den klaren blauen Himmel und die vorbeiziehenden Wolken ihrer Träume zu sehen, um den letzten Rest ihrer Vernunft wiederzubeleben und die Rückkehr in die Freiheit zu feiern. Aber alles, was sie sehen konnte, war ein seltsamer violetter Mond, umgeben von dunklen Wolken.
Doch sie war frei aus ihrem Gefängnis. Während sie sich in ihrer neu gefundenen Befreiung aus der Gefangenschaft sonnte, kehrte das Licht der Hoffnung in ihre Augen zurück, doch ihre Miene blieb eiskalt.
Es war eine Angewohnheit, die sie sich angewöhnt hatte, um sicherzustellen, dass sie sich nicht daran erfreuen konnten, sie leiden zu sehen. Selbst als sie ihr die Brust aufrissen, änderte sich ihre Miene nicht.
Wo bin ich?', dachte sie bei sich.
Der Mann, den sie im Zenia-Gefängnis getroffen hatte, sagte, er würde sie in den Abgrund schicken. War es das? Es kam ihr seltsam vor. Alice kannte nicht einmal den Namen des Mannes, und doch schuldete sie ihm mehr als das Leben.
Sie wischte sich etwas von der seltsamen Flüssigkeit ab, und ein nagendes Gefühl, das Alice nicht genau zuordnen konnte, pochte in ihrem Kopf. Sie schob den Gedanken beiseite und betrachtete ihr Spiegelbild in der tintigen und doch spiegelnden Flüssigkeit.
Dank des Mondlichts konnte sie ihr Gesicht einigermaßen erkennen. Die Flüssigkeit, mit der sie bedeckt war, reflektierte stark an der Oberfläche, trotz der undurchdringlichen Dunkelheit des Wassers in ihrer Nähe.
Das Erste, was Alice bemerkte, waren ihre Augen. Sie hatten jetzt eine leuchtende lilafarbene Farbe und ihr vermeintlich fehlendes rechtes Auge war nachgewachsen. Die rechte Sklera war schwarz gefärbt, die Pupille violett. Ihr Haar war durch jahrelange Vernachlässigung verwahrlost; die ursprüngliche dunkelbraune Farbe, typisch für ihre Familie, war nun von einem Mix aus Weiß und Dunkelviolett überlagert. Auf der rechten Seite, über dem verdunkelten Auge, dominierte das schneeweiße Haar, während die linke Seite violett schimmerte.
"War mein Auge nicht fort? Warum ist es nun heil?" fragte sich Alice, während sie ihr neu gewachsenes rechtes Auge studierte.
Ihre Betrachtungen waren jedoch nur von kurzer Dauer, denn plötzlich übergab sie sich und spuckte dieselbe schwarze Flüssigkeit aus, die auch den See füllte. Panik weitete ihre Augen, als die Flüssigkeit aus ihren Körperöffnungen floss. Es fühlte sich an, als würden ihre Eingeweide mit Klingen zerstückelt, bevor sie sich in diese Substanz verwandelten, die sich gewaltsam aus ihrem Körper drängte.
In dieser Panik wurde ihr klar, worin sie geschwommen war – in den Gewässern des Abgrunds. Seit dem Erscheinen des Abgrunds in ihrer Welt war das Wissen über seine bösartige Natur weit verbreitet und hatte sogar Eingang in den Lehrplan der Schulen gefunden. Selbst Kinder kannten die Gewässer des Abgrunds, die schwarzen Meere des dunklen Reiches.
Die Wasser des Abgrunds waren, ähnlich wie das Blut des Abgrunds, mit derselben bösartigen Energie kontaminiert, die jedes Wesen befleckte, das in den ausgehöhlten Schluchten des Abgrunds verweilte. Ein normaler Mensch, der mit diesem Wasser in Berührung kam, musste unter Quarantäne gestellt werden, um eine Mutation und die Ansteckung seiner Umgebung zu verhindern. Jeder, der das Pech hatte, von den Gewässern des Abgrunds überflutet zu werden oder schlimmer, vollständig einzutauchen, musste zusehen, wie sein gesamtes Wesen mutierte und sich in eine missgestaltete, blutrünstige Bestie verwandelte.
Selbst mit ihrer mutierten Resistenz konnte Alice diese Flüssigkeit nicht lange in ihrem Körper behalten. Zudem fehlte ihr das heilende Blut, das ihr Halsband zuvor injiziert hatte, um sie am Leben zu erhalten.
Sie zwang sich, möglichst viel von der Flüssigkeit auszuspucken und spürte, wie Blut aus ihrer Nase tropfte. Ihre Sicht verschwamm am Rand in einem Rot.
„Verdammt...", fluchte sie innerlich. Ihr Körper verlor an Kraft, und Alice brach in dem Haufen schwarzer Flüssigkeit zusammen, den sie gerade erbrochen hatte.
Sie wusste, dass der Abgrund aus mehreren Schichten bestand, jede davon gefüllt mit eigenen Gefahren, die sich weit über die Oberfläche erstreckten.
Mit einem Gefühl der Übelkeit, das sich durch ihren Kopf ausbreitete, und einer Schwäche, die sie überkam, sank Alice auf den silbernen Sand nieder, während eine Gestalt durch den sich wälzenden Nebel schritt, der das Land bedeckte.
„Noch jemand, der in die Tiefe verloren ging. Urg... Hm?," bemerkte er, dass etwas nicht stimmte, beugte sich hinunter und sah, dass das Mädchen noch lebte, ihr Körper zuckte unter den Auswirkungen des Abgrundwassers, aber sie war noch nicht tot.
„Am Leben...? Oh ja. Auch wenn es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie Teil der dunklen Mutter wird, wird sie eine wertvolle Ergänzung für die Schlachtdocks sein. Hehehe. Du hast Glück, junges Mädchen. Du wirst einen Zweck haben, anstatt in der Wildnis zu verrotten." Er grinste, da er wusste, dass sie einige anständige Münzen in seine Brieftasche spülen würde.
Er packte sie am Kragen ihres Kleides und schleuderte das Mädchen auf den Leichenhaufen, der auf seinem Wagen lag.
Nach einem Nackenknacken und dem Strecken seines Körpers griff er wieder nach dem Wagen und setzte seinen Weg durch den dichten Nebel fort, der heraufzog. Das Echo seines Pfeifens vermischte sich mit den entfernten Rufen der Abgrundbestien.