Erschöpfung hatte schließlich ihren Körper übernommen; ihr Gesicht war bleich vor Müdigkeit. Islinda torkelte, als wäre sie vom Wein betrunken, und ihre Knie wären unter dem Druck fast eingeknickt. Doch sie presste die Zähne zusammen und schaffte es durch reinen Willen zurück in ihr Dorf. Sie ging durch die schlammigen, gefrorenen Straßen und hätte die Rückkehr in die beengte Hütte gehasst, doch in diesem Moment sehnte sie sich nach ein bisschen Wärme.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs, denn niemand würde sich bei einer solch strengen Winternacht draußen aufhalten. Die wenigen, denen sie begegnete, ließen sie erschaudern – ihre gierigen Blicke hafteten auf ihrer Beute, dem Hirsch. Ihr begehrlicher Blick brachte Islinda dazu, sich aufzurichten und anzuspannen. Sie schwor bei den Göttern, sie bis in den Tod zu bekämpfen, sollten sie versuchen, ihr die Beute zu rauben.
Sie hatte hart dafür gekämpft und würde nicht zulassen, dass jemand anderes die Früchte ihrer Mühen erntete. Vielleicht lag es an ihrem entschlossenen Blick oder am Anblick ihres furchteinflößenden Pfeils, den sie als Warnung gezogen hatte, aber jeder wich von ihr zurück. Daher beschleunigte Islinda ihr Tempo, getrieben von dem Wunsch, die gefährliche Straße zu verlassen, obwohl ihr Körper vehement protestierte.
Als sie schließlich zuhause ankam und an die hölzerne Tür klopfte, durchlebte sie zwei Gefühle zugleich: Es war so kalt, dass es schmerzte, und doch fühlte sie eine Welle der Erleichterung, als sich die Tür öffnete und sie Madam Alice gegenüberstand. Es war eine Ironie, denn Islinda hätte nie gedacht, dass sie erleichtert sein würde, sie zu sehen.
Zuerst war der Ausdruck ihrer Stiefmutter einer des Schocks, als hätte sie Islinda schon für tot gehalten – was nicht überraschend war – bevor er schnell in Verachtung umschlug, als sie realisierte, dass es nur Islinda war – und nicht jemand Besonderes wie ein Freier für ihre Tochter Remy – und sich schließlich in große Freude wandelte, als ihr klar wurde, dass Islinda etwas mitgebracht hatte.
„I-Ich bin zuhause...", kam es heiser aus Islindas Kehle, und sie bemerkte gar nicht, wie heftig sie zitterte, fast wie in einem Anfall.
„Komm rein, komm rein...", wurde Madam Alices Stimme herzlich, als hätte sie endlich Islindas Wert erkannt. Nicht, dass sie diesen nicht schon früher bewiesen hätte. Ehrlich gesagt war ihr Wert der einzige Grund, warum sie sie überhaupt duldete – um Essen zu besorgen.
Aber in dem Moment, als Islinda den Fuß über die Schwelle setzte, wirbelte ihre Welt und sie fiel in eine endlose Dunkelheit. Die Erschöpfung von der Anstrengung forderte endlich ihren Tribut, und ihre Augen schlossen sich. Doch während der Schlaf eigentlich friedlich hätte sein sollen, war er es ganz und gar nicht.
Islinda konnte nicht sagen, was vor sich ging, doch es fühlte sich an, als wäre sie in das eisige Wasser der Tiefsee geworfen worden; im nächsten Augenblick überkam sie eine solche Hitze, dass es schmerzte. Die ganze Nacht über entkamen ihr Stöhnen und Wimmern vor Schmerz. Überall schmerzte es und sie fühlte sich, als würde sie sterben.Aber selbst inmitten ihres Leidens blieb ein Gesicht und ein Gedanke in ihrem Kopf vorherrschend: Ihr Fae. Sie durfte nicht vor ihm sterben. Sie war die Einzige, die ihn pflegen und ihm eine Überlebenschance geben konnte. Seine überirdische Schönheit füllte ihren Geist, insbesondere seine unnatürlich schönen goldenen Augen. Sie umgab ihr gesamtes Sehen und Denken, sie war davon verzaubert.
Möglicherweise war sie in und aus dem Bewusstsein getreten oder hatte eine Vision gehabt, aber alles war verschwommen und ihr Geist verwirrt. Islinda träumte, dass eine ihrer Stiefschwestern – Remy oder Lillian, sie konnte es nicht genau sagen – sie dazu gebracht hatte, sich aufzurichten, bevor sie ihr etwas zum Essen gab, das so widerwärtig schmeckte, dass es sie zum Würgen brachte.
"Nein, das tust du nicht!" tadelte eine Stimme, bevor sie zurück auf das Bett gedrückt wurde.
"Du wirst hier nicht einfach sterben!" Die Stimme war eindringlich, und Islinda spürte, wie sich ihre Mundwinkel verzogen. Der Gedanke, sie könnte den Tod beherrschen, kam ihr selbst in diesem delirösen Zustand lächerlich vor.
Doch ihr Blickfeld verdunkelte sich ein weiteres Mal, und wieder erschien das Bild ihres Fae vor ihrem inneren Auge. So wunderschön, flüsterte sie, bevor Dunkelheit ihre Klauen derart tief in sie schlug, dass sie nicht wieder erwachen konnte. Und dieser Schlaf war friedlich.
Islinda erwachte schließlich zum Zwitschern der Vögel und dem Summen der Insekten, und sie atmete scharf ein. Die Sicht verschwamm und sie musste gegen den dichten Nebel ankämpfen, der ihren Verstand umhüllte. Wo war sie nur? Plötzlich kam das armselige Dach ihres Hauses in Sicht, und Islinda richtete sich mit einer Geschwindigkeit auf, die sie im Nachhinein bereuen sollte.
Ein scharfes, schmerzgezeichnetes Stöhnen entwich ihren Lippen, als sie sich zu bewegen versuchte und hinuntersah, um festzustellen, dass ihre Hände angeschwollen waren. Frostbeulen, erinnerte sie sich. Sie hätte es wissen müssen. Ein so langer Aufenthalt im Schnee musste zwangsläufig Leiden mit sich bringen. Das erklärte das brennende Gefühl, das sie in der vergangenen Nacht erlitten hatte; anscheinend hatte eine ihrer Stiefschwestern ihr geholfen, den Klauen des Todes zu entkommen.
Obwohl Islinda wusste, dass sie nur aus eigenem Interesse am Leben erhalten wurde, konnte sie dennoch nicht umhin, ein Gefühl von Dankbarkeit zu empfinden. Wie aufs Stichwort erschien Lillian in ihrem beengten Zimmer.
"Du bist aufgewacht."
Islinda sah sie an. Sie sah schön aus in ihrem ausgeblichenen Kleid, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, aber immer noch tragbar war. Wenn sich Lillian nur von ihrer Familie lösen könnte, zweifelte Islinda nicht daran, dass sie einen anständigen Mann finden würde, mit dem sie glücklich werden könnte. Doch leider gilt oft: Gleich und gleich gesellt sich gern, und wahrscheinlich würde Lillian eher alt mit ihrer Mutter werden, als sich von ihr zu trennen. Zudem würde Islinda keinem guten Mann eine solch üble Partnerin wünschen.'"Ja, ich bin..." wollte Islinda sagen, doch ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Ihr Hals war extrem trocken und fühlte sich rau an, während sich ihre Zähne und ihr Zahnfleisch so anfühlten, als seien sie von Schleim bedeckt. Sie konnte sogar Erbrochenes in ihrem Mund schmecken. Was war bloß letzte Nacht passiert?
Als hätte sie Islindas Krise verstanden, bückte sich Lilian, nahm einen Becher mit Wasser vom Hocker und reichte ihn ihr. Islinda nahm ihn entgegen, und ohne zu zögern, ob das Wasser vergiftet sein könnte oder ein Streich ihrerseits war, trank sie das geschmacklose Wasser - es wirkte wie ein heilender Balsam auf ihre Kehle. Sie fühlte sich gleich besser.
"Mehr." Sie streckte die Hand aus und bei Lillian zuckten die Lippen, bevor sie den Krug hob und den Plastikbecher wieder auffüllte. Erst nach dem dritten Schluck fühlte sich Islinda wirklich besser. Sie hob den Kopf und sah den säuerlichen Ausdruck auf Lillians Gesicht. Offenbar war es ihr nicht gewohnt, zu dienen. Im Gegenteil. Nun, es scheint, als könne sich das ändern.
"Danke", sagte Islinda schließlich.
"Wofür bedankst du dich?" fragte Lillian mit verschränkten Armen und herausforderndem Ton. "Dafür, dass ich mich um dein Chaos kümmere und dein Leben gerettet habe, oder dafür, dass du uns nach zwei Tagen Schlaf zu Tode erschreckt hast?"
"Z-zwei Tage?" Islinda verschluckte sich.
Das war unmöglich. Sie hatte nur eine Nacht geschlafen. Dann erinnerte sich Islinda an die erdrückende Dunkelheit; es konnte nicht sein, dass sie all die Zeit geschlafen hatte. Oh nein, Panik ergriff sie. Seltsamerweise spürte Islinda, dass sie hier nicht hingehörte. Dass jemand sie brauchte...
"Oh, verdammt..." Plötzlich erinnerte sie sich. Es war der Fae.
"Verdammt?" wiederholte Lillian mit einem verdutzten Gesichtsausdruck und nahm wohl an, Islinda habe sie verflucht.
"Nein, nein, nein..." Islindas Augen weiteten sich in Panik. "Nicht du..." Doch es war zwecklos, es dem Mädchen zu erklären, denn deren Miene verhärtete sich.
"Komm, iss dein Essen, bevor es kalt wird. Als du bewusstlos warst, musste ich dir Brei und Medikamente einflößen. Das war sicherlich nicht ausreichend", sagte Lillian bestimmt, drehte sich um und verließ den kleinen Raum.
Islinda stöhnte vor Enttäuschung und Frustration. Gerade als sie begann, sie zu mögen. Doch tief im Inneren wusste Islinda, dass diese Freundlichkeit nicht ewig anhalten würde. Sobald die Familie gesättigt war, würden sie wieder die Kraft finden, sie zu unterdrücken.
Gleichzeitig war Islinda verzweifelt, aufzustehen und zum Fae, nein, zu Valerie, zu gehen. Es war seltsam, ihn so zu nennen, nachdem er ihr bereits seinen Namen als Zeichen des guten Willens gegeben hatte. Man sagte, der Name eines Fae besäße Macht und könnte gegen sie verwendet werden. Indem Valerie ihr seinen Namen gab, hatte er ihr sein Vertrauen ausgedrückt.
Der Gedanke wärmte Islinda von innen. Warum hatte er das getan? Bei den Göttern, wurde sie etwa rot?
Nein, Islinda schüttelte den Kopf.
Es gab keine Möglichkeit, dass sie sich in einen Fae verliebte. Das war noch nie vorgekommen! Unmöglich! Eine Abscheu!
Sie musste vorsichtig sein, denn wenn ihre Stiefmutter auch nur den Verdacht hegte, dass sie einen begehrten Fae besaß, dann wäre Valerie in Gefahr. Madame Alice würde starke Männer im Dorf anheuern, die sie überwältigen, Valerie unterdrücken und ihn wegbringen würden, um ihn an Gott weiß wen zu verkaufen.
Islinda fasste einen festen Entschluss: Sie würde niemanden an ihren Fae lassen. Es war ein Versprechen – sie würde Valerie mit ihrem Leben beschützen.
Vorausgesetzt, er lebte noch.