Es war bereits spät am Nachmittag, als Thalor auf dem offenen Zirkusplatz stand und den Blick in die Ferne richtete. Die Luft war still, doch in seinem Inneren wirbelten die Gedanken unaufhörlich. Sein Gespräch mit seiner Mutter war ein Schritt in die richtige Richtung gewesen, doch der Frieden, den er sich erhofft hatte, war nicht vollständig. Die Albträume, die ihn seit ihrem letzten Abschied verfolgten, waren ein Schatten, den er einfach nicht loslassen konnte.
Seit ihrer Ankunft im Zirkus hatte Elowen sich weitgehend zurückgehalten. Elara hatte für sie einen abgeschiedenen, aber komfortablen Platz am Rande des Zirkusgeländes organisiert. Es war ein schlichter Unterschlupf, umgeben von dichtem Wald, der genug Privatsphäre bot. Hier hatte Elowen sich niedergelassen, um der Zirkusmannschaft nicht im Weg zu stehen und gleichzeitig nah genug zu sein, falls Thalor sie brauchte. Auch die Crew hatte sich langsam an ihre Anwesenheit gewöhnt, obwohl noch immer eine gewisse Spannung in der Luft lag. Ihre Vergangenheit mit Thalor war nicht so leicht zu vergessen.
Thalor jedoch wusste, dass er ein weiteres Gespräch mit ihr führen musste. Die Albträume hatten ihn zermürbt. Jede Nacht schien die Dunkelheit ihn tiefer hinabzuziehen, und jedes Mal, wenn er aufwachte, war der Schmerz greifbarer. Es war, als ob die Wunden seiner Seele, die er dachte, geheilt zu haben, wieder aufgerissen wurden.
Mit einem entschlossenen Seufzen breitete er seine Flügel aus und erhob sich in die Luft. Der Weg zu Elowens Unterstand war nicht weit, und der Flug verschaffte ihm einen Moment der Klarheit. Der Wind kühlte seinen erhitzten Kopf und die Geräusche des Zirkus verblassten hinter ihm. Bald landete er sanft vor dem kleinen, von Bäumen umsäumten Platz, den Elowen ihr Zuhause genannt hatte.
„Mutter?", rief er vorsichtig.
Ein Rascheln aus dem Inneren verriet ihm, dass sie ihn gehört hatte. Sekunden später trat sie heraus, ihre goldene Schuppenhaut glänzte im letzten Licht des Tages. Ihre Augen musterten ihn warm, aber besorgt. „Thalor, mein Sohn. Was führt dich hierher?"
Er senkte leicht den Kopf, bevor er antwortete. „Ich muss mit dir reden... über die Albträume."
Elowens Blick verhärtete sich leicht, und sie nickte, als hätte sie schon geahnt, worum es ging. „Komm", sagte sie sanft und führte ihn zu einer weichen, mit Moos bedeckten Lichtung, auf der sie sich niederließ. „Erzähl mir alles."
Thalor ließ sich schwerfällig neben ihr nieder, seine Flügel leicht ausgestreckt. Für einen Moment zögerte er, suchte nach den richtigen Worten, doch schließlich begann er zu sprechen. „Seitdem du das letzte Mal gegangen bist... seitdem du mich wieder verlassen hast..." Er hielt inne, spürte die Trauer in seiner Brust aufsteigen. „Seitdem habe ich diese Träume. Sie sind... schrecklich."
Elowen schwieg und wartete geduldig, bis er weitersprach.
„Es ist immer das Gleiche," fuhr Thalor fort, „ich sehe mich selbst als kleinen, hilflosen Drachen. Und dann bist du da... und du verstoßt mich wieder. Es ist, als würde sich der Moment immer und immer wiederholen, aber es fühlt sich noch schlimmer an." Seine Stimme wurde rau. „Und in diesen Träumen verliere ich die Kontrolle. Ich greife Elara an, die Menschen im Zirkus... es ist, als wäre ich nicht mehr ich selbst."
Seine Mutter beobachtete ihn still, ihre Augen weich vor Mitgefühl, aber auch voller Sorge. „Es tut mir so leid, Thalor," flüsterte sie schließlich. „Ich hätte nicht gehen sollen, ohne das wirklich mit dir zu klären. Vielleicht hätte ich bleiben müssen, um sicherzustellen, dass du nicht mit diesem Schmerz allein gelassen wirst."
Thalor schüttelte den Kopf. „Nein, das war meine Entscheidung. Ich wollte, dass du gehst. Aber jetzt... jetzt weiß ich nicht mehr weiter."
Eine lange Stille legte sich über die beiden, nur unterbrochen vom sanften Rauschen der Blätter im Wind. Thalor konnte spüren, dass Elowen über seine Worte nachdachte, und er wartete geduldig, bis sie sprach.
„Es gibt eine Möglichkeit," sagte sie schließlich zögernd. Ihre Stimme war leise, als ob sie unsicher war, ob sie diese Worte wirklich aussprechen sollte. „Eine Möglichkeit, wie ich dir helfen könnte."
Thalor sah sie neugierig an. „Was meinst du?"
Elowen seufzte tief, ihre Schuppen schimmerten leicht im Dämmerlicht. „Ich bin in der Lage, mich in den Geist anderer Drachen zu begeben. Es ist eine Fähigkeit, die ich selten nutze, weil sie gefährlich ist und schmerzhaft... für uns beide." Sie hielt inne und betrachtete ihren Sohn eindringlich. „Aber wenn ich in deinen Geist eindringe, könnte ich vielleicht die Quelle dieser Albträume finden... und sie ein für alle Mal vertreiben."
Thalor blinzelte überrascht. Er hatte von dieser Fähigkeit gehört, aber er wusste nicht, dass seine Mutter sie besaß. „Ist das wirklich möglich?" fragte er leise.
Elowen nickte langsam. „Es ist möglich, aber wie gesagt, es ist schmerzhaft. Es ist kein leichter Prozess. Ich müsste tief in deine Gedankenwelt eintauchen, die Erinnerungen durchforsten, die den Albtraum auslösen. Und das könnte uns beide erschöpfen." Sie legte eine Klaue auf seine Schulter. „Aber wenn du bereit bist, das Risiko einzugehen, dann könnte ich dir helfen."
Thalor schwieg und dachte nach. Die Vorstellung, dass seine Mutter direkt in seinen Geist eindringen könnte, war beängstigend, aber gleichzeitig versprach sie auch Erlösung. Die Albträume hatten ihm so viel Kraft geraubt, und er wollte nichts mehr, als sie loszuwerden.
„Wird es... gefährlich?" fragte er schließlich.
Elowen sah ihn ernst an. „Es gibt immer ein Risiko. In seltenen Fällen kann es passieren, dass der Geist des Drachen zu sehr belastet wird und wir uns verlieren. Aber ich werde alles tun, um sicherzustellen, dass das nicht passiert." Ihre Augen suchten seine. „Es liegt an dir, Thalor. Ich werde nichts tun, was du nicht möchtest."
Thalor atmete tief ein. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Die Entscheidung, ob er seine Mutter in seine tiefsten Ängste und Schmerzen lassen sollte, war keine leichte. Doch gleichzeitig wusste er, dass er ohne Hilfe diese Albträume nicht alleine besiegen konnte.
„Ich weiß nicht, ob ich noch länger damit leben kann," sagte er schließlich mit heiserer Stimme. „Die Albträume sind so real... und ich habe Angst, dass ich eines Tages jemanden ernsthaft verletze."
Elowen betrachtete ihn mit tiefer Zuneigung. „Ich verstehe deine Angst, mein Sohn. Aber egal, welche Entscheidung du triffst, ich werde sie respektieren."
Thalor blickte lange in die Augen seiner Mutter. Diese Augen, die ihn einst verstoßen hatten, waren nun voller Fürsorge und Verständnis. Er fühlte, dass ihre Worte aufrichtig waren. Sie wollte ihm wirklich helfen, so wie er es sich als Kind immer gewünscht hatte.
„Mutter," begann er langsam, „ich glaube, ich bin bereit. Wenn du wirklich denkst, dass du mir helfen kannst... dann vertraue ich dir."
Elowens Gesicht erhellte sich ein wenig, und sie nickte sanft. „Dann werden wir es tun. Aber nicht heute." Sie legte ihre Flügel schützend um ihn. „Du brauchst Ruhe, bevor wir beginnen. Und ich werde alles vorbereiten, um sicherzustellen, dass wir sicher sind."
Thalor entspannte sich leicht unter dem Schutz seiner Mutter. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte er einen Funken Hoffnung. Vielleicht würde dieses Wagnis die Lösung sein, nach der er so verzweifelt gesucht hatte.
„Danke, Mutter," sagte er leise.
„Du brauchst mir nicht zu danken, mein Sohn," flüsterte Elowen und drückte ihn sanft. „Ich werde immer für dich da sein."
Die beiden Drachen blieben so noch eine Weile zusammen, während die Sonne am Horizont unterging und das Licht des Tages verblasste.