Thalor saß im Schatten seines Stalls und starrte in den blassblauen Himmel. Der Wind spielte sanft mit den Blättern der hohen Bäume, die den Zirkusplatz umgaben. Obwohl die Umgebung ruhig und friedlich wirkte, tobten in seinem Inneren widersprüchliche Gefühle. Heute war der Tag, an dem er seiner Mutter, Elowen, erneut gegenübertreten würde. Er hatte sie eingeladen, um endgültig die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben, doch die Nervosität ließ ihm keine Ruhe.
Elara trat an seine Seite. Sie bemerkte die Spannung in seinem Körper und legte eine Hand auf seine Flanke. „Thalor," sagte sie sanft, „es wird alles gut. Du hast den Mut gefunden, diesen Schritt zu gehen. Jetzt liegt es an ihr, zu zeigen, dass sie auch bereit ist, sich der Vergangenheit zu stellen."
Thalor nickte langsam, seine Augen immer noch auf den Horizont gerichtet. „Ich hoffe nur, dass sie es versteht. Es ist schwer... so schwer, all diese Gefühle auszudrücken."
„Du hast den Brief mit dem Herzen geschrieben, Thalor," sagte Elara beruhigend. „Das ist genug. Sie wird es sehen."
Plötzlich hörten sie in der Ferne das Schlagen von mächtigen Flügeln. Thalor richtete sich auf, seine Muskeln gespannt, als Elowen in den Himmel über dem Zirkus erschien. Ihr riesiger Schatten fiel auf die Lichtungen, während sie langsam zu Boden segelte. Die Zirkusmitarbeiter, die gerade mit ihren täglichen Aufgaben beschäftigt waren, hielten inne und blickten ehrfürchtig zu der majestätischen Drachenmutter hinauf. Ihre Landung war sanft, und sie setzte sich wenige Meter von Thalor entfernt nieder.
Es herrschte ein kurzes Schweigen. Mutter und Sohn betrachteten sich für einen Moment, als ob sie nach den richtigen Worten suchten.
Elowen sprach schließlich zuerst. „Thalor... ich bin gekommen, wie du mich gebeten hast." Ihre Stimme war ruhig, fast vorsichtig, als ob sie den zerbrechlichen Faden zwischen ihnen nicht zerreißen wollte.
Thalor schluckte und trat einen Schritt vor. „Danke, dass du gekommen bist, Mutter. Es... es bedeutet mir viel."
Elowen senkte den Blick für einen Moment. „Ich... ich habe deinen Brief gelesen. Deine Worte haben mich tief berührt." Ihre Augen suchten die seinen. „Ich weiß, dass ich dir unrecht getan habe, Thalor. Und ich weiß, dass du bereits gesagt hast, dass du mir vergeben hast... aber ich muss es hören. Ich muss es von dir selbst hören."
Thalor atmete tief durch, seine Flügel leicht zitternd. „Ich habe es schon einmal gesagt, aber ich werde es wieder sagen: Ich vergebe dir, Mutter." Er trat näher an sie heran. „Was damals passiert ist... es war schwer, aber ich habe es überwunden. Ich bin stärker geworden, und ich verstehe jetzt, dass du es vielleicht nicht besser wusstest. Wir beide haben Fehler gemacht."
Elowen blinzelte, als ob sie gegen aufsteigende Tränen kämpfte. „Ich habe dir so viel Schmerz zugefügt, Thalor. Das werde ich mir nie verzeihen können."
„Aber ich verzeihe dir," antwortete er leise. „Das ist der Unterschied. Ich will nicht, dass die Vergangenheit weiter zwischen uns steht." Er sah sie eindringlich an. „Ich möchte, dass wir nach vorne schauen können, dass wir eine Beziehung haben, die nicht von Schuld und Scham überschattet wird."
Ein Moment der Stille folgte, in dem sich die beiden Drachen einfach nur ansahen. Die Emotionen, die zwischen ihnen schwebten, waren greifbar. Elowen schloss die Augen und ließ die Worte ihres Sohnes in sich wirken. Als sie die Augen wieder öffnete, war da etwas, das in all den Jahren gefehlt hatte – eine echte Wärme.
„Ich habe dich unterschätzt, mein Sohn," sagte sie leise. „Du bist viel stärker, als ich es je für möglich gehalten hätte."
Thalor trat noch einen Schritt näher. „Ich habe mich verändert. Der Zirkus, die Menschen hier, sie haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Und jetzt möchte ich, dass du Teil meines Lebens bist, wenn du das auch möchtest."
Elowen zögerte, die Worte sanken tief in ihr Herz. Sie hatte nie damit gerechnet, dass Thalor nach allem, was geschehen war, so offen und gütig auf sie zugehen würde. Langsam, zögerlich, hob sie eine Klaue und streckte sie vorsichtig aus. Thalor verstand und legte seine Schnauze sanft gegen ihre Klaue.
„Ich möchte es auch," flüsterte sie. „Ich möchte es wirklich versuchen."
In diesem Moment schien sich die Anspannung in Thalor zu lösen. Der Druck, der all die Wochen auf ihm gelastet hatte, begann zu weichen. Er fühlte, dass die Wunden der Vergangenheit endlich zu heilen begannen.
Elara beobachtete die Szene aus der Ferne, lächelnd und erleichtert. Sie hatte gehofft, dass diese Begegnung so verlaufen würde, aber es zu sehen, brachte ihr selbst eine gewisse Ruhe.
Elowen brach das Schweigen. „Dein Brief, Thalor, hat mir gezeigt, dass du der Sohn bist, den ich mir immer gewünscht habe. Stark, aber auch weise. Ich bin bereit, mit dir in diese neue Zukunft zu gehen, wenn du es zulässt."
Thalor nickte, sein Herz fühlte sich leichter an als je zuvor. „Dann lass uns von hier an nach vorne blicken, Mutter."
Sie schwiegen eine Weile, ließen die Worte und die Bedeutung des Moments sacken. Thalor wusste, dass dieser Tag ein neuer Anfang war. Die Schatten seiner Albträume, die Unruhe, die ihn so lange geplagt hatte – all das begann nun zu verblassen. Seine Mutter war hier, bereit, mit ihm zu heilen.
„Bleibst du eine Weile?" fragte Thalor schließlich vorsichtig.
Elowen lächelte. „Ja, ich bleibe."