Sie befanden sich fast 50 Kilometer entfernt vom Kreisstadtzentrum. Auf dem Weg mussten sie drei oder viermal das Fahrzeug wechseln. Wenn sie im Kreisstadt ankamen, wäre es wahrscheinlich nach vier Uhr, sodass sie dort übernachten und frühmorgens aufbrechen müssten.
"Alles klar, ich folge deinem Rat." Ni Cuihua vertraute Ni Yang vollständig. Mutter und Tochter machten sich mit ihrem Kind auf den Weg. Sie waren einfach angezogen und hatten ein Kind dabei, sodass Kleindiebe sie nicht beachten würden. Gegen fünf Uhr abends erreichten die Mutter und die Tochter schließlich das Kreisstadtzentrum.
Das Kreisstadtzentrum war viel wohlhabender als ihre Kleinstadt. Erst hier wurde sich Ni Cuihua bewusst, wie unbedeutend sie sich fühlte. Sie hielt ihr Kind fest im Arm und blieb dicht bei Ni Yang, ohne auch nur einen halben Schritt von ihrer Seite zu weichen. Während sie ihrer Tochter folgte, empfand Ni Cuihua ein Gefühl der Fremdheit, aber auch einen Anflug von... Stolz. Ihre Tochter schien so viel fähiger als sie selbst.
Ni Yang checkte sie in einem Gasthaus ein. Es war ein einfaches Doppelzimmer, das nicht besonders komfortabel, aber im Vergleich zu ihrer ländlichen Wohnsituation ein Luxus war. Ni Yang legte ihre Tasche auf den Schrank, nahm den Zimmerschlüssel und sagte zu Ni Cuihua: "Mama, ruh dich erst mal im Zimmer aus. Ich werde die Zugtickets besorgen. Ich habe den Schlüssel, mach niemand anderem die Tür auf."
"In Ordnung", nickte Ni Cuihua, "Yangyang, kommst du alleine zurecht? Soll ich mitkommen?"
"Das ist nicht nötig, ruh dich gut aus. Ich bin bald zurück." Als Ni Yang an der Tür ankam, zeigte sie beiläufig auf eine andere: "Mama, dort ist das Badezimmer."
"Verstanden." Ni Cuihua stand auf, "Pass auf dich auf."
"Mhm." Ni Yang öffnete die Tür und ging hinaus.
Im Juni stand die Sonne um fünf Uhr noch hoch am Himmel, es war heiß und brachte die Menschen ins Schwitzen. Mit den Erinnerungen aus ihrem früheren Leben fand Ni Yang schnell den Bahnhof, dessen Standort sich trotz mehrfacher Renovierungen in der Zukunft nie veränderte.
Zu dieser Jahreszeit waren nicht viele Menschen mit dem Zug unterwegs. Ni Yang kam am Fahrkartenschalter an: "Genosse, ich hätte gerne zwei Schlafwagentickets."
Der Verkäufer war ein junger Mann, der fast schlief. Als er das Geräusch hörte, öffnete er widerwillig die Augen: "Was? Bitte sprechen Sie lauter."
Die Fahrkartenverkäufer dieser Epoche hatten denselben Status wie heutige Staatsdiener. Ohne Beziehungen oder besondere Kenntnisse war es schwer, in einem Staatsunternehmen wie dem Eisenbahnbüro eine solche Stelle zu bekommen. Besonders wenn jemand so schlecht gekleidet war wie Ni Yang, war es offensichtlich, dass sie vom Land kam.
Ni Yang ließ sich von der Haltung des Verkäufers nicht beirren und sagte lächelnd: "Hallo, ich benötige zwei Schlafwagenplätze nach Peking."
Es lohnte sich nicht, sich über solche Menschen zu ärgern.
Als der Verkäufer sah, dass Ni Yang sich nicht ärgerte, sondern höflich blieb, schämte er sich ein wenig. Besonders weil dieses Mädchen so hübsch aussah.
Er tadelte sich selbst für seine schlechte Einschätzung zuvor. Er hatte gar nicht bemerkt, wie hübsch dieses Mädchen eigentlich war.
"Haben Sie ein Empfehlungsschreiben?" fragte der Verkäufer mit veränderter Haltung.
"Ja", antwortete Ni Yang und zog den Einführungsbrief aus ihrer Tasche.Nachdem der Fahrkartenverkäufer einen Blick darauf geworfen hatte, sagte er: „Das macht dann insgesamt 68 Yuan."
Ni Yang nahm einen Haufen Kleingeld heraus und reichte ihn dem Fahrkartenverkäufer. Die meisten dieser Münzen waren im Wert von einem und fünf Cent, die größte eine Ein-Yuan-Münze.
68 Yuan ergaben einen ansehnlichen Haufen.
Ni Yang hatte das Wechselgeld extra beim Restaurantbesitzer gesammelt, als sie dort aß. Würde sie mit großen Geldscheinen hantieren, würde das sicher die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen. Mit sechzehn Jahren und einer Familie im Rücken wollte sie keine ungewollte Aufmerksamkeit.
An jedem anderen Tag wäre der Fahrkartenverkäufer wohl kaum erfreut über so viel Kleingeld gewesen. Doch heute nicht, denn vor ihm stand ein schönes Mädchen.
Er verkaufte bereits seit zwei Jahren Tickets und hatte noch nie ein so hübsches Mädchen wie dieses gesehen.
Schöne Frauen erhalten immer eine besondere Behandlung, ungeachtet der Epoche.
Nachdem sie die Fahrkarten erfolgreich erstanden hatte, machte sich Ni Yang auf den Rückweg. Bei dem Gedanken, wie reibungslos alles verlaufen war, huschte unbewusst ein Lächeln über ihr Gesicht.
In der Nachmittagssonne kam das junge Mädchen gegen das Licht gelaufen; ihr Lächeln ließ den geschäftigen Stadtverkehr verblassen.
Was sie nicht wusste: Drei Nichtsnutze hatten sie bereits aus der Ferne ins Auge gefasst. Bisher hatten sie noch keine Gelegenheit gefunden, sie anzusprechen, denn hier war die belebte Stadt.
Ni Yangs Kleidung war vielleicht nicht auffallend, doch jemand, der ohne zu zögern zwei Schlafwagenkarten kauft, wie konnte sie arm sein? Sie waren sicher, dass sie etwas Wertvolles bei ihr finden würden. Zudem war sie atemberaubend schön!
Wenn einem jungen Mädchen etwas zustoßen würde, würde sie es wahrscheinlich nicht laut herausposaunen. In dieser Zeit waren Frauen sehr konservativ und legten Wert auf ihren Ruf. Normalerweise würden Frauen eher schweigend ertragen, wenn man sie beleidigte, anstatt es öffentlich zu machen. Andernfalls könnten sie, selbst wenn sie in der Zukunft heiraten würden, von ihrer Schwiegerfamilie verachtet werden.
Zu dieser Zeit gab es große Unterschiede zwischen Stadt und Dorf. Im Dorf brauchte man zum Kauf alltäglicher Dinge alle Arten von Gutscheinen, aber in der Stadt reichte Geld aus.
Ni Yang kaufte also zwei zusätzliche Trinkbecher, eine Tüte Milchpulver, einige Kekse und Trockennahrung für die Reise.
Das Milchpulver war für ihre Schwester gedacht, da Ni Cuihua nicht genug Milch produzierte, zumal sie sich nach der Geburt nicht richtig ausgeruht hatte und nichts wirklich Nahrhaftes zu sich genommen hatte.
Nachdem sie aus dem Zug ausgestiegen waren, mussten sie zudem noch die Straßenbahn nehmen. Es würde eine holprige Fahrt werden, und die Reise würde mindestens zwei Tage in Anspruch nehmen.
Als Ni Yang die Liefer- und Marketinggenossenschaft verließ, spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Mit ihrem geschärften Sinn konnte sie leicht erkennen, dass drei Personen ihr folgten.
Ni Yangs Ohren zuckten leicht. Sie beschleunigte ihren Schritt, bog um eine Ecke und war im nächsten Moment verschwunden.
Die drei kleinen Rowdys sahen, wie Ni Yang verschwand, tauschten verwirrte Blicke, schnippten ihre Zigarettenstummel weg und eilten ihr nach.
Ni Yang legte die Sachen, die sie trug, sorgfältig in eine Mauerecke, zog den Dolch hervor, den sie bei sich trug, und stellte sich verteidigungsbereit in die Ecke. Sie zog die Klinge nicht aus der Scheide; es war besser, kein Blut zu vergießen, wenn es nicht absolut notwendig war.
Die Schritte kamen näher und näher.
Ni Yangs Ohren zuckten immer häufiger; sie umklammerte den Dolch fest und kneifte die Augen zusammen.
Drei, zwei, eins.
Jetzt! Mit einer schnellen Bewegung schlug sie den ersten Schläger nieder, der auf sie zustürmte, gefolgt von einer Kehrttretbewegung, bei der die Spitze ihres Fußes perfekt das Kinn eines Hintermanns traf und ihn zu Boden warf.
Im Handumdrehen waren nur noch zwei von drei Schlägern übrig.
Ni Yang schloss ihre Augen leicht, bereit mit ihrem Dolch nach dem Schläger zu schlagen. Doch überraschenderweise legte sich dieser selbst zu Boden, flehte um Gnade und schrie: „Gnädige Frau! Heldin! Ich habe einen Fehler gemacht! Bitte verschonen Sie mich und meine Brüder!"
Ein weiser Mensch weiß, wann er sich zurückziehen muss. Dieser Schläger war kein Narr. Er wusste, dass er es mit einem formidablen Gegner zu tun hatte. Doch konnte er nicht begreifen, wie ein gewöhnlich wirkendes Bauernmädchen so geschickt sein konnte.
Das war einfach unglaublich!
Langsam versteckte Ni Yang den Dolch wieder an ihrer Brust und sagte kalt: „Hast du nicht bedacht, was es heißen könnte, mir zu folgen?"