Luna Liana stand am prächtigen Kamin im Quartier des Alphas, ihr scharfer Blick auf die vor ihr tanzenden Flammen gerichtet. Sie war stets eine Frau der Tat gewesen und hatte nie gezögert, wenn es um den Schutz ihrer Familie und ihres Rudels ging. Heute war keine Ausnahme. Peter war gerade von einem Auftrag zurückgekehrt, den Liana ihm anvertraut hatte – einem Auftrag, von dem sie hoffte, dass er eine mögliche Bedrohung beenden würde.
"Also, ist es erledigt?" fragte Liana, ihre Stimme gedämpft und kontrolliert, jedoch mit einem Unterton, der deutlich machte, dass sie kein Versagen dulden würde.
Peter nickte, sein Tonfall ebenso ruhig. "Ja, Luna. Das Mädchen ist tot. Sie wird keine Probleme mehr verursachen."
Liana ließ sich einen kleinen Seufzer der Erleichterung entlocken. Sie hatte nicht erwartet, dass das Mädchen die Dreistigkeit besitzen würde, Damien zu kontaktieren. Doch das Schicksal stand auf ihrer Seite – Damien war nicht da gewesen, und Liana hatte die Situation schnell in den Griff bekommen, bevor sie eskalieren konnte.
"Gut", sagte Liana und wandte sich vom Feuer ab, um Peter direkt anzusehen. "Ich hätte nicht erwartet, dass sie so kühn sein würde. Alpha Jackson hat sein Versprechen nicht gehalten."
Peter zögerte kurz, als müsste er seine nächsten Worte sorgfältig wählen. "Ich verstehe, Luna. Aber bist du sicher, dass uns das nicht noch zum Verhängnis wird?"
Lianas Augen verengten sich leicht. "Anne war eine Abtrünnige. Niemand wird ihr Verschwinden hinterfragen. Sie war bedeutungslos, Peter. Die Rudel wissen, wie wir mit Abtrünnigen umgehen."
Bevor Peter antworten konnte, öffnete sich die Zimmertür. Lianas Herz setzte für einen Schlag aus, doch sie bewahrte ihre Fassung. Ihr Gesichtsausdruck wurde sanfter, als sie sich umdrehte, um ihren Sohn zu begrüßen.
"Damien", sagte sie warm, obwohl ihre Stimme angespannt klang, "ich hatte nicht erwartet, dich so bald zurückzusehen."
Damien warf einen Blick auf Peter, der sich mit einem respektvollen Nicken verabschiedete und Mutter und Sohn im Zimmer allein ließ. Als sich die Tür hinter ihm schloss, richtete Damien seinen Blick wieder auf Liana, nachdenklich.
"Mutter", begann er, seine Stimme fest, aber mit einem Hauch von etwas, das Liana nicht ganz einordnen konnte, "was hat Peter eben berichtet?"
Liana winkte abweisend mit der Hand, ihr Tonfall lässig. "Ach, nichts Ernsthaftes. Er musste nur einen unerwünschten Eindringling beseitigen. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest."
Damiens Blick verharrte einen Moment länger auf seiner Mutter, als versuchte er, zwischen den Zeilen zu lesen. Dann wandte er sich ab, sein Gesichtsausdruck wurde distanziert. "Ich war heute beim Crescentmoon-Rudel", sagte er leise.
Lianas Herz setzte erneut aus, und ihre Kontrolle entglitt ihr leicht. "Das Crescentmoon-Rudel? Warum bist du dorthin gegangen?" Ihre Stimme war mit Frustration durchsetzt, die sie jedoch schnell mit besorgtem Tonfall überdeckte. "Dieses Mädchen bedeutete nichts für dich, Damien. Warum verschwendest du deine Zeit damit?"
Damien drehte sich wieder seiner Mutter zu, sein Blick intensiv, doch ruhig. "Ich wollte es selbst sehen", sagte er schlicht. "Ich musste wissen, ob sie tatsächlich meine Gefährtin ist."
Liana spürte einen Schwall von Wut und Angst in sich aufsteigen. Das Letzte, was sie benötigte, war, dass Damien sich mit diesem Mädchen einließ. "Sie war nicht deine Gefährtin, Damien!" fuhr Liana auf und verlor ihre Fassung. "Du hast eine Pflicht gegenüber unserem Rudel, unserer Familie. Dieses Mädchen hätte nur alles, was wir aufgebaut haben, ruiniert."
Damiens Gesichtszüge veränderten sich nicht, obwohl ein gefährliches Funkeln in seinen Augen zu sehen war. "Und was wäre, wenn sie meine Gefährtin wäre?", fragte er mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war, aber ein Gewicht hatte, das Lianas Herz zusammenziehen ließ.
Liana schüttelte den Kopf, entschlossen, diesen Gedanken nicht zu erwägen. "Du hättest sie zurückweisen müssen, wie du es fürs Rudel musst. Für deine Zukunft."
Damien erwiderte daraufhin nicht sofort etwas, sein Blick sank zu Boden, als wäre er in Gedanken versunken. Nach einer langen Stille blickte er schließlich wieder zu seiner Mutter, sein Ausdruck unleserlich. "Ich weiß nicht, ob ich das könnte", sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu ihr.Liana spürte einen Schauer, der ihr über den Rücken lief. Sie wusste schon immer, dass ihr Sohn willensstark war, aber mit dieser Entwicklung hatte sie nicht gerechnet. Sie musste vorsichtiger sein, wachsamer. Fürs Erste musste sie ihn von Anne fernhalten.
„Und, hast du sie gefunden?"
„Sie hat das Rudel verlassen", sagte er leise. „Mit ihrer Gefährtin."
Liana lächelte selbstgefällig. Alpha Jackson war es gelungen, in seinem Kopf Zweifel an Anne zu säen. Als sie seinen Arm berührte, wusste sie, dass ihr Sohn letztlich ihre Sichtweise teilen würde.
„Du brauchst dir darüber keine Sorgen mehr zu machen", sagte Liana entschlossen, um das Gespräch zu beenden. „Das Crescentmoon-Rudel hat seine eigenen Probleme, und wir haben unsere. Konzentriere dich darauf, eine passende Gefährtin aus einem mächtigen Rudel zu finden, jemanden, der unsere Familie und unser Rudel stärken wird."
Damien nickte langsam, aber sein abwesender Blick beunruhigte Liana. „Ich werde darüber nachdenken", sagte er, bevor er sich umdrehte und den Raum verließ.
Als sich die Tür hinter ihm schloss, ballte Liana ihre Fäuste. Sie musste vorsichtig sein, Damien war zu wichtig; sie durfte nicht zulassen, dass seine Zukunft aufs Spiel gesetzt wurde.
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Die Nacht draußen beim Motel war still. Im kleinen Zimmer saß Anne auf dem Bettrand und starrte auf ihr Spiegelbild im gesprungenen Spiegel gegenüber. Heather und Emily schliefen längst im Nebenzimmer; ihr leises Atmen war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. Aber Anne konnte nicht schlafen, ihr Kopf war zu voll, ihr Herz zu schwer.
Im Gegensatz zu den meisten Wölfen, die ihr Leben innerhalb der Grenzen ihres Rudels führten, kannte Anne die Welt der Menschen gut. Ihre Mutter war eine Menschin gewesen und hatte darauf bestanden, dass Anne etwas über die Welt außerhalb des Rudels lernte. Sie hatte Anne menschliche Sitten, Lebensweisen und den Umgang mit der Welt beigebracht. Anne hätte nie gedacht, dass sie eines Tages so unter Menschen leben würde.
Nun war sie hier, allein in einem menschlichen Motel, ihr Rudel hinter sich gelassen und ihre Zukunft ungewiss. Sie betrachtete ihre Arme und sah, wie die letzten blauen Flecken verschwanden.
Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange, und schnell wischte sie sie weg, frustriert über ihre eigene Schwäche. Der Schmerz in ihr war jedoch zu groß, um ihn zu unterdrücken. Es fühlte sich so an, als würde ihr Herz von neuem brechen, wenn sie an die Ereignisse dachte, die sie hierher gebracht hatten.
Sie hatte Damien getroffen – ihren Gefährten, den Mann, der für sie bestimmt war, der sie bedingungslos lieben sollte. Doch nach einer Nacht hatte er sie nicht nur verlassen, er hatte versucht, sie loszuwerden, als bedeutete sie ihm nichts.
Kaum war sie beim Rudel angekommen, hatten die Wächter sie ohne zu zögern angegriffen. Sie hatten sie wie eine Bedrohung behandelt, wie einen Schurken, der dort keinen Platz hatte. Sie hatte versucht, sich zu erklären, sich an die einzige Person zu wenden, die sie verstehen sollte, doch es war vergebens gewesen. Ihr Gefährte hatte sich von ihr abgewandt.
Jetzt, wo sie im Dunkeln saß, wurde ihr das volle Ausmaß ihrer Situation bewusst. Sie war eine abtrünnige Wölfin, ausgestoßen aus ihrem Rudel. Kein anderes Rudel würde sie aufnehmen, nicht nach dem, was passiert war. Sie war allein, eine Wölfin ohne Familie, ohne Zukunft.
Die Strafe für eine Abtrünnige war der Tod. Das war das Gesetz der Rudel, eine Regel, so alt wie die Zeit selbst. Schurken galten als gefährlich und unberechenbar, als Bedrohung für die Stabilität des Rudels. Anne wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis jemand sie finden würde, bevor ihr Schicksal sie einholte.
Doch was sollte sie tun? Wohin konnte sie gehen? Sie hatte niemanden mehr, keinen Ort, den sie ihr Zuhause nennen konnte. Der Gedanke, als Schurkin zu leben, ständig auf der Flucht, ständig über die Schulter blickend, erfüllte sie mit Grauen. Die Alternativen – zurückzukehren zum Rudel, das sie verstoßen hatte, oder sich dem Tod zu stellen, der sie erwartete – waren noch schlimmer.
Sie wischte sich eine weitere Träne weg und zwang sich, klar zu denken. Sie konnte nicht für immer bei Heather und Emily bleiben. Sie waren freundlich, aber sie verstanden nicht, in welcher Gefahr sie sich befanden, nur weil sie in ihrer Nähe waren. Sie musste gehen, in den Schatten verschwinden und herausfinden, was sie als Nächstes tun sollte. Ihr Telefon klingelte – das Telefon, das Aaron ihr gegeben hatte. Sie schaute auf den gesprungenen Bildschirm. Sein Name blinkte darauf. Auch von ihm musste sie sich fernhalten, um ihn zu schützen. So sehr sie den Anruf auch entgegennehmen wollte, sie wusste, dass es zu riskant war. Sie schaltete das Telefon aus und zerdrückte es mit ihren Händen. Sie konnte nicht riskieren, noch jemanden in Gefahr zu bringen. Mit schwerem Herzen traf sie die Entscheidung, die Verbindungen zu all jenen, die ihr wichtig waren, abzubrechen, um sie zu schützen.