Die Schachtel war nicht groß und sah sehr abgenutzt aus, als hätte sie ordentlich was aushalten müssen. Sie war uneben, und die Farbe blätterte ab. Jemand, der es nicht besser wüsste, hätte gedacht, sie sei vom Sperrmüll aufgelesen worden.
Doch gerade diese kleine, schäbige Schachtel löste in Gu Jiao ein Gefühl der Vertrautheit aus.
Gu Jiao öffnete die Schachtel wie betäubt und als sie die Medikamente darin sah, wurde ihr schwindelig.
Tatsächlich?
Ihr Erste-Hilfe-Kasten!
Wie war er hierher gelangt?
„Träume ich etwa?"
Gu Jiao kneifte sich. Das tat weh! Also kein Traum!
Der Kasten war echt und die Kräuter darin waren alle echt!
Gu Jiao erinnerte sich, dass sie den kleinen Erste-Hilfe-Kasten beim Flugzeugabsturz dabeigehabt hatte. War das der Grund, warum er hier war?
Aber warum war er so abgenutzt? Wo war der opulente goldene Glanz geblieben?
Als der Erste-Hilfe-Kasten noch wie Gold glänzte, fand Gu Jiao ihn hässlich. Jetzt, total ramponiert und zerrissen, fand sie ihn noch schlimmer.
Trotzdem umarmte sie die Schachtel fest und flüsterte: „Schwester wird dich nie wieder hässlich finden ... Schwester wird sich jetzt um dich kümmern."
Gu Jiao wischte den Kasten vorsichtig ab. Glücklicherweise war nur das Äußere beschädigt, der Inhalt war unversehrt.
Sie nahm einige Mullbinden und eine Flasche Kochsalzlösung heraus, um ihre Wunde zu desinfizieren. Dann trug sie eine entzündungshemmende Salbe auf und nahm zwei entzündungshemmende Tabletten. Zuerst dachte sie, dass sie die Wunde verbinden müsse, stellte dann aber fest, dass dies nicht notwendig war.
Nachdem sie ihre Verletzung versorgt hatte, fühlte sich Gu Jiao hungrig. Sie stellte den Erste-Hilfe-Kasten in den Schrank und beschloss, in der Küche nach etwas Essbarem zu suchen. Zuerst musste sie sich aber umziehen.
Gu Jiao zögerte einen Moment, ging durch den Flur und klopfte an Xiao Liulangs Zimmertür.
„Was gibt es?"
Xiao Liulang's kühle Stimme kam aus dem Raum.
„Ich würde mir gerne etwas zum Anziehen von dir leihen. Ich habe nichts Sauberes mehr, weil alle Hemden im Kleiderschrank ungewaschen sind."
Eine Weile kam keine Antwort von Xiao Liulang, und Gu Jiao dachte schon, dass er ihr keine Kleidung leihen würde. Aber dann öffnete sich die Tür, und Xiao Liulang reichte ihr ein sauberes Gewand.
Das Gewand war einfach und die Farbe verblasst, aber es war gestärkt und sehr sauber.
Früher hätte Gu Jiao niemals Kleidung eines Mannes getragen. Aber die Umstände ließen ihr keine Wahl. Wenn sie das nicht tragen würde, müsste sie dann die verschimmelten Kleider aus dem Schrank anziehen?
Nach dem Umziehen wusch Gu Jiao ihre schmutzige Wäsche schnell und begab sich in die Küche.
Xiao Liulang hatte die Küche wohl aufgeräumt, denn sie war recht sauber.
Der Reisvorrat war leer, aber wie Xiao Liulang gesagt hatte, war noch ein halbes Glas Maismehl übrig. Gu Jiao fand außerdem zwei Hühnereier und etwas Frühlingszwiebeln im Schrank.
Sie machte zwei Eierpfannkuchen aus Maismehl, streute geschnittene Frühlingszwiebeln darauf und kochte mit dem übrigen Teig einen kleinen Topf Maismehlsuppe.
Gu Jiao trug das Essen in die Haupthalle.
Die Tür zu Xiao Liulangs Zimmer stand einen Spalt offen.
In ihrer Erinnerung hatten sie immer getrennt gegessen – Xiao Liulang hinterließ ihr normalerweise eine Schüssel Reis, wenn er kochte. Meistens aß sie jedoch bei der Familie Gu.
Gu Jiao zögerte, dann klopfte sie an Xiao Liulangs Tür.
„Was gibt es?"
Xiao Liulangs kühle Stimme kam von innen.Gu Jiao sagte: "Ich habe Abendessen zubereitet. Möchtest du mit mir essen?"
Gu Jiao kochte selten und wenn, dann nicht für ihn. Deshalb hatte er vor, zu warten, bis Gu Jiao weg war, bevor er sein eigenes Essen zubereiten würde.
Xiao Liulang warf einen misstrauischen Blick auf seine geschlossene Tür.
"Wenn du jetzt nicht essen willst, dann esse ich alleine." Obwohl Gu Jiao bereit war, auf ihn zu warten, war sie so hungrig, dass sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen könnte, und sie musste dringend ihre Energiereserven auffüllen.
Sie hatte sich gerade gesetzt und noch nicht einmal ihre Essstäbchen aufgenommen, als die Tür knarrend aufging.
Xiao Liulang trat heraus.
Xiao Liulang kam jedoch nicht heraus, um zu essen.
Aber als sein Blick auf Gu Jiao fiel, hielt er inne und schien überrascht zu sein.
Er hatte für Gu Jiao ein Gewand ausgewählt, das er selbst nicht mehr trug, und es war immer noch zu groß für ihre schlanke Figur, wodurch sie etwas unbeholfen wirkte.
Vielleicht aus Bequemlichkeit hatte sie ihre Haare zu einem Zopf gebunden und die Ärmel hochgeschoben, sodass ihr schlanker, heller Hals und ihre zarten Handgelenke zu sehen waren.
Ohne ihre übliche arrogante Art saß sie still da und konzentrierte sich auf ihr Essen.
Sie schien nicht mehr dieselbe zu sein.
Xiao Liulangs Blick verweilte kurz auf ihr, doch schließlich wandte er sich gleichgültig ab.
In diesem Moment bemerkte Gu Jiao ihn und forderte ihn auf: "Du bist da. Komm, setz dich und iss mit."
Gegenüber von Gu Jiao stand ein weiterer Satz Schüsseln und Essstäbchen, was darauf hindeutete, dass sie tatsächlich für Xiao Liulang mitgekocht hatte – nicht nur eine beiläufige Einladung.
Doch Xiao Liulang rührte sich nicht.
Gu Jiao kannte seine Bedenken. Der ursprüngliche Hausherr und er hatten kein gutes Verhältnis, und dass sie auf einmal für ihn kochte, war verdächtig. Gu Jiao konnte aber nicht erklären, dass sie nicht mehr dieselbe Person war.
Nach gründlichem Nachdenken sagte Gu Jiao: "Uns geht das Feuerholz aus. Wenn du jetzt nichts isst, müssen wir später mehr Feuerholz verschwenden, um es wieder aufzuwärmen."
Vielleicht waren es diese Worte, die Xiao Liulang zum Nachdenken brachten. Nach einer Weile des Überlegens setzte er sich schließlich ihr gegenüber.
Als Gu Jiao Xiao Liulang zum ersten Mal begegnete, war sie von seinem Äußeren überwältigt, sonst hätte sie ihn nicht mitgenommen. Aus der Sicht anderer lag Gu Jiaos Verachtung für Xiao Liulang in seiner Beinkrankheit begründet, doch sie sah das anders.
Gu Jiao war nicht so naiv wie ihre frühere ich. Es gab Aspekte, die der ursprüngliche Hausherr nicht gänzlich verstand, aber eine einfache Erinnerungsrückschau half Gu Jiao, die Dinge zu erkennen.
Es schien, als hätte Xiao Liulang den ursprünglichen Hausherrn absichtlich provoziert.
Er wollte ihre Ehe nicht vollziehen und wollte nicht, dass sie ihm nahekam.
Tatsächlich ging es ihr genauso.
Obwohl sie ihn verbal hänselte, konnte sie sich wahrscheinlich nicht durchringen, noch weiter zu gehen.
Gu Jiao war bald satt. Nachdem sie ihr Geschirr gespült hatte, nahm sie einen Korb und ging hinaus.
Xiao Liulang fragte nicht, was sie vorhatte, und sie erklärte es nicht. So war eben ihre Beziehung.
Zu ihrer Überraschung drehte sich Gu Jiao, als sie zur Tür ging, plötzlich um und sagte: "Ich habe vorhin nicht gelogen. Uns geht wirklich das Feuerholz aus. Ich gehe zum Hinterberg, um etwas zu hacken, bevor es dunkel wird. Es könnte später regnen. Wenn ich nicht zurück bin, denk daran, die Wäsche reinzuholen."
Xiao Liulang sah sie aufmerksam an.
Die alte Gu Jiao hätte nie auf das wechselhafte Wetter geachtet, geschweige denn ihm gesagt, wohin sie ging.
Nachdem Gu Jiao weg war, blieben nur Xiao Liulang und das unberührte Essen im Haus zurück.
Da die Familie in Armut lebte, würde Xiao Liulang, so sehr er Gu Jiao auch nicht mochte, kein Essen verschwenden.
Mit gerunzelter Stirn nahm er seine Essstäbchen und aß ein Stück Lauch-Eier-Pfannkuchen.