Sie beobachtete, wie Ma Lee ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ihr Blick fiel auf die Dienstmädchen, die in der Nähe standen. Doch sobald sie diese ansah, wandten sie sich ab und beschäftigten sich hastig mit ihren Aufgaben.
Tiana sah auf die Thermoskanne in ihren Händen und war sich bewusst, dass sie keine andere Wahl hatte, als selbst nach oben zu gehen. Es war fast zehn Uhr – er musste wahrscheinlich schon zur Arbeit sein, also war es wohl keine große Sache, oder?
Sie musste nur die Treppe hochgehen, seine Tür öffnen, zum Kühlschrank gehen, die Kanne hineinstellen und wieder hinausgehen. Da war doch nichts dabei, oder? Sie war doch nicht etwa ängstlich wegen eines leeren Zimmers?
Mit diesen Gedanken überwand sie ihre Nervosität und ging die Treppe hinauf. Als sie den zweiten Stock erreichte, pochte ihr Herz.
"Es ist nur ein leeres Zimmer, Tiana! Reiß dich zusammen!" ermahnte sie sich selbst, während sie tief durchatmete. Ihre Hände, die die Thermoskanne hielten, wurden schwitzig, und sie rieb sie nacheinander an ihrem Seidenkleid ab.
Es ist nur ein Zimmer…
Ein leeres Zimmer…
Kein Grund zur Furcht…
Sie wiederholte diese Worte immer wieder in ihrem Kopf, während sie sich Nicks Tür näherte.
Vor seiner Tür angelangt, fasste sie Mut und bereitete sich darauf vor, sie zu öffnen. Da er offensichtlich ausgegangen war, klopfte sie nicht, sondern öffnete die Tür und trat ein, schloss sie leise hinter sich.
Sie stand neben der Tür still und musterte ihre Umgebung. Als sie sicher war, dass niemand da war, blickte sie Richtung Wohnzimmer und ihr Auge fiel auf den großen Kühlschrank. Sie hob ihre Füße vom Boden und ging leisen Schrittes darauf zu.
Obwohl buchstäblich niemand im Raum war, hatte sie aus irgendeinem Grund das Gefühl, dass er da war – vielleicht war es seine Ausstrahlung, die noch deutlich im Raum zu spüren war, obwohl er nicht anwesend war.
Tiana öffnete den Schrank, und ihre Augen weiteten sich entsetzt. Dort waren über zwanzig Flaschen mit Pillen und über zehn Schachteln Zigaretten, die noch unberührt waren.
Sie konnte sich nicht rühren; sie stand nur da und starrte auf den Inhalt des Schranks und vergaß den eigentlichen Grund ihres Kommens.
War er so krank? Psychisch krank?
Tiana fragte sich, was ihm zugestoßen sein könnte, dass er so viele Pillen nehmen musste! Nachdem sie eine Weile starre, stellte sie die Thermoskanne hinein und schloss den Schrank wieder. Sie wollte gerade gehen, als ihr Blick auf etwas im Wohnzimmer fiel, und sie hielt inne.
Statt sich zur Tür zu bewegen, ging sie tiefer ins Wohnzimmer hinein. An der Wand hingen Bilder von Menschen; Nicklaus glich der Frau mit einem schönen Lächeln im Gesicht ungemein – sie war wunderschön. War das seine Mutter?
Ihr Blick glitt über ein weiteres Bild – es zeigte einen Mann – und dann über ein drittes, auf dem ein kleines Mädchen zu sehen war, kaum vier Jahre alt. Die Verbindungen zwischen diesen Menschen und Nicklaus waren offensichtlich, und Tiana erkannte, dass es sich um seine Familie handeln musste.
Aber wenn das seine Familie war, warum hatte sie sie gestern beim Abendessen nicht gesehen? Warum hatte niemand sie auch nur erwähnt?Waren sie tot?
Als dieser Gedanke in ihren Kopf schoss, weiteten sich ihre Augen.
Könnte es sein, dass seine ganze Familie tot war? War das der Grund für seine Kühle?
Während sie noch darüber nachdachte, hörte sie, wie sich eine Tür öffnete und Schritte den Raum betraten. Sofort drehte sie ihren Kopf in die Richtung des Geräusches. In diesem Moment fragte sie sich, warum der Boden sich nicht auftat und sie verschluckte.
Nicklaus trat mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Bad; seine Haare waren nass und ein paar Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Sein Oberkörper war unbekleidet, was einiges von seinen durchtrainierten Bauchmuskeln preisgab. Auf seiner linken Brust und entlang seiner Rippen war ein flammendes Tattoo, das bis zu seiner Hüftlinie reichte und unheimlich sexy aussah.
Tiana war bis ins Mark erschrocken, verstand aber nicht, warum sie ihn noch immer musterte. Ihr Gesicht war blass vor Angst und Panik, sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Nicklaus konnte kaum glauben, was er sah; war da wirklich eine Frau in seinem Zimmer? Oder bildete er sich das nur ein?
Das Handtuch zum Trocknen seiner Haare hing noch in der Luft, während er Tiana schockiert anstarrte. Sie standen regungslos da und starrten sich über eine Minute lang mit dem gleichen Gesichtsausdruck an, bevor Nicklaus endlich sprach:
„Was machst du hier?"
Seine Stimme war tief und autoritär, seine Stirn in Sorge gefaltet; er wollte wissen, was sie dazu brachte, in sein Zimmer zu kommen, während er duschte, und sein Wohnzimmer zu betreten, als wäre es ein Spielplatz.
Ein Schauder lief Tiana über den Rücken und eine Gänsehaut breitete sich auf ihrer Haut aus. Hätte sie gewusst, dass er da war, wäre ihr der Gedanke, hierherzukommen, nicht einmal in den Sinn gekommen, ganz gleich welche Konsequenzen sie hätte erwarten können.
Was sollte sie tun? Wie konnte sie erklären, dass sie gekommen war, um seinen Tee in den Kühlschrank zu stellen, während sie in seinem Wohnzimmer stand, einige Meter entfernt von eben diesem Kühlschrank?
Tiana wusste, dass ihr Ende nahe war, sie betete nur, dass es weniger schmerzhaft sein würde.
"Herr Nicklaus… ich kann das erklären…", sagte sie und hob beschwichtigend die Hände.
Nicklaus sagte nichts, er beobachtete sie nur; Tiana nahm das als Erlaubnis weiterzusprechen:
„Ich… ich habe gestern vergessen, den Dienstmädchen Ihren Kamillentee zu geben, also… also habe ich ihn heute Morgen Ma Lee gegeben und sie sagte, ich solle ihn selbst hochbringen. Herr Nicklaus, hätte ich gewusst, dass Sie da sind, wäre ich nicht gekommen. Ich dachte, Sie wären ausgegangen. Es tut mir leid, dass ich Ihre Privatsphäre gestört habe.
Ich werde jetzt gehen."
Sie drehte sich sofort um und eilte zur Tür, aber Nicklaus' Stimme hielt sie auf, bevor sie die Tür erreichen konnte:
„Wer hat dich gebeten zu gehen?"