"Mom!" Mit einer hastigen Bewegung wischte sie ihre Tränen mit dem Handrücken weg und drehte sich zu ihr um.
"Hör jetzt auf zu schauspielern, Marissa. Machen wir uns nichts vor. Ich bin nicht deine Mutter und du bist nicht meine Schwiegertochter…"
"A…aber…"
"Keine Ausreden, Marissa. Du warst da, als Valerie nicht verfügbar war. Akzeptiere die Tatsache! Er liebt sie. Er wird sie nie verlassen. In seinen Gedanken ist sie diejenige, die immer an seiner Seite war."
"A… aber du könntest ihm sagen, dass… "
"Sagen, was? Dass du seine Frau bist? Auf keinen Fall!" Auf ihren Lippen lag ein sarkastisches Grinsen, "Sei einfach vernünftig, Marissa. Sei dankbar, dass du all die Zeit den Reichtum unserer Familie genießen konntest. Du hattest die Chance, neben ihm zu schlafen, als alle Mädchen verrückt danach waren, nur einen Blick auf ihn zu erhaschen. Dein Leben war die ganze Zeit über luxuriös. Was willst du denn noch, Liebling?"
Marissa schloss mit einer Mischung aus Enttäuschung und Resignation die Augen. "Das heißt… das heißt, du hast mich benutzt. Nicht wahr?" Ihr entfuhr ein humorloses, bitteres Lachen.
"Das hast du ebenso getan!" entgegnete Nina mit hochgezogenen Schultern, "Wenn du willst, kann ich dich dafür bezahlen, damit du in Komfort leben kannst."
"Und was wenn…" Marissa schluckte schwer, "was, wenn ich in dieser Zeit schwanger geworden wäre? Was, wenn wir ein Kind bekommen hätten? Was dann?"
Nina kam mit ihrem Gesicht bedrohlich nah an Marissas heran. "Dann hätte ich es getötet."
Marissa keuchte auf, aber die skrupellose Frau nickte bestätigend. "Richtig. Sinclairs Erbe wird nur von einer Frau geboren, die extrem schön ist und neben meinem gutaussehenden Sohn adrett und elegant wirkt. Du bist nicht geeignet, Sinclairs Erben zur Welt zu bringen. Wir haben unsere Standards, Mädchen."
Mit schwerem Herzen trat Marissa einen Schritt zurück und versuchte zu lächeln: "Verstanden."
Als sie das Krankenhaus verließ, wollte sie laut weinen. Sie wurde ausgenutzt. Von allen ausgenutzt.
"Wie soll ich das nur unseren Kindern erklären?" schluchzte sie und lehnte ihren Kopf erschöpft gegen die Rücklehne des Taxis. Zwei Jahre lang war sie in Luxusautos gefahren, und heute war sie wieder am Ausgangspunkt.
Als sie das Sinclair-Anwesen erreichte, herrschte Stille im Wohnzimmer. Zwei Dienstmädchen reinigten die Möbel und Marissa wurde klar, dass dies nicht die gleichen Gesichter waren, die sie täglich gesehen hatte.
Nina Sinclair hatte eine Grenze überschritten, als sie das gesamte Hauspersonal ausgetauscht hatte.
Es war gefährlich, in diesem Haus zu bleiben. Falls Nina von ihrer Schwangerschaft erfahren würde, könnte sie ihre Babys töten.
"Nein. Das kann ich nicht zulassen." Sie eilte in ihr Schlafzimmer und öffnete die Tür, nur um Valerie bereits dort drinnen zu finden.
"Hier. Pack deine Sachen und verschwinde. Aber beeil dich." Sie warf zwei große leere Taschen auf den Boden.
Marissa sah sich in dem Raum um, in dem sie mit ihrem Ehemann die schönsten Zeiten ihres Lebens verbracht hatte. Wie verzweifelt er in den ersten Tagen schien, und sie hatte sich geschworen, nie von seiner Seite zu weichen.
"Es tut mir leid, Rafael, dass ich mein Versprechen nicht halten kann. Aber das Leben unserer Kinder steht auf dem Spiel, Liebling." Sie musste stark sein, um ihrer Kinder willen.
Sie hatte weder einen Beweis für ihre Heirat, noch Zeugen dafür. Immer wenn Rafael jemanden aus seinem Büro anrufen wollte, ließ Nina es nicht zu, dass sie jemanden von ihnen zu Gesicht bekam.
Das Paar blieb immer im Haus, weil Rafael nie hinaus wollte. Er drängte sie zwar, auf Partys oder zum Shoppen zu gehen, aber sie weichte nie von seiner Seite.
Wenn sie ein- oder zweimal im Freien zu Abend essen wollten, sorgte Nina dafür, dass alles in ihrem privaten Garten arrangiert wurde.
Romantische Abendessen bei Kerzenschein waren selten, denn für Rafael hatte das keinen Sinn und sie hatte kein Interesse daran, weil sie sich nur nach seiner Nähe sehnte.
Das Packen dauerte nicht lange, als sie nur einen Koffer zu füllen hatte. Valerie stand die ganze Zeit dabei und passte auf sie auf.
"Tut mir leid. Ich kann nichts dem Zufall überlassen. Unsere Wertegegenstände müssen sicher sein." erklärte sie mit einem hinterlistigen Lächeln.
Als Marissa fertig war, hob sie ihre Tasche hoch und begann die Treppe hinabzusteigen.
In der Tasche war nichts außer ihrer Kleidung und Dokumenten. Sie hatte ihr Studium aufgegeben, nur um ihrem Mann rund um die Uhr Gesellschaft zu leisten.Sie kam herunter und ging in die Küche, um sich ein Glas Eiswasser einzuschenken, als sie im Wohnzimmer ein Geräusch hörte.
"Rafael. Du bist früh dran", bemerkte sie Valerie, die ihm mit einem Lächeln entgegentrat, "willkommen zu Hause."
Rafael warf einen gleichgültigen Blick in Marissas Richtung und lächelte dann Valerie zu.
"Ich wollte mit meiner Frau zu Mittag essen." Er zog einen Stuhl zurück und setzte sich. "Was gibt es denn zum Mittagessen?"
Zum ersten Mal spürte Marissa eine Nervosität bei Valerie, "Ich ... Ich muss den Koch fragen."
"Koch?" Er runzelte die Stirn und blickte auf, "Du hast doch immer für mich gekocht. Warum jetzt nicht? Erinnerst du dich nicht? Du hast mir versprochen, meine Lieblings-Rindsfajitas zu kochen, wenn ich entlassen werde", sagte er und nahm ihre Hand, "Macht nichts. Bleib einfach bei mir."
Marissa wusste, wovon er sprach. Sie erinnerte sich daran, wie er immer in der Küche saß, während sie seine Lieblingsspeise zubereitete. Sie sah immer wieder zu Rafael hinüber und wollte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpassen, um ihm zu sagen, dass dies alles ein Fehler war.
Er war dabei, einen großen Fehler zu machen.
"Ich gehe jetzt, Rafael", versuchte sie, seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
"Ich wünschte, du könntest mit uns zu Mittag essen, Marissa. Aber du bist so egozentrisch und stur geworden, du selbstsüchtige Frau! Ich würde es bevorzugen, wenn du nicht länger hier wohnen würdest."
Er sagte das, ohne ihr in die Augen zu schauen, "Geh und lerne, auf eigenen Beinen zu stehen anstatt auf mein Geld zu schielen. Hör auf zu träumen, meine Blindheit ausnutzen zu können. Ich bin nicht mehr blind."
Marissa hielt es nicht mehr aus: "Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Rafael Sinclaire, aber jetzt bist du ein Blinder, der nichts mehr um sich herum sehen kann. Vor drei Tagen warst du nicht blind. Du konntest alles sehen, als du blind warst."
"Marissa!", trällerte ihre Ex-Schwiegereutting, "komm, iss mit uns. Als Valeries Schwester würde es mich freuen, wenn du uns Gesellschaft leistest."
Marissa wusste, warum Nina das tat. Nur, um Rafael zu zeigen, dass sie es nicht eilig hatte, sie loszuwerden.
Für einmal funkelte Marissas Augen böse: "Klar, Nina. Wenn du das so willst." Sie ignorierte Ninas blasse Miene und nahm direkt neben Rafael Platz.
Ehe Rafael protestieren konnte, zeigte Valerie ihm ihr schönstes Lächeln: "Schon gut, Rafael. Sie ist schließlich meine Schwester und wird bald gehen."
Um ihr Gesicht zu wahren, zeigten beide Frauen ihm nicht ihre schlechte Seite.
"In Ordnung", murmelte er und wartete ab, während die Diener anfingen, die heißen Gerichte auf den Tisch zu stellen.
Als Rafael seinen ersten Bissen nahm, hielt er inne und schloss die Augen.
"Dieser Geschmack ist nicht der, an den ich mich gewöhnt habe", sprach er eher zu sich selbst und betrachtete den Hackbraten auf seinem Teller.
"Vielleicht hat der Verlust des Augenlichts deine Geschmacksknospen sensibilisiert", gab Valerie ihm eine Erklärung, die ihn zu überzeugen schien.
"Vieles kann sich verändern, Rafael." Marissa sprach leise und spielte mit ihrem Essen: "Schade! Du wirst es heute nicht erkennen."
Als Rafael aufhörte zu essen, neigte er den Kopf zur Seite und musterte die Frau, die früher so zurückhaltend und schüchtern war, als er mit Valerie zusammengekommen war.
Marissa fühlte, wie seine grünen Augen auf ihr ruhten. Sie alle waren wohl neugierig, was sie meinte, denn nur Rafael konnte sie hören. Sie hatten sich wohl ins eigene Fleisch geschnitten, als sie ihr nicht nur anboten, beim Mittagessen zu bleiben, sondern auch nichts dagegen hatten, dass sie sich neben ihn setzte.
"Halte deine Zunge im Zaum, Marissa. Noch ein Wort gegen meine Frau und du könntest es bereuen." Dieses Mal trafen sich Marissas Augen mit seinen grünen, und sie fragte sich, ob sie diese jemals wieder sehen würde.
"Sei glücklich, Rafael." Sie lächelte ehrlich: "Vielleicht wirst du es auch bereuen, wenn ich weg bin." Sie spürte, wie Rafael erstarrte. Sie beendete ihr Essen auf ihrem Teller und schob den Stuhl zurück, um aufzustehen.
"Lebt wohl, alle zusammen."
Sie griff nach ihrer Tasche und ignorierte Rafaels neugierige Blicke. Ihr Überlebensmodus war aktiviert, und sie wollte keine weiteren Probleme verursachen.
"Lass uns hier raus, meine Lieben. Dieser Ort ist nichts für euch." Mit diesen Worten verließ sie das Haus, in dem sie die besten zwei Jahre ihres Lebens verbracht hatte.