"Also gut, ich mache mich jetzt auf den Weg," sagte Rui und joggte aus der Haupttür des Waisenhauses.
"Pass auf und verirr dich nicht!" mahnte Lashara.
Rui zeigte das Daumen-hoch-Zeichen, auch wenn er sich bereits vom Waisenhaus entfernte.
('Ich frage mich, wie sein Zuhause aussieht.')
Kane hatte ihn eingeladen, zu ihm nach Hause zu kommen, bevor sie die Akademie nach der Einführungsfeier verlassen hatten. Das war für Rui etwas Neues, obwohl er wusste, dass es auf der Erde gang und gäbe war. Seine Krankheit hatte es ihm in seinem früheren Leben auf der Erde verwehrt, Freunde zu treffen. Schweres chronisches Asthma war eine Krankheit, die selbst einfache und relativ unbeschwerliche Aufgaben wie den Besuch bei einem Freund sehr schwierig machten, nicht dass er in seiner Kindheit überhaupt Freunde gehabt hätte.
('Wahrscheinlich ist es ein prunkvolles Anwesen.') vermutete Rui.
Kanes Heim befand sich fast im Zentrum von Hajin, der Stadt, am Rande derer das Quarrier-Waisenhaus mehr oder weniger lag. Rui plante, einen Teil des Weges zu joggen, wo er sich dann mit einem Diener der Arrancar-Familie treffen sollte, der ihn dann zum Haus der Arrancars begleiten würde.
Auf seinem Weg wurde die Umgebung immer dichter besiedelt und entfaltete sich. Das Quarrier-Waisenhaus lag etwas abgelegener, näher an den offenen Feldern, auf denen die Ernte angebaut wurde. Aber je weiter Rui in die Stadt kam, desto mehr nahmen Bevölkerungsdichte und Infrastruktur zu.
Die Kampfakademie war ein Segen für die Stadt. Sie zog jedes Jahr viele Menschen aus dem ganzen Imperium an, besonders viele Jugendliche.
Die Kampfakademien förderten offensichtlich den wirtschaftlichen Aufschwung. Alleine für ihren Erhalt benötigte jede Akademie enorm viel Arbeitskräfte und Ressourcen. Es gab eine große Zahl an Lieferanten und Herstellern in der Stadt, die die Akademie mit notwendigen Waren und Gütern versorgten. Viele Menschen zogen in die Stadt und fanden Arbeit bei der Akademie. Ebenso zogen viele Jugendliche in der Hoffnung, die jährliche Aufnahmeprüfung für den Kampfsport bestehen zu können, nach Hajin. Die Aufnahmeprüfungen fanden im Winter statt, wenn es schwieriger war zwischen den Staaten zu reisen, weshalb viele nicht einheimische Bewerber sich bereits frühzeitig in der Stadt niederließen.
Die Kampfakademie stärkte somit den Anbieter- als auch den Nachfragermarkt. Es war keineswegs übertrieben zu behaupten, dass die Wirtschaft der Stadt Hajin ohne die Akademie über Nacht einbrechen würde. Das Verschwinden der Akademie würde dazu führen, dass die Nachfrage dramatisch einbrechen würde, was zu einem Überangebot auf dem lokalen Markt führen und die Preise erheblich senken würde. Kleinere Lieferanten, Unternehmen und Einzelhändler könnten nicht über Wasser bleiben und müssten in andere Teile des Imperiums umziehen.
Ein großer Anteil der Einwohner, die bei der Akademie angestellt oder darauf aus waren, dort einen Platz zu bekommen, wäre plötzlich arbeitslos und würde wahrscheinlich auch abwandern. Nach einer chaotischen Übergangszeit würde das BIP der Stadt unweigerlich erheblich sinken.
('Das muss einer der Wege sein, wie die Kampfunion ihre politische und wirtschaftliche Macht behauptet. Mal abgesehen von der direkten Autorität und dem Kapital, ist der passive Einfluss und die Notwendigkeit der Akademien, auch bekannt als die Union, für die Gesellschaft immens.') dachte Rui nach, als er seinen Treffpunkt erreichte.
"Master Quarrier, nehme ich an?" fragte eine Stimme hinter ihm.
Rui drehte sich um und betrachtete den Mann. Er trug schlichte, aber luxuriöse Kleidung mit dem Wappen der Arrancar Familie, das auf der linken Brustseite eingestickt war.
"Ja, Rui Quarrier", bestätigte er. "Sind Sie gekommen, um mich abzuholen?"
"In der Tat, bitte folgen Sie mir hier entlang." Er deutete auf eine von Pferden gezogene Kutsche.Eine Kutsche, also? Mein erstes Mal.
Tatsächlich war es sein erstes Mal, in diesem wie im vorherigen Leben. Besonders aufgeregt war er deswegen nicht. Als jemand, der sein ganzes Leben in einer Welt von Autos, Fahrrädern, U-Bahnen und Flugzeugen verbracht hatte, konnte er eine Kutsche nicht unbedingt als große Sache betrachten. Ganz offen gesagt, für ihn war es nichts Besonderes.
Trotzdem spielte Rui die Rolle des armen Waisenjungen und tat ganz begeistert über das Privileg, in einer Pferdekutsche fahren zu dürfen.
"Wow, eine Pferdekutsche!" rief er möglichst überzeugend aus, während er die in ihm aufsteigende Verlegenheit unterdrückte.
"Bitte machen Sie es sich bequem", sagte er, öffnete die Tür und deutete auf die edlen, luxuriösen Sitze im Inneren.
"Wie lange wird die Fahrt dauern?" erkundigte sich Rui.
"Nicht länger als zwanzig Minuten", antwortete er.
Länger, als ich erwartet hätte, dachte Rui. Wenn es noch kürzer wäre, würde es kaum Sinn ergeben, extra eine Kutsche zu schicken, obwohl es auch um die Überprüfung meiner Identität ging.
Kane hatte ihm erklärt, dass normalerweise eingeladene Gäste ein Einladungsschreiben bekämen, um das Gelände zu betreten. Doch Kane hatte keines zur Hand, da er Rui spontan eingeladen hatte, ohne zuvor etwas zu planen.
Nun, er wusste nicht, ob ich überhaupt bestanden hatte. Die Einladung war wirklich sehr spontan, überlegte Rui und verspürte eine wachsende Vorfreude.
Normalerweise luden Kinder einander zum Spielen ein.
Kane hatte ihn zum Sparring eingeladen.
Und Rui hatte ohne Zögern zugesagt.
Hätte Kane Rui zum Kartenspielen eingeladen, hätte dieser die Einladung sicherlich mit irgendeiner Ausrede abgelehnt. Den ganzen Weg hierher reisen und dann einen ganzen Tag bei jemandem mit Kartenspielen verbringen? Schon der Gedanke, so viel Zeit zu verschwenden, wo doch die Akademie in einem Monat startete, ließ Rui schmunzeln.
Sparring war jedoch eine ganz andere Sache. Rui hatte nur sehr wenig Erfahrung und in diesem Stadium war er nach Erfahrung dürstend. Dies war das Eine, das er mit seinem Fachwissen über Kampfkünste und dem Training von Kampfsportarten nicht ersetzen konnte. Kampferfahrung war unersetzlich; sie war höchst bedeutend. Er freute sich darauf, so viel wie möglich zu sammeln, besonders von jemandem wie Kane, der ein weit überlegener Kämpfer war als Rui selbst.
Wie aufregend!