Der Morgen eines neuen Tages brach an, und zur großen Verwunderung von Raze war es – trotz der harten Holzdielen, auf denen er geschlafen hatte – der erholsamste Schlaf, den er seit Langem genossen hatte. Die innere Unruhe fehlte.
Keine Angst mehr, verfolgt oder angegriffen zu werden; seine Träume waren erfüllt von hoffnungsvollen Visionen dessen, was die Zukunft bringen mochte. Als er den Schlaf aus seinen Augen rieb, war er angenehm überrascht, Safa bereits wach vorzufinden, die in einer meditativen Pose auf dem Bett saß.
"Du bist fleißig, wie ich sehe", stellte Raze fest. "Das solltest du beibehalten. Man weiß nie, wann sich die Welt auf den Kopf stellt, und wer weiß, ob diese Leute nicht zurückkommen, um uns zu töten."
Sein unerwarteter Kommentar brachte Safa aus ihrer Konzentration. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie an den Tod ihrer Eltern dachte.
"Oh, komm schon!", protestierte Raze. "Der Tod ist jetzt ein paar Tage her. Bist du immer noch nicht darüber hinweg?"
Leicht irritiert verließ Raze den Raum. Als er die Tür hinter sich schloss, fühlte er wieder diese Schwere in seiner Brust. Der Tod, der Verlust von geliebten Menschen, war Teil seiner Realität geworden.
Das Einzige, was man tun konnte, war sich darauf zu konzentrieren, wie man weitermacht.
'Wenn man jemanden verliert, muss man all seine Energie auf das nächste Ziel lenken... und mein Ziel ist es, sie loszuwerden.'
Der Tag begann ähnlich wie der vorherige, mit den Kindern, denen verschiedene Aufgaben im Haus zugeteilt wurden. Diesmal war Raze jedoch da, sodass er beim Frühstückszubereiten helfen musste.
Er und Simyon arbeiteten wieder zusammen und kochten Knochen, um eine frische, heiße Knochensuppe zuzubereiten.
"Weißt du, deine Schwester war gestern beeindruckend mit ihren Bewegungen; sie hat wirklich Talent", sagte Simyon. "Du wirst dich ein wenig anstrengen müssen, um aufzuholen. Ich bin mir sicher, wenn sie älter ist, werden viele Jungs hinter ihr her sein; du wirst sie vielleicht abwehren müssen."
"Warum sollte ich das tun müssen?" fragte Raze. "Sie ist besser als ich, also kann sie sie doch wohl selbst in die Schranken weisen."
"Es ist eben das, was eine Familie ausmacht!" erklärte Simyon. "Es geht nicht darum, wer stärker ist; schließlich bist du ihr großer Bruder."
"Nun, wir stehen uns nicht so nahe", entgegnete Raze, während er in der Suppe rührte. "Also muss sie das alleine auf die Reihe kriegen."
Simyon schwieg plötzlich, bevor er ein paar Worte fand.
"Du solltest aufpassen, Raze. Man weiß nie, was man verloren hat, bis es weg ist; du solltest die Zeit mit deiner Familie wertschätzen."
Es war das erste Mal, dass Raze Simyon so ernst sah; er war immer heiter in seinen Worten. Deshalb beschloss Raze zu schweigen, aber in Wahrheit hatte er durchaus etwas erwidern wollen.
'Glaub mir, ich weiß das besser als irgendjemand sonst.'
Als sie bereit waren, zum nächsten Schritt überzugehen, betrat Herr Kron plötzlich den Raum.
"Ah, sehe ich, ihr beide seid nahezu fertig. Raze, wäre es in Ordnung, wenn ich mich kurz mit dir unterhalten könnte? Simyon, könntest du in der Zwischenzeit den anderen helfen, die Halle zu säubern? Wenn Raze und ich zurück sind, servieren wir allen das Frühstück."
"Natürlich!" Simyon stimmte zu, warf einen kurzen Blick zurück und verließ dann den Raum.
'Das ist schon merkwürdig; warum wohl will Herr Kron mit Raze sprechen? Hat er etwas falsch gemacht?'Trotzdem setzte Simyon seinen Weg fort und betrat die große Haupthalle, die mit Waffen bestückt war, die Staub angesetzt hatten. Im hinteren Bereich stand eine riesige Statue einer legendären Gestalt, die zur Gründung der Dunklen Fraktion beigetragen hatte.
Das Gesicht war nicht erkennbar, denn die Statue zeigte eine vermummte Figur; der Anführer wurde stets so dargestellt. Über den großen Holzboden verstreut, hatten die Kinder jeweils ihren eigenen Reinigungsbereich. Simyon sah, wie Safa fleißig am Schrubben war.
'Hmm, Raze ist manchmal schwer zugänglich; es wäre gut, näher an Safa heranzukommen, um mehr herauszufinden... aber sie kann nicht sprechen. Aus irgendeinem Grund kommt sie mir dennoch zugänglicher vor.'
Simyon näherte sich Safa, als plötzlich ein Eimer mit schmutzigem Wasser umkippte und den Bereich überschwemmte, den Safa gerade geputzt hatte.
"Verdammt!" rief Gren aus. "Der Eimer ist umgekippt. Das tut mir leid, wo du doch eben fertig warst. Aber macht dir das was aus, nochmal von vorn anzufangen?
"Ich habe nichts dagegen, für dich sauber zu machen, aber wenn du es willst, musst du mich einfach fragen. Du musst nur die Worte sagen: 'Kannst du das bitte putzen'."
Als er seine Aussage beendete, mussten sich die Zwillinge Biyo und Giyo ein Kichern verkneifen. Sie wussten, dass sie nicht sprechen konnte; das war allgemein bekannt.
'Verdammt… Warum musste Gren ausgerechnet sie ins Visier nehmen?' dachte Simyon genervt.
Safa sagte natürlich nichts und machte sich daran, das frische Chaos zu beseitigen. Sie kannte das Spiel und nahm es hin.
Die Zwillinge hatten plötzlich eine Idee. Mit ihren Eimern voller Schmutzwasser liefen sie auf Safa zu.
"Hey Giyo, hör auf, mich zu schubsen!"
"Nein, du hörst auf, mich zu schubsen, Biyo!"
Als sie zusammenstießen, flogen die Eimer durch die Luft und ergossen ihren Inhalt über Safa. Die anderen Kinder merkten auf, als sie sahen, wie Safa vom schmutzigen Wasser durchnässt wurde. Die Szene kam ihnen bekannt vor; Safa war schon öfter das Ziel gewesen.
——
Gemeinsam mit Herrn Kron betrat Raze dessen Arbeitszimmer. Es war Razes zweiter Besuch in diesem Raum. Anstatt Platz auf dem Sofa zu nehmen, stand er vor dem Schreibtisch, während Herr Kron sich in seinem Stuhl zurücklehnte.
"Ich habe über die Situation von gestern nachgedacht und darüber, dass ich dir nicht helfen konnte. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu einem Entschluss gekommen", begann Herr Kron, während er eine kleine Schachtel hervorholte und auf den Tisch legte. "Du hast Talent, Raze, und es wäre unmenschlich, dich schutzlos in die Welt zu entlassen."
Herr Kron öffnete den Deckel der Schachtel und legte eine rote, kleine Kugel frei.
"Was du hier siehst, ist eine Essenz-Fundament-Pille. Wenn du sie einnimmst, wird sie dir so viel Qi vermitteln, wie ein ganzes Jahrzehnt der Kultivierung. Bei deiner Konstitution hat sie vielleicht nicht denselben Effekt, aber sie könnte genau der Katalysator sein, den dein Körper braucht, um sein Fundament zu bilden."
Raze konnte seinen Blick nicht von der Pille abwenden, doch es war nicht Herrn Krons Worte, die ihn fesselten. Es war die Energie, die von der Pille selbst ausging. Mit seiner Fähigkeit, Mana in der Luft zu manipulieren, war gerade er sehr empfindlich für Energie.
'Diese Pille… sie strahlt dieselbe Energie aus wie ein Energiekristall eines Tieres aus einer anderen Welt! Könnte ich das nutzen... um nach Alterian zurückzukehren? Um meine Welt wiederzusehen?'