Razes Hand zielte auf Grens Hinterkopf. Gren hatte sich erhoben und humpelte auf den Tempelausgang zu, ganz ähnlich, wie Raze es kurz zuvor bei Safa beobachtet hatte.
Als er dies sah, war Raze in seiner Entschlossenheit bestärkt.
"RAZE, NICHT!" Ein lauter Schrei erscholl von den Tempeltoren.
Raze drehte den Kopf, um zu sehen, wer schrie, und sah Simyon auf sich zurennen.
"Stopp, tu nichts, was du bereuen könntest!" rief Simyon und es sah so aus, als würde er sich zu einem Rugby-Tackle ansetzen. Raze warf einen Blick dorthin, wo Gren gestanden hatte, doch er war spurlos verschwunden.
'Verdammt!' dachte Raze, senkte seine Hand und ließ seine Magie verpuffen. 'Wenn er so schnell entkommen konnte... Hat er irgendeine besondere Fähigkeit oder hat ihm vielleicht Qi geholfen? Nicht zu glauben, besonders mit diesem verletzten Bein. In meinem Zustand werde ich ihn niemals fangen.'
Mit diesem Gedanken wandte er sich Simyon zu, mit zusammengezogenen Augenbrauen.
"Weißt du eigentlich, was du gerade angerichtet hast?"
Simyon, außer Atem von seinem Spurt, kam direkt vor ihm zum Stehen.
"Hör zu, ich mag den Kerl genauso wenig wie du, aber du kannst doch nicht einfach Leute verletzen. Es sah so aus, als würdest du ihn töten wollen. Willst du wirklich diese Last tragen?" fragte Simyon.
"Menschen töten? Sag mal, wenn ein wildes Tier deine Familie getötet oder angegriffen hätte, würdest du nicht alles einsetzen, um es zu töten?" konterte Raze.
Ohne dass Raze es wusste, waren Simyons Familie in der Vergangenheit von Bestien aus einem Portal getötet worden. Das von Raze beschriebene Szenario berührte Simyon tief.
"Natürlich würde ich das. Ich würde alles tun, um mich und meine Familie zu schützen", erwiderte Simyon.
"Genau darum geht es. Ich beschütze mich und meine Familie in diesem Augenblick. Dein Problem ist, dass du Menschen, Bestien und Tiere unterschiedlich behandelst. In Wirklichkeit ist es alles dasselbe. Menschen sind sogar grausamer als diese Bestien, wenn man es recht bedenkt. Bestien handeln aus Instinkt, während Menschen sich bewusst für ihre Handlungen entscheiden!" rief Raze aus.
Raze starrte weiter in die Richtung, in die Gren geflohen war, doch die Hoffnung schien zu schwinden. Nach dem, was er getan hatte, waren die Chancen, dass Gren zurückkehren würde, gering.
Simyon konnte nicht aufhören, über Razes Worte nachzudenken.
"Denk dran, Simyon, du hast ihn laufen lassen. Wenn er zurückkommt, könnte er Schlimmeres anrichten als das, was er Safa heute angetan hat. Das wird an dir hängen", sagte Raze, ging an Simyon vorbei und zurück in den Tempel.
Dass Raze so sprach, dass er Menschen und Bestien als gleichwertig ansah, war für Simyon schwer zu verstehen. Tatsächlich sah er sie nicht als gleich an. Doch für ihn war klar, dass er die Menschen für schlimmer hielt.Simyon grübelte nach. "Was hast du nur für ein Leben hinter dir... Liegt es daran, dass deine Familie durch Menschen getötet wurde und die meine durch Monster?" Als ihm klar wurde, was er ausgesprochen hatte, schossen ihm die Worte durch den Kopf.
"Warte! Was ist mit Safa? Geht es ihr gut? Raze, sprich mit mir!" rief Simyon aus und setzte dem anderen nach.
Das war hart für Raze gewesen; mehrmals hatte er den Dunklen Puls verwendet und viel Mana verbraucht. Er brauchte eine Pause und fragte sich, wie viel Simyon wohl mitbekommen hatte.
Gren war kurz vor dem Tempel in den Wald gelangt, sein Bein schmerzte heftig von der Wunde, die Raze ihm zugefügt hatte. In einem Moment der Chance, als Raze abgelenkt war, brach eine Welle des Qi aus seinem tiefsten Inneren hervor. Dieses Qi war stärker als jeder Adrenalinschub.
Es gab Gren die Kraft, auf seinem verletzten Bein zu laufen, aber die Macht lies schnell nach. Unsicher, ob Raze ihn verfolgte, entschloss sich Gren, im Wald Schutz zu suchen. Die Sonne war nun vollständig untergegangen, Umgebung war stockdunkel, was bedrückend war. Bei jedem Geräusch raschelnder Büsche oder dem Schatten eines Baumes fürchtete er die Gestalt mit den weißen Haaren zu sehen, doch das war alles nur Einbildung.
Schließlich fand Gren einen großen Felsblock, auf dem er sich niederließ, um Atem zu schöpfen - sein ganzes Qi hatte er aufgebraucht.
"Was war das? Was hat er gegen mich eingesetzt? Er hat meinem Bein ein Loch verpasst, und meine Hand... Verdammte Axt, meine Hand ist weg!" Panik schwang in Grens Stimme mit. Seine Lage war verzweifelt.
Er konnte nicht zum Tempel zurückkehren, denn er fürchtete nicht nur Herrn Kron, sondern auch den Zorn des Jungen mit dem weißen Haar. Zudem würde ihn kein Clan mehr aufnehmen, jetzt, wo ihm die Kristalle abgenommen worden waren.
Als er seine Hand erneut betrachtete, wurde ihm das ganze Ausmaß seiner Situation bewusst.
'Mit dieser Verletzung ... werde ich von allen als Krüppel angesehen. Kann ich überhaupt noch einen Job finden, um mich selbst zu ernähren?'
Als er seine Wunden prüfte, stellte er fest, dass sie verschorft waren, so dass er zumindest nicht blutete. Das war immerhin ein Lichtblick. Vielleicht wäre es am besten, hier im Wald zu sterben und von den Tieren gefressen zu werden.
Während er tiefer in den Wald vordrang, dachte Gren über die Ereignisse nach, die zu dieser Lage geführt hatten. Obwohl er sich hoffnungslos fühlte, trieb ihn sein starker Überlebenswille dazu, sich vom Tempel zu entfernen.
Plätscherndes Wasser drang an Grens Ohren. Vor ihm schlängelte sich ein Bach den Berg hinunter. Zahlreiche Trittsteine führten zu ihm. Von Durst getrieben näherte sich Gren dem Bach vorsichtig. Er wollte nicht das Risiko eingehen, hineinzufallen. Doch als er sich dem Wasser näherte, zogen seltsame Erscheinungen in der Luft seine Aufmerksamkeit auf sich.
'Ist das etwa... Funkensprühen?'
Das Schauspiel erinnerte an ein Feuerwerk, das in der Dunkelheit leuchtete und glitzerte. Die Funken wuchsen, bis sie direkt vor ihm einen riesigen, leuchtenden Kreis formten. Obwohl ihm das Phänomen fremd war, kam ihm eine erschreckende Vermutung.
'Ist das... Nein, das kann doch nicht sein. Ein Portal?'
Gren wandte sich zum Weglaufen, doch aus dem Portal strömten dünne Tentakel heraus. Sie umschlangen seinen Kopf, sein Gesicht und seine Beine, hoben ihn in die Luft und zogen ihn hinein. Als er ins Portal hineingezogen wurde, schnappte es zu und verschwand ebenso abrupt, wie es aufgetaucht war.