"Wer bin ich, fragt ihr euch vielleicht,
mein Antlitz ist nur Schein
für das Ungeheuer tief in mir,
ich versuch's zu verbergen, fein.
Doch schaut ihr tiefer in die Augen mein,
entdeckt ihr bald die Maskerade.
Denn Mensch bin ich keiner, keine Seele mein Eigen,
kein Herz, und die Bestie, sie tobt ohne Gnaden.
Allein, des Nachts leid' ich schwer,
bei Sonnenaufgang tu' ich, als wär' alles klar.
Mein einziger Wunsch, frei von den Ketten zu sein
und vom Hass, der durchzieht meine Adern gar.
Das Ende naht, das ist mir klar,
mein eigen Grab werd' ich schaufeln,
ruhn ohne Furcht, denn, das schwör' ich, wahr,
der Tod ist's, wonach ich trachte.
Rayven schlug das Buch zu. Wer es auch verfasst haben mochte, hatte sein Leid so treffend beschrieben. Der Tod, ja, danach sehnte er sich tatsächlich. Sein Blick wanderte zu den trainierenden Jungen, blieb an William hängen. Der Junge gab alles, besserte sich von Tag zu Tag. Er holte die älteren Jungen ein, die länger trainierten als er.
Seine Haare fielen ihm beim Kampf ins Gesicht, lenkten ihn ab und gaben dem Gegner die Chance, sein Holzschwert zu entreißen. Der Junge schlug dann mit jenem auf William ein, während dieser noch nach seinem Schwert griff.
Neid war giftiger als jedes Gift. Die Jungen konnten es nicht fassen, dass einer der ihren, jünger und unerfahrener, ihnen überlegen war.
Rayven ließ sie gewähren und beobachtete, wie William Schläge einsteckte. Er hoffte, der Junge würde stärker werden, denn sein törichter Vater würde ihm bald das Leben zur Hölle machen.
William krabbelte nach seinem Schwert, aber der andere Junge trat es beiseite und schlug weiter auf ihn ein. Endlich platzte William der Kragen, und er blockierte die Schläge mit seinem Arm, während er aufstand. Mit einem Knurren stürzte er sich auf den Jungen, brachte ihn zu Boden und begann auf ihn einzuprügeln.
Rayven hatte noch nie so etwas Befriedigendes gesehen, aber es war seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht ernsthaft verletzten.
"William! Jetzt ist genug!"
William war wütender als gedacht. Trotz Rayvens Befehl versetzte er noch einen letzten Schlag, bevor er innehielt. Er schnappte nach Luft, seine Hände zu Fäusten geballt.
Rayven kam von seinem Platz hoch. "Das Training ist beendet für heute. Du kannst gehen."
Der Junge, der von William verprügelt wurde, wurde von seinen Freunden unterstützt, doch aus Scham schob er sie beiseite und ging eilends fort. Seine Freunde folgten ihm und die anderen Jungen verabschiedeten sich und gingen ebenfalls. Außer William. Er stand noch immer da, Blut tropfte von seinen geballten Fäusten.
"Ich wurde zu wütend", sagte er, die Augen rot vor Zorn.Rayven hatte bemerkt, dass William in letzter Zeit müde aussah, doch es hatte ihn nicht gekümmert.
"Du solltest etwas schlafen."
William blickte zu ihm auf. "Wie kann man schlafen, wenn man von Albträumen geplagt wird?"
Woher wusste er das? Rayven war zunächst überrascht, realisierte dann aber, dass der Junge von sich selbst sprach. Was quälte diesen Jungen so sehr, dass er nachts keinen Schlaf fand?
Er seufzte frustriert. Warum kümmerte es ihn überhaupt? Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hob sein Buch an. "Versuch zu lesen. Das hilft mir manchmal."
"Meine Schwester liest gerne."
Der Junge mochte seine Schwester sehr, aber was gab es auch nicht an ihr zu mögen?
Rayven presste die Kiefer zusammen, unzufrieden mit seinen eigenen Gedanken.
"Vielleicht könnte sie dir vorlesen", schlug er vor und hasste sich selbst mit jedem Wort ein bisschen mehr.
Langsam entspannten sich Williams geballte Fäuste und seine Schultern sanken herab.
"Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Mylord." Er verbeugte sich und ging dann.
Rayven sah ihm nach. Der Junge ähnelte seiner Schwester in vielerlei Hinsicht.
Nachdem er eine Weile über den Mann gelesen hatte, der sich selbst als ein Ungeheuer sah, und über sein unendliches Leiden, entschloss sich Rayven, nach Hause zu gehen. Als er zum Hauptgarten kam, fand er William, der immer noch auf seinen Vater wartete.
Bevor er etwas sagen konnte, nahm er den Duft einer Frau wahr. Ein süßer Sommerduft, der ihn an warme, sonnige Tage erinnerte. Tage, die es in seinem Leben nie gegeben hatte.
Er widerstand dem Impuls, ihren Duft tief einzuatmen, und blickte in ihre Richtung. Warum musste sie gerade heute kommen? Jetzt würde er sicher getadelt werden, dass er ihrem Bruder wehgetan hatte.
"William!" Es dauerte nicht lange, bis Sorge in ihren blauen Augen erkennbar war, als sie ihren Bruder sah. "Was ist mit dir geschehen?"
Ihr Bruder sah schlimmer aus als das letzte Mal, als sie ihn zurechtgewiesen hatte. Er war gespannt, was sie dieses Mal tun würde.
"Mir geht es gut", versicherte William.
Sie berührte sein Gesicht, strich ihm das Haar zurück und betrachtete die Blutergüsse. Dann ließ sie ihn los und seufzte.
Als ihre blauen Augen die seinen trafen, brannten sie feurig rot wie ihr Haar. "Kann er morgen zu Hause bleiben? Um sich zu erholen?", fragte sie ihn.
Rayven war überrascht. Er hatte mit einem Tadel gerechnet. "Nein", antwortete er.
Sie zog die Stirn kraus, überrascht von seiner Antwort. Warum ging sie immer davon aus, dass er gnädig sein würde?
"Mit so vielen Verletzungen wird er nicht viel lernen können, Mylord."
"Schmerz ist der beste Lehrmeister", sagte er. Es waren nicht seine Worte, aber er glaubte daran.
Angelika verengte die Augen. "Das hoffe ich nicht, Mylord. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend." Sie verneigte sich, legte dann ihren Arm um die Schultern ihres Bruders. "Lass uns nach Hause gehen", sagte sie und führte ihn fort.
Rayven versuchte, die Bedeutung ihrer Worte zu entschlüsseln und warum sie dieses Mal nicht mit ihm gestritten hatte. Die Frau war ein Mysterium. Wahrscheinlich, weil er ihre Gedanken nicht hören konnte, sonst hätte er nicht so eine Neugier für sie gehegt. Warum auch?