Als die Vögel draußen vor ihrem Zimmer zwitscherten, drehte sich Julie in ihrem Bett um und blickte zum Fenster, wo Sonnenstrahlen durch die Ritzen der beiden Vorhänge drangen.
Beim Aufsitzen bemerkte sie, wie der Wind, der durch den Spalt im Fenster strömte, die Vorhänge zum Flattern brachte. Sie hatte, wie auch in vielen anderen Nächten, das Fenster nicht offen gelassen. Doch beim Beiseiteschieben der Gardine stellte sie fest, dass das Fenster einen Spalt breit offen stand. Neben dem Fenster lag ein weißer Umschlag, der sich gegen die beschlagene Scheibe lehnte.
Darauf stand: "An den Störenfried."
Julie fragte sich, ob dies ein neuer Absender sei, doch gleichzeitig war ihr klar, dass nur eine bestimmte Person ihr ohne Mittelsmann Briefe zukommen ließ.
Nun gut, nicht sie, sondern ebenjene Person hatte sie gestern Abend wegen des Briefes in Unannehmlichkeiten gebracht. Ein einziger Brief und schon wieder Nachsitzen, dachte Julie bei sich. Sie fragte sich, was diese Person ihr mitteilen wollte und zog den Brief aus dem Umschlag, um ihn zu lesen.
'Ich habe vernommen, dass du eine weitere Regel gebrochen hast. Nachts nach Ausgangssperre umherzuwandern - du scheinst es ja kaum erwarten zu können, im Nachsitzraum zu landen. Wenn du so weitermachst, wirst du den Rekord im Vergleich zu anderen neuen Schülern, die sich besser an die Regeln halten, brechen. Was hast du letzte Nacht im Wald gemacht?
Hinterlasse deine Antwort neben dem Fenster. Und versuche gar nicht erst, dich in eine Wache zu verwandeln, um herauszufinden, wer ich bin.'
Julie wurde besorgt bei dem Gedanken, wer wohl das Schloss ihres Fensters hätte öffnen und den Brief hineinlegen können. Da dies eine Universität für Delinquenten war, hielt sie es für möglich, dass einige der Studenten hier durchgedreht sein könnten. Einer von ihnen hatte ihr Fenster geöffnet, und einige hatten sogar Lust, sie mit einem Baseballschläger zu attackieren. Hochnäsige, arrogante Studenten waren ihr durchaus bekannt, da manche Leute aus reichen Familien meinten, ihnen stünde alles zu.
Aber das hier war nicht normal.
Der Umschlag war platziert worden, während sie schlief. Und in diesem Moment fühlte sie sich wie in einem Film, in dem sie von einem Serienmörder beobachtet wurde. Sie überlegte, was sie tun sollte.
Ohne darauf zu achten, den Brief zu beantworten, schloss Julie das Fenster, machte sich fertig und verließ ihr Zimmer. Sie ging zum Hauptbürogebäude. Dort angekommen, wandte sich Julie an die Frau hinter dem Tresen.
"Guten Morgen, Mrs. Hill", grüßte Julie. "Ich hätte eine Bitte an Sie."
"Wenn es um das Telefon geht, habe ich Ihnen schon gesagt, dass es nur für Dienstgebrauch ist", erwiderte die Frau mit einem vorwurfsvollen Blick.
"Nein, darum geht es nicht", sagte Julie. Teilweise hatte sie gehofft, Mrs. Hill möge ihr das Telefonieren erlauben. Um auf den eigentlichen Grund ihres Kommens zurückzukommen, fuhr sie fort: "Ich wollte mich erkundigen, ob es vielleicht noch ein freies Zimmer im Wohnheim gibt, in das ich umziehen könnte."
"Nein", entgegnete Mrs. Hill knapp. Julie war überrascht von der schnellen Antwort, gab jedoch nicht auf.
"Es wäre auch in Ordnung, ins nächste Wohnheim umzuziehen oder wenn jemand tauschen möchte-"
"So funktioniert das nicht, Liebes. Erstens war dies das letzte verfügbare Zimmer im gesamten Mädchenwohnheim. Zweitens wurde das Zimmer schon vor Wochen auf Ihren Namen zugeteilt und ein Antrag auf Wechsel würde mehr als zwei Monate dauern", erklärte Mrs. Hill.
"Monate?", fragte Julie fassungslos. Das war definitiv zu lang. Sie hatte gehofft, vielleicht schon in dieser Woche umziehen zu können, notfalls auch in der nächsten.
"So ist es. Wir müssen viele Prozeduren durchlaufen, bevor wir den Schülern Zimmer zuteilen können. Jetzt sollten Sie besser zum Unterricht gehen, damit Sie ihn nicht verpassen", sagte die Frau und trank weiter an ihrem Erdbeermilchshake.
Julie seufzte enttäuscht und ging. Sie wollte lediglich ein Zimmer mit sichereren Fensterschlössern. Sie drehte sich um, verließ das Büro und steuerte den Blauen Block an.
Auf dem Weg zu den Toren traf sie auf Eleanor, die sie finster anblickte.
"Ich hätte nicht erwartet, dich so bald zu sehen, Eleanor", begrüßte Julie sie gleichgültig. Bevor sie sich entfernen konnte, tauchten die anderen drei Mädchen auf. "Hallo auch euch."
"Wo sind sie?", forderte Eleanor.
"Was?", fragte Julie verwirrt, da sie nicht wusste, wonach Eleanor genau fragte.'"Unsere Baseballschläger. Gebt sie uns zurück", forderte Eleanor, während sie eine Hand in ihre Hüfte stemmte.
Julie starrte die Mädchen an, unsicher, ob sie tatsächlich nach der Waffe fragten, mit der sie versucht hatten, sie anzugreifen. Sie sagte: "Ich habe kein Interesse daran, solche Andenken zu sammeln. Ihr seid doch diejenigen gewesen, die sie in den Händen hielten. Ihr habt mich damit gejagt und nicht umgekehrt. Wer weiß, vielleicht habt ihr sie verloren und um das klarzustellen, schuldet ihr mir eine Taschenlampe."
Eleanor schnaubte: "Glaubt ihr wirklich, wir würden darauf reinfallen? Wir haben uns gestern im Wald unterhalten, aber wir haben euch nie gejagt. Als wir unsere Schlafsäle erreicht haben, hatten wir sie nicht mehr."
Wovon redete dieses irrsinnige Gespenst? Sie und ihre Freunde hatten sie den ganzen Wald durchgejagt, bis zum Sperrgebiet des Waldes.
"Ich habe eure Baseballschläger nicht. Nun", Julie trat einen Schritt zurück und sagte, "ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich muss zum Unterricht." Sie ging an den Mädchen vorbei und durch das geöffnete Tor.
Julie ging zügig davon, um sicherzustellen, dass die Mädchen ihr nicht folgen konnten. Die Blicke einiger Mädchen, die sie musterten, ließen sie unwohl und unbeholfen fühlen. Als sie jedoch weiter die Treppe hinaufging, sah sie Roman im oberen Stockwerk, der am Geländer gelehnt stand und sie ansah.
Wie immer kaute er Kaugummi und Julie fand es seltsam, dass die Lehrer ihm nicht täglich einen Nachsitz anordneten; oder doch, vielleicht saß er wirklich täglich zur Strafe, weil er mindestens eine Regel gebrochen hatte. Ganz zu schweigen davon, dass sie ihn mit seinem Motorrad vor dem Hauptbüro gesehen hatte.
Er starrte sie an und Julie erwiderte den Blick, neugierig, was er auf einem Baum gemacht hatte. Sie ging weiter die Treppe hinauf und bemerkte nicht, dass jemand die Treppe hinunterkam; sie stieß direkt mit jemandem zusammen.
Romans Mundwinkel hoben sich und er hörte, wie einer seiner Freunde seinen Namen rief.
Julie entschuldigte sich sofort bei der Person, mit der sie zusammengeprallt war. Es war ein Junge und nach seinem Aussehen zu urteilen, vermutete sie, dass es ein Mitschüler war. Er hatte sandfarbenes Haar und trug eine Brille.
"Es tut mir echt leid", entschuldigte sie sich und ging rasch die restlichen Treppenstufen hinauf. Sie warf einen schnellen Blick auf das Geländer, wo Roman gestanden hatte, aber er war weg.
Als sie das Klassenzimmer erreichte, erblickte sie Melanie und ging zu ihrem Platz.
"Ich habe deinen Zettel an meiner Tür gefunden. Wo warst du?", fragte Melanie.
"Ich war im Hauptbüro. Außerdem kann ich heute Abend nicht mit euch in die Bibliothek kommen. Ich muss nachsitzen", flüsterte Julie, während sie ihre Tasche neben dem Schreibtisch abstellte.
"Wann musstest du nachsitzen bekommen?"
"Gestern Abend mit Eleanor", antwortete Julie und hätte am liebsten das Gesicht des Mädchens und ihrer Freundin zerkratzt. "Gibt es hier einen Beratungslehrer, mit dem ich sprechen kann?"
"Ja, im linken Flügel. Haben dich die Mädchen bedroht? Du hättest mich aufwecken sollen", fragte ihre Freundin besorgt und Julie schenkte ihr ein Lächeln. Melanie war ein herzensgutes Mädchen; soviel sie wusste, war sie während ihrer gesamten Zeit hier nur zweimal im Nachsitzraum gelandet, während Julie scheinbar ständig gegen Regeln verstieß.
Julie wollte Melanie von letzter Nacht erzählen, doch sie hatte nicht vergessen, dass einer der Lehrer ihnen gesagt hatte, sie dürften nicht über das sprechen, was im Wald passiert war. Wenn sie Melanie etwas erzählte, würde sie erneut gegen Regel Nummer zwei verstoßen.
"Nein, nicht viel. Wir sind eben viel gelaufen", sagte Julie, was auch der Wahrheit entsprach. Sie war ans Rennen gewöhnt, so sehr, dass sie nicht gedacht hätte, dass es ihr gestern noch zugutekommen würde. "Und ich habe meine Taschenlampe kaputt gemacht. Wenn ich diesen Sonntag rausgehe, muss ich eine neue kaufen. Übrigens... ist Baseball eine der Sportarten hier?" fragte sie Melanie.
Melanie schüttelte den Kopf, bevor sie antwortete: "Überhaupt nicht. Wir haben Fußball und Basketball, aber kein Baseball. Warum?"
"Ich war nur neugierig", antwortete Julie, während sie sich fragte, warum Eleanor darauf bestanden hatte, dass sie die Schläger zurückgeben sollte, die sie nicht hatte. Das Mobbingniveau hier drinnen war wirklich zu hoch. Sie beschloss, mit dem Schulberater darüber zu sprechen.
Bevor die Nachsitzzeit kam, beschloss Julie, beim Büro des Beraters vorbeizuschauen. Doch als sie sah, wie sich die Tür öffnete und ein Schüler mit dem Berater hinaustrat, weiteten sich ihre Augen und sie wendete sich schnell ab, um von dort wegzugehen.
Der Berater war dieselbe Person, die ihr und den anderen Mädchen gesagt hatte, sie sollten nicht über ihre Zeit im Wald sprechen.