William hatte schon immer das Potenzial in Lina als erste Vorstandsvorsitzende von Yang Enterprise gesehen. Ihre Arroganz, ihr Intellekt, ihre Integrität. Das Potenzial war immer vorhanden, doch war es unter Schichten von Unsicherheit und Selbsthass verborgen.
Zum ersten Mal seit Langem hatte William den schmutzverhangenen Diamanten wieder leuchten sehen. Wie enttäuschend, dass sie unter Druck geriet und das wohl nirgendwo sonst geschafft hätte.
"Beachtliche Rede", sagte William schließlich. Er streckte seine Hand aus und beobachtete, wie sie so tat, als ob sie vor seiner Berührung nicht zurückschrecken würde.
William schwieg. Er hoffte nur, dass sein jüngster Bruder Linden das nicht mitansah.
"Nun, wo ist der gestrige versprochene Gegenstand?" fragte William schließlich und gab den Kampf auf. Wenn er kein passives Einkommen aus den Anteilen der Anwaltskanzlei Leclare haben konnte, würde er eben mehr Geld verdienen, sobald Linas Hochzeit bekannt gegeben wurde.
Und mit wem? Das war ihm gleichgültig. Hauptsache, es war einer der Männer, mit denen sie herumspielte.
"Du bekommst es, wenn ich ansehnlich und bereit bin, dich zu treffen", entgegnete Lina. "Jetzt geh."
William lachte leise, seine Augen funkelten. Er wusste nicht, ob er stolz sein oder sich von ihrem Verhalten provoziert fühlen sollte. Er entschied sich für Ersteres. Es war Jahre her, dass sie ihn dazu gebracht hatte, stolz darauf zu sein, einer der Onkel zu sein, die sie wie ihre eigene Tochter behandelten.
"Meinetwegen", stimmte William zu, nickte mit dem Kopf und ließ die Hand sinken.
William drehte sich um und verließ ihr Zimmer, dicht gefolgt von seinem jüngsten Bruder. Williams Überraschung blieb aus angesichts von Linas Ausbruch, doch war er bestürzt über den Ungehorsam seines jüngsten Bruders. Üblicherweise war Linden der zurückhaltendere der Geschwister und wagte es nie, sich dem Ältesten zu widersetzen.
"Man spricht nicht so mit Lina", mahnte Linden und packte seinen Bruder am Handgelenk, was William zum Innehalten zwang. "Sie ist nicht deine Tochter, sondern meine."
William seufzte. Sollte er sich kleinlich zeigen oder noble Tugend? Er drehte sich um und warf einen Blick auf Evelyn, die ihren Blick abwandte. So also sollte es sein.
"Ich habe sie wie meine eigene aufgezogen, nachdem sie sich geweigert hat, nach Hause zu gehen, wegen des Vorfalls damals. Hast du das vergessen?" fragte William in gelassener Stimme.
William sah, wie Linens Haltung zusammenbrach. Er war also ein Unsympath. Was soll's?
Lindens ganzes Gesicht fiel in sich zusammen. Er taumelte rückwärts, noch immer geplagt von den Fehlern seiner Vergangenheit. Selbst Evelyn hatte die Kühnheit, für das Geschehene entschuldigend auszusehen. Sie senkte ihren Blick und schaute zu Boden.
"Muss ich dich daran erinnern, dass deine Dummheit die Vormundschaft über Lina an mich übertragen hat?" erklärte William. "Du solltest dankbar sein, dass ich es ihr erlaubt habe, nach Hause zurückzukehren, vor allem nach dem Trauma, das du und unser Großvater ihr zugefügt habt."
William steckte die Hände in die Taschen und blickte herab auf die bejammernswerterweise bestehende Vaterfigur. Hätte William die Gene besessen, Kinder zu bekommen, hätte er Lina nie durchmachen lassen, was sie in der Vergangenheit erlitten hatte. Er hätte ihr das nie antun können.
Es war bedauerlich, dass Lina nicht seine Tochter war.
"Benutze die Vergangenheit nicht als Waffe gegen meinen Vater", argumentierte Milo. "Vater und Großvater haben Lina zu ihrem Wohl in Gefahr gebracht. Aber du, Onkel, hast sie zu deinem eigenen Wohl in Gefahr gebracht."
William hob eine Braue. Der bedauernswerte Linden hatte also nicht nur ein Fuchsjunges, sondern gleich zwei. Wie amüsant. Anstatt auf den Jungen zu reagieren, schenkte William Milo einfach ein Lächeln. Er war ja nur ein Teenager. Er wollte keine Zeit verschwenden.
"Nervig", murmelte Milo leise, ohne auf Williams warnenden Blick Rücksicht zu nehmen. Seine Schwester hatte vielleicht Respekt vor William, aber Milo nicht.
Milo sah sofort durch diesen Wolf im Schafspelz hindurch. Während ihr Vater und ihr Großvater am wenigsten von Linas unglücklicher Vergangenheit profitieren konnten, hatten die beiden Onkel, die keine eigenen Töchter hatten, alles zu gewinnen.
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Nachdem alle das Zimmer verlassen hatten, lag Lina noch fünf Minuten in ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie musste ihr rasendes Herz und ihre zitternden Hände beruhigen. Schon eine Weile war es her, dass sie ihrem Onkel so die Stimme erhoben hatte.
Im Grunde ihres Herzens war Lina darauf bedacht, es allen recht zu machen. Schon der Gedanke an Enttäuschung jagte ihr Angst ein. Sie war ihr ganzes Leben lang eine Vorzeigeschülerin gewesen, hatte in der Schule geglänzt und war allseits gelobt worden. Sie war süchtig danach geworden.
"Du bist eine ausgebrannte Hochbegabte", flüsterte Lina die Worte ihres Großvaters nach.
Lawrence hatte sie gesagt, nachdem er gesehen hatte, wie sie sich mit der Bearbeitung der Akten ihres Onkels bis zur Erschöpfung plagte. Sie prüfte alles doppelt und dreifach, strebte Perfektion an, koste es ihre Jugend, was es wolle.'"Ich will nur noch weg", seufzte Lina müde und rieb sich die Stirn, während sie sich wünschte, sie könnte einfach ihre Sachen packen und verschwinden.
Sie hatte es satt, sich ständig anzupassen und ihre Zufriedenheit in fremdem Lob und nicht in Drogen zu finden. Vielleicht hätte sie sich nicht so verausgaben müssen für leere Worte und Anerkennung.
Mit einem unterdrückten Seufzer sprang Lina aus dem Bett, ging ins Bad, duschte und zog sich an. Sie föhnte ihre Haare, machte sich fertig für den Tag und nahm den Vertrag von ihrem Nachttisch.
Nachdem Lina sich hergerichtet hatte, ging sie hinunter, wo das Frühstück serviert war.
"Komm, setz dich, ich habe dir einen Platz freigehalten!", piepste Milo und klopfte freundschaftlich auf den Sitz neben sich.
Lineras Blick traf den ihres Onkels. Er saß am Kopfende des Tisches, wo eigentlich ihr Vater saß, auch wenn er ein Gast im Haus war. In ihrer Kultur war es zwar üblich, Gäste hoch zu ehren. Doch der Gast sollte auch Respekt beweisen, indem er nicht den Platz am Kopfende einnahm.
"Ich habe, was du wolltest", sagte Lina und präsentierte ihrem Onkel die Manilamappe.
"Ah, meine Lieblingsfarbe", sinnierte William, der immer gerne diese farbigen Mappen in ihrer Hand sah. Sie wusste stets, was mit den vielen Problemen in seinen Berichten anzufangen war.
Lina sagte nichts. Sie lächelte ihn nicht einmal an, sie war einfach … leer.
William runzelte die Stirn. Hatte er zu stark auf sie eingeprügelt? Oder hatte sie einfach die Nase voll von dem ganzen Unsinn, den jeder von sich gab?
"In Ordnung, in Ordnung, lass uns reden. Ich habe in einer Stunde ein Meeting", sagte William, als hinter ihm das Geschirr klirrte.
William bemerkte, wie Evelyn den Esstisch deckte. Das machte sie wohl nur, wenn Gäste da waren, denn die Dienstmädchen schienen nervös.
"Gut, jetzt wird mein Appetit nicht verdorben", murmelte Milo leise, was ihm einen langen, missbilligenden Blick von William einbrachte.
Milo tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Er nippte an seinem grünen Tee.
"Es gibt nichts zu besprechen. Es ist meine Entscheidung. Es ist mein Leben." Lina ging zur Tür, überzeugt davon, dass ihr Onkel folgen würde, was er auch widerwillig tat.
"Willst du nicht frühstücken?", rief Milo enttäuscht hinterher. Er hatte Scones für sie gebacken, mit Teig, den er letzte Nacht vorbereitet hatte, als er auf ihre Rückkehr gewartet hatte.
"Mir geht's gut." Lina schloss die Tür hinter sich und ihrer Familie, danach führte sie ihren Onkel in den Wartebereich des Hauses. Hier warteten üblicherweise die Gäste darauf, dass jemand aus der Familie auftauchte.
Im Wartebereich angekommen, ließ Lina ihn nicht einmal Platz nehmen.
"Der Vertrag", sagte sie und zeigte ihn ihm.
William griff danach, doch sie zog ihre Hand zurück.
"Du darfst ihn nicht behalten. Du kannst ihn nur anschauen", bestimmte Lina.
William schnaubte. "Geizhals."
Als er ihren distanzierten Blick sah, zog William eine Augenbraue hoch. "Das war nur, um dich ein bisschen zu provozieren. Ich wollte sicherstellen, dass du immer noch dein Feuer hast…"
"Lass es mich nicht wiederholen müssen", zischte Lina. "Ich werde deine Position nicht übernehmen. Nicht heute. Nicht morgen. Und ganz bestimmt nicht bald."
"Denkst du", entgegnete William trocken und schnappte sich den Vertrag aus ihrer Hand. Zu ihrer Genugtuung und seinem Ärger war tatsächlich eine Heiratsurkunde beigefügt.
Der Name ihres Ehemannes? Sicherlich nicht Everett Leclare. Stattdessen stand dort Kaden DeHaven."