"Sieh mal einer an, wer uns die Ehre gibt – wenn das nicht Ihre königliche Hoheit Scarlet Su ist, die reiche Adlige", drang eine Stimme voll bitterem Sarkasmus an ihr Ohr. Scarlet blickte von ihrem Armband auf und sah in das höhnische Gesicht ihrer dritten Schwester Carolyn Su. Carolyn hegte einen tiefen Groll gegen Scarlet, weil sie ihren Job verloren hatte, ebenso ihren Freund, und weil sie ihre Familie verachtete. Die Beziehung zwischen Scarlet und Carolyn war noch nie einfach gewesen. Carolyn war klug, blond und wunderschön – Eigenschaften, die die schwarze Haare habende, nicht so attraktive und eher finstere Scarlet stets neidisch gemacht hatten. Ihre grauen Augen waren das Einzige, was sie gemeinsam hatten. Sie alle, die Kinder von Baron Dorian Su, hatten seine grauen Augen.
Während die alte Scarlet mit einer Beleidigung konterte, entschied sich die neue Scarlet, höflich zu antworten. Nachdem sie sich den Kopf gestoßen und ins Koma gefallen war, stellte eine Nahtoderfahrung die perfekte Ausrede dar, falls jemand ihre Persönlichkeitsveränderung anzweifeln sollte. Sie wollte diese Gelegenheit nutzen, um alle Fehler der alten Scarlet vollkommen zu korrigieren.
"Guten Tag, liebe Schwester", entgegnete sie mit einem leichten Lächeln im Gesicht.
Carolyn wich schockiert und ängstlich vor Scarlet zurück. "Was hast du nun im Sinn, Scarlet? Wir haben kein Geld für dich, falls du deswegen hier bist. Und wenn du noch etwas Unüberlegtes tust, was unsere Familie weiter ins Unglück stürzt, werde ich dich zur Rechenschaft ziehen", drohte Carolyn zornig.
Scarlet fuchtelte beschwichtigend mit den Händen. "Ach, liebe Schwester, ich habe nichts im Sinn. Ich wollte nur nachsehen, wo ihr alle arbeitet, und ein wenig Zeit mit Justin verbringen."
Carolyns Augen weiteten sich, und sie rief alarmiert: "Adlerrrr...", als würde ein kleines Kind nach dem stärkeren, älteren Geschwister rufen, das Schutz vor einem Tyrannen sucht.
Plötzlich sah Scarlet nur noch den Schatten einer Gestalt durch die Luft gleiten, und im nächsten Moment landete ein metallener Mann zwischen Carolyn und ihr.
Instinktiv nahm Scarlet eine Verteidigungshaltung ein und zog ihren Dolch aus der Jeans, bereit, sich zu wehren.
Die metallene Gestalt nahm den Kopf ab, so als würde jemand einen Helm abnehmen, und darunter kam ihr ältester Bruder Adler zum Vorschein. Er war groß und gut aussehend, obwohl sein schwarzes Haar strubbelig wie das eines Igels war.
Sein Blick fiel auf Scarlets Haltung und den Dolch in ihrer Hand, er sah sie ungewiss an. "Du bist also endlich aufgewacht", sagte er.
"Ja, ich bin vor ein paar Stunden zu mir gekommen", erwiderte Scarlet, während sie den Dolch wieder in die Tasche steckte.
"Wie fühlst du dich?", fragte er sie und in seinen Augen lag ein Hauch von Fürsorge und Wärme.
Scarlet überraschte seine Anteilnahme, denn eigentlich hätte er, wenn überhaupt jemand in der Familie, allen Grund gehabt, sie zu verachten.
"Ich... ich bin in Ordnung", antwortete sie unsicher.
Carolyn trat hinter Adler hervor, stellte sich an seine Seite und rief: "Natürlich geht es ihr gut. Sie hat ja keine Ahnung von den Konsequenzen ihrer Taten. Ihr Egoismus wird unsere Familie zu Fall bringen. Wir sollten sie an den Roten Stern verkaufen und uns endlich ihrer entledigen."
"Carolyn!!!!", tadelte Adler sie mit ernster, warnender Stimme.
Scarlet erschauderte bei Carolyns scharfen Worten. Der Rote Stern war ein Planet voller Mineralien, mit rauen Wetterbedingungen und mutierten Monstern. Sträflinge wurden dort in die Minen geschickt, und die meisten starben, bevor sie ihre Strafen verbüßen konnten. Scarlet war keine gute Person, aber sie an den Roten Stern zu verkaufen war grausam; es war ein Todesurteil.
"Und du stehst ihr immer noch bei, nach all dem, was sie getan hat", sagte Carolyn enttäuscht zu Adler."Sie ist unsere Familie," betonte Adler das Wort 'Familie'.
"Ja, ich bin eure Familie," fügte Scarlet als zusätzliche Bestätigung hinzu. "Es tut mir leid, okay? Ich war eine furchtbare Schwester und Tochter, aber mich an Red Star zu verkaufen – wie macht dich das zu einer besseren Schwester, Carolyn? Du bist darin nicht anders als ich."
Ihre Entschuldigung schockierte ihre beiden älteren Geschwister, doch ihre letzten Worte entlockten Carolyn ein spöttisches Grinsen. "Ich werde nie so sein wie du, Scarlet, du bist ein Parasit. Ich habe hart für alles gearbeitet, was ich hatte, bevor ich alles wegen dir verloren habe. Du hingegen hast dich dafür entschieden, ein falsches, luxuriöses Leben zu führen und Verbrechen zu begehen, unter denen wir alle zu leiden haben."
Carolyn sah Adler an und sagte: "Sie will Justin sehen, mir ist egal, wie du damit umgehst." Dann drehte sie sich um und ging weg.
Scarlet wollte unbedingt beweisen, dass sie sich geändert hatte. "Es tut mir wirklich leid, Carolyn, bitte glaub mir. Ich werde allen zeigen, dass ich mich gewandelt habe, gebt mir einfach eine Chance."
Carolyn blickte ein letztes Mal zurück und verließ dann den Raum.
Adlers eisgraue Augen richteten sich auf Scarlet. "Warum suchst du nach Justin? Hast du vor, ihn wieder zu verletzen? Denn wenn das der Fall ist, werde ich Carolyns Vorschlag zustimmen und dich an Red Star verkaufen."
Kein Wunder, dass Carolyn Adler herbeigerufen hatte, als Scarlet auftauchte und nach Justin fragte. Sie war nicht nur eine schlechte Mutter, sondern auch eine misshandelnde.
Es grenzte an ein Wunder, dass diese Familie Scarlet nicht einfach über einem Feuer geröstet und den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hatte. Hatte sie, Su Yan, in ihrer Vergangenheit jemanden so beleidigt, dass von allen Körpern, in die sie hätte schlüpfen können, es ausgerechnet dieser war?
"Ich habe nicht die Absicht, Justin auch nur ein Haar zu krümmen; ich möchte die Dinge mit ihm klären, Bruder. Diese Nahtoderfahrung hat mich zur Besinnung gebracht. Ich habe schlechte Entscheidungen getroffen, mein Leben war auf so viele Arten töricht. Jede meiner Entscheidungen war rein egoistisch. Aber jetzt bin ich eine andere Frau. Ich weiß, ihr werdet mir nicht glauben, aber ich werde es euch beweisen.
Ich werde hart arbeiten, um eure Vergebung zu erlangen. Ich werde auch hart arbeiten, um unsere familiäre Situation zu verbessern; schließlich war ich es, die uns in diese Lage gebracht hat."
Sie senkte den Blick und sagte: "Es tut mir leid, Adler. Deine Träume sind an mir zerbrochen. Wirst du mir jemals verzeihen?"
Zum Schock beider begannen ihr die Tränen über das Gesicht zu laufen. Sie weinte für sich selbst – als die verstorbene Su Yan – und für den kleinen Jungen, der unter Scarlets Hand gelitten hatte.
Ihr Herz war schwer von einer Traurigkeit, die sie plötzlich überwältigte.
"Weine nicht," sagte Adler sanft. "Du bist nicht die Einzige, die schuld ist. Ich hätte meer auf dich achten und dich korrigieren sollen, als du auf den falschen Weg geraten bist. Als dein ältester Bruder habe ich versagt. Wenn es dir wirklich leidtut und du bereit bist, Wiedergutmachung zu leisten, werde ich dich nicht daran hindern. Aber verstehe, dass es nicht leicht sein wird. Du hast allen das Herz gebrochen, Scarlet. Wenn sie dich abweisen, reagiere nicht wütend, sondern sei geduldig und höflich."
Er überraschte sie, indem er sie in die Arme nahm.
Nachdem sie sich ausgeweint hatte, überraschte Adler sie erneut: "Justin, du kannst ruhig rauskommen, ich habe dein silbernes Haar schon gesehen."
Scarlet trat aus Adlers Umarmung zurück und als sie den Jungen, der nun ihr Kind war, sah, keuchte sie.