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Chapter 56 - Die Liebe einer Mutter

Nachdem William Celines Haus verlassen hatte, machte er sich auf den Weg zurück zur Ainsworth-Residenz, doch dann vernahm er den lauten Ruf eines Kranichs am Himmel. Ella hob den Kopf und erblickte einen großen Kranich mit einer Flügelspannweite von mindestens fünf bis sechs Metern. Die angoringe Ziege blökte zur Begrüßung, woraufhin der Kranich mit einem weiteren Ruf antwortete. In Lont waren Kraniche eine Seltenheit, und dieser hier war größer als jene, die William zuvor gesehen hatte.

Sein weißes, tadelloses Gefieder schimmerte im Sonnenlicht und die goldene Zeichnung auf seinem Kopf verlieh ihm eine majestätische und königliche Erscheinung. Er blickte auf William herab, seine Augen warm und sanft, als würde er einen alten Freund betrachten.

Zweimal umkreiste der weiße Kranich William und Ella, bevor er wenige Meter von ihnen entfernt landete. William schätzte ihn auf eine Größe von mindestens zwei Metern. Ella spitzte die Ohren, als der Kranich zu ihnen herüberschritt. Er schien keine feindlichen Absichten zu haben, dennoch war Ella auf der Hut.

Der Kranich stoppte zwei Meter vor William und Ella. Ein leiser Laut entwich seinem Schnabel, als wolle er sich unterhalten. William war es gewohnt, nur mit Ziegen zu kommunizieren und war überrascht, als er tatsächlich verstand, was der Kranich sagte.

"Ich heiße Skyla."

Das war die Botschaft, die William von dem weißen Kranich empfing. Er blickte ihn freundlich an, als würde er auf eine Antwort warten.

"William. Mein Name ist William von Ainsworth", antwortete William. "Das ist meine Mutter Ella."

"Meeeeh."

"Kroooooo." Skyla gab einen weiteren sanften Ruf von sich und hob ihr Bein.

William bemerkte ein zylinderförmiges Röhrchen, das an ihrem Bein befestigt war. Es ähnelte den Behältern, die die Brieftauben auf ihrem Gut trugen.

"Für mich?" fragte William.

Skyla nickte bestätigend.

William stieg von Ellas Rücken ab und näherte sich vorsichtig dem weißen Kranich. Skyla rührte sich nicht und wartete nur darauf, dass William das Objekt, das sie bei sich trug, ablöste.

"Darf ich es öffnen?"

"Krooooo."

Ella trat nahe an William heran, gespannt darauf, einen Blick auf das Innere zu werfen. William erstarrte, als er die ersten Zeilen des Briefes überflog, der tatsächlich an ihn gerichtet schien.

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Mein geliebter Sohn William,

Ich sende dir Grüße aus der Heiligen Stadt Nytfe Aethel. Mir fehlen die Worte, denn nichts, was ich sagen könnte, würde ausreichen, um dir zu vermitteln, wie sehr ich dich liebe und vermisse, mein Sohn. Dennoch sollst du wissen, dass kein einziger Tag vergangen ist, an dem ich, Arwen Aenarion Ainsworth, nicht an dich gedacht habe.

Am liebsten hätte ich dich niemals gehen lassen, doch die Umstände erforderten diese Entscheidung von mir. Vielleicht glaubst du mir nicht, aber es war eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens.

Ich bete, dass du die Güte in deinem Herzen findest, mir zu vergeben, dass ich in den letzten Jahren nicht an deiner Seite sein konnte. Keine Worte können ausdrücken, wie sehr ich mir gewünscht habe, dich in meinen Armen zu halten und dich zu küssen, bevor du deine Augen zum Schlafen schließt.

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William musste beim Lesen innehalten, denn seine Sicht wurde verschwommen. Die wunderschöne Handschrift ließ die eingetrockneten Tränenflecken erkennen, die sich mit der Tinte des Briefes vermischt hatten. Sein Herz schmerzte beim Gedanken an die Traurigkeit seiner Mutter, die er seit seiner Geburt in dieser Welt nicht mehr gesehen hatte.

Erst nachdem er sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte, fuhr er fort, die verbleibende Botschaft seiner Mutter zu lesen.

Der weiße Kranich Skyla beobachtete William schweigend von der Seite. Sie spürte, wie Arwens Blutlinie durch Williams Körper pulsierte. Es war das Blut eines Hochelfen, der die Gabe besaß, auf tieferer Ebene mit Tieren zu kommunizieren. Obwohl es verdünnt war, ermöglichte es William dennoch, mit Ella und den anderen Mitgliedern seiner Herde zu sprechen. Als sie Williams Tränen sah, erinnerte sich die weiße Kranichdame an ihre Herrin Arwen, die geweint hatte, als sie den Brief verfasste, den sie nun auslieferte.

"Beide sind Heulsusen", dachte Skyla, während sie weiterhin Arwens einzigen Sohn, William, beobachtete.

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Erneut bitte ich dich um Vergebung, weil es mir zehn Jahre gedauert hat, dir diesen Brief zu schreiben. Ich hatte Angst, du wärst noch nicht alt genug, um meine Worte zu verstehen, also habe ich das Schreiben einige Jahre hinausgezögert.

Aber als ich das Lächeln der Kinder hier in Nytfe Aethel sah, konnte ich meine Gefühle nicht mehr zurückhalten und beschloss, sie niederzuschreiben.

Ich möchte alles über dich wissen: was du gern isst, welche Hobbys du hast, wie du aufgewachsen bist und ob die Familie deines Vaters gut für dich sorgt. Erzähl mir bitte alles. Selbst wenn es nur um das Wetter geht oder was du zum Frühstück gegessen hast.

Von nun an werde ich dir regelmäßig schreiben. Da der Silbermond-Kontinent weit entfernt vom Südkontinent liegt, kann ich dir nur zwei Briefe pro Monat schicken.

Ich bin sehr dankbar, dass Skyla es auf sich genommen hat, dir meinen Brief zu übermitteln. Sie ist mein Geisttier und ich vertraue ihr vollkommen. Sie möchte übrigens, dass du sie 'Große Schwester Skyla' nennst.Es scheint, dass sie die Absicht hat, dich wie ihren kleinen Bruder zu behandeln. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.

Ich würde gerne mehr schreiben, aber ich fürchte, dass ich mich nicht zurückhalten könnte, alle meine Frustrationen in diesem Brief auszuschütten. Das möchte ich nicht.

Erneut bete ich, dass du mir einen Antwortbrief schicken wirst. Du sollst wissen, dass ich deine handgeschriebenen Briefe wie ein Familienerbstück hüten werde.

Ich werde geduldig auf deine Antwort warten.

In ewiger Liebe,

Arwen Aenarion Ainsworth

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William atmete schwer, als er den Brief zu Ende las. Sein Herz schmerzte in seiner Brust, während er versuchte, seine verworrenen Gedanken zu ordnen.

Dies war das erste Mal, dass seine leibliche Mutter Kontakt zu ihm aufnahm und es überraschte ihn. Wenn ihn jemand fragen würde, ob er seine Mutter Arwen hasste, wäre die Antwort ein klares Nein.

Obwohl er die Umstände nicht kannte, hatte ihm sein Großvater gesagt, dass seine Mutter eine schwere Bürde trug. Ihre Entscheidung, William nach Lont zu schicken, sollte seine Sicherheit gewährleisten.

Williams Gefühle für Arwen waren weder warm noch kalt. Im Moment war Arwen für ihn eine Fremde. Obwohl sie es war, die ihn zur Welt gebracht hatte, hatte er sie in den letzten zehn Jahren weder gesehen noch mit ihr interagiert.

Doch in dem Moment, als er den Brief seiner Mutter las, brachen die Gefühle, die in seinem Herzen geschlummert hatten, plötzlich hervor. Süße, Bitterkeit und Schmerz vermischten sich und gaben William einen Vorgeschmack darauf, was es bedeutet, mit jemandem verbunden zu sein, der meilenweit entfernt von Lont ist.

Er faltete den Brief sorgfältig zusammen und legte ihn in seinen Eroberungsring. William nahm sich vor, ihn später noch einmal zu lesen, wenn er sich beruhigt hatte.

Der weiße Kranich schaute ihn an und stieß einen leisen Ruf aus. Das holte William aus seiner Benommenheit und machte ihm klar, dass er einen Antwortbrief für seine Mutter schreiben sollte.

"B-Big Sister, Skyla?"

"Krooooo."

"Was kannst du mir über meine Mutter erzählen?"

Skyla blickte William mit sanften Augen an. Ihre Augen schienen zu sagen: "Das wird eine Weile dauern, also lass uns lieber einen Ort suchen, wo wir reden können, anstatt hier zu stehen."

William sah sich um und hustete verlegen. Die beiden standen am Straßenrand, und das war kein geeigneter Ort für ein langes Gespräch über seine Mutter.

"Lass uns ins Haus gehen, ich werde auch meine Tante Helen bitten, dir etwas zu essen zu machen."

"Kroooo."

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William, Ella und Skyla machten es sich im Garten bequem. Der weiße Kranich begann seine Geschichte zu erzählen, und William hörte ihr gebannt zu. Die Kranichdame sprach über den Silbermond-Kontinent, die Heilige Stadt Nytfe Aethel und über die Familie Aenarion.

Skyla war eine begnadete Geschichtenerzählerin. Sie sprach nicht über Arwens Mühsale und erzählte nur von den lustigen und amüsanten Dingen. Nach und nach machte sich William ein Bild von seiner Mutter.

Eine schöne Elfin mit langen blonden Haaren und hellgrünen Augen, die das Herz jedes Mannes zum Schmelzen brachten, der sie ansah. Skyla schien auch einen Schalk im Nacken zu haben. Sie erzählte William Geschichten über seine Mutter, wie eine Tante, die gerne auf der Straße tratscht.

William musste hin und wieder kichern, wenn er sich vorstellte, wie seine vornehme Mutter unter Stapeln von Papieren begraben war. Auch Ella hörte mit ernstem Gesichtsausdruck zu. Sie war sehr an der leiblichen Mutter ihres Kindes interessiert.

Als Skyla ihre Erzählung beendete, ging bereits die Sonne unter.

William dankte ihr ausgiebig dafür, dass sie ihm von seiner Mutter erzählt hatte. Dann machte er sich daran, einen Antwortbrief zu schreiben, den Skyla zurück zum Silbermond-Kontinent bringen würde.

Nachdem er seinen Brief verfasst hatte, bedrängte William James um einen Aufbewahrungsring, in dem er die Geschenke, die er für seine Mutter vorgesehen hatte, aufbewahren konnte. James stimmte seiner Bitte zu und öffnete sogar das Lagerhaus, um einige besondere Produkte aus Lont hinzuzufügen.

William wollte Arwen ein besonderes Geschenk machen, das ihm gehörte, aber ihm fiel nichts ein. Schließlich entschied er sich, ihr den Mantel zu schenken, der aus dem Fell des von ihm im Kampf persönlich erlegten Donnerhornwolfs gefertigt war.

Helen hatte Williams Namen auf den Mantel genäht, und der Junge fand, dass es ein passendes Geschenk für seine Mutter war.

Er steckte den Speicherring zusammen mit seinem Brief in die zylindrische Röhre. William band den Röhrenbehälter persönlich an Skylas Bein und achtete darauf, dass er fest saß.

Bevor sie aufbrach, schmiegte sich Skyla an Williams Gesicht, um sich seinen Duft einzuprägen. Mit einem leisen Schrei zum Abschied erhob sie sich in den mondbeleuchteten Himmel und machte sich auf den Weg zum Silbermond-Kontinent.

William sah ihr nach und legte seine Hand auf seine Brust. Er schwor sich, dass er eines Tages in der Zukunft persönlich in die Heilige Stadt Nytfe Aethel gehen und seine Mutter wiedertreffen würde.

Ob ihr Wiedersehen von Glück oder Tränen geprägt sein würde, würde nur die Zeit zeigen.