Mit 15 Jahren rannte Kiyomi von zuhause weg, ohne zu wissen, wohin. Ihre Mutter war schon lange zuvor verschwunden, und zurückzukehren war keine Option. Sie brauchte einen Ort zum Bleiben, Zweifel und Reue hatten keinen Platz.
Tagelang streifte sie durch dunkle Straßen, ihre Beine waren schwer, ihre Lippen rissig, und ihre Hände zitterten vor Kälte und Schwäche. Hungrig und verängstigt, kämpfte sie gegen die Erschöpfung an. Der Wasserspender am Stadtrand wurde zu ihrem Orientierungspunkt, zu dem sie immer wieder zurückkehrte, um kurz auszuruhen und sich zu orientieren. Anfangs bat sie um Hilfe, doch nach vielen Ablehnungen begann sie, zu lügen und zu stehlen. Sie stahl kleine Beträge und Essen, um zu überleben. Bald nannte man sie „die diebische Katze", und die Leute begannen, ihr zu misstrauen. Das zwang sie dazu, den Ort zu verlassen.
Kiyomi zog Richtung Osten, weg vom Wasserspender, der ihr Halt gegeben hatte. Ihre Beine schmerzten, der Hunger zermürbte sie, aber sie kämpfte weiter. Schließlich entdeckte sie ein Café und überlegte, ob sie dort jemanden täuschen könnte, um Essen zu bekommen.
Gerade als sie eintreten wollte, kam eine Frau heraus. Ihre Kleidung war elegant und sie strahlte Autorität aus, was Kiyomi innehalten ließ. Dennoch versuchte sie, das Paket der Frau zu greifen, doch die Frau hatte einen außergewöhnlich starken Griff. Die Frau sah ihr direkt in die Augen, als könne sie Kiyomi durchschauen.
Frau: „Fehlt dir etwas?"
Kiyomi starrte die Frau an, ihr Herz schlug schneller. Für einen Moment dachte sie an ihre Mutter, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Die Frau hob eine Augenbraue und sah Kiyomi verwirrt an.
Frau: „Suchst du deine Mutter, Kind?"
Kiyomi: „Nein, du bist doch..." Doch bevor sie weitersprechen konnte, knurrte ihr Magen laut. Die Schwäche in ihrem Körper wurde unerträglich.
Frau: „Du hast wohl länger nichts gegessen. Hier, nimm das." Sie reichte ihr das Paket, das Kiyomi stehlen wollte.
Kiyomi nahm das Paket, senkte den Blick und bedankte sich leise. Ihr Stolz war verletzt, doch der Hunger war stärker. Sie wollte gehen, aber ihre Beine fühlten sich schwer an.
Frau: „Jetzt musst du das auf eine andere Weise bezahlen." Ihre Stimme klang ruhig, fast herausfordernd.
Kiyomi: „Ich habe kein Geld." Ihre Stimme zitterte.
Frau: „Ich spreche nicht von Geld, Kleines." Die Frau sah sie eindringlich an, als würde sie in ihre Seele blicken.
Kiyomi: „Wie dann?" Sie fühlte sich klein und schutzlos, während die Frau keine Anzeichen von Angst zeigte.
Frau: "Ich spreche von einer Widergutmachung, aber sag mir lieber erst warum bist du hier? Suchst du deine Mutter?" Die Stimme der Frau klang sanft, als ob sie Mitleid hätte.
Kiyomi: „Was geht dich das an?" Sie versuchte, scharf zu klingen, doch ihr fehlte die Kraft.
Frau: „Ich habe selbst schlimme Tage hinter mir und jemanden verloren." Trauer lag in ihrer Stimme. Kiyomi fühlte eine seltsame Verbindung zu der Frau.
Kiyomi: „Das klingt grausam."
Frau: „Es war meine Schuld." Die Frau seufzte schwer. „Aber warum bist du hier?"
Kiyomi: „Das geht dich nichts an." Ihre Stimme klang trotzig, doch die Frau ließ sich nicht beeindrucken.
Frau: „Wie wäre es, ich erzähle dir etwas, und du mir? Auge um Auge."
Kiyomi: „Warum sollte ich dir glauben?"
Frau: „Ich habe dir Essen gegeben und tue dir nichts." Die Frau legte den Kopf schief, als wäre sie amüsiert.
Kiyomi: „Ich bin von zuhause abgehauen. Ich habe drei Tage nichts gegessen." Die Erinnerungen an die letzten Tage trafen sie hart.
Frau: „Armes Kind. Ich bin damals auch abgehauen, aber ich war älter. Wie alt bist du?"
Kiyomi: „Das war nicht die Vereinbarung! Sag mir, was du getan hast!"
Frau: „Gut. Ich habe meine Familie verlassen, meine Tochter allein gelassen. Ich bereue es." Ihre Stimme zitterte leicht.
Kiyomi: „Warum hast du das getan?"
Frau: „Ich hatte Angst." Die Frau konnte ihr nicht in die Augen blicken, während sie das sagte. „Und jetzt, wie alt bist du?"
Kiyomi: „15." Sie sah zu Boden.
Frau: „Meine Tochter wäre jetzt wohl auch so alt." Die Frau seufzte tief.
Kiyomi: „Warum erzählst du mir das?"
Frau: „Warum erzählst du einer Fremden deine Geschichte? Es war aber Teil unsere Vereinbarung, kleines. Aber ich will dich nicht 'Kleines' nennen. Wie heißt du?"
Kiyomi: „Warum willst du das wissen?"
Frau: „Weil so etwas für so ein Gespräch normal ist!?"
Kiyomi: „Und was ist, wenn du lügst?"
Frau: „Wie würdest du das wissen?"
Kiyomi hatte keine Antwort.
Kiyomi: „Wir kennen beide den Namen der anderen nicht. Was habe ich davon, deinen Namen zu kennen?"
Frau: „Du kannst sagen, dass du mich kennst. Das bringt Vorteile." Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Kiyomi: „Welche Vorteile?"
Frau: „Ich bin bekannt hier. Wenn du meinen Namen kennst, brauchst du keine Angst mehr zu haben."
Kiyomi: „Wie soll das funktionieren?"
Frau: „Freche Fragen. Haben dich deine Eltern schlecht erzogen?"
Kiyomi warf der Frau einen Blick zu, der sie kurz zum Schweigen brachte.
Frau: „Ah, ich verstehe schon. Wegen diesem Problem bist du wohl abgehauen."
Kiyomi: „Woher weißt du das?"
Frau: „Anfängerin. Du hast es gerade zugegeben."
Kiyomi fühlte sich unterlegen. Diese Frau wusste, wie man mit Worten umging.
Kiyomi: „Was hast du davon, meinen Namen zu kennen?"
Frau: „Gar nichts. Es ist angenehmer, wenn man sich mit Namen anspricht."
Kiyomi: „Na gut. Aber zuerst deinen Namen."
Frau: „Ich heiße Mio."
Kiyomi: „So direkt? Mio? Was für ein Name..."
Mio: „Man nennt mich auch die 'Eiskalte'.
Kiyomi: „Warum eiskalt?"
Mio: „Wegen meines Umgangs mit Gegnern."
Kiyomi: „Welche Gegner?"
Mio: „Das ist die Information, die wir vereinbart haben."
Kiyomi: „Ha, jetzt habe ich dich. Ich kenne deinen Namen, aber du meinen nicht."
Mio: „Mich kennt die ganze Stadt. Halte dein Wort und erzähl mir von dir."
Kiyomi bekam Angst, als Mio sie fest ansah. Die Aura die Mio ausstrahlte war erschreckend.
Mio: „Also, dein Name?"
Kiyomi: „Ich heiße Seika. Tut mir leid."
Seika hatte nicht vor ihr das zu erzählen. Diese Frau war furchteinflößend. Es war fast so, als könnte man vor ihr nicht lügen.
Mio: „Seika? Das ist doch ein Zufall. Meine Tochter hieß auch Seika."
Seika: „…?" Seika hielt inne. "Was labert die da?", dachte sich Seika
Mio: „Wie heißt deine Mutter?"
Seika: „Ich weiß nicht!" Seika schien immer mehr durch die Fragen von Kiyomi gelöchert zu werden und fühlte sich zunehmend überfordert.
Mio: „Nein! Moment mal. Ich habe da einen Gedanken...Aber, das kann nicht sein."
Seika: „Was kann nicht sein?"
Mio: „Wann bist du abgehauen?"
Seika: „Was?"
Mio wurde nervös, ihre Stimme wurde lauter.
Mio: „Wann bist du abgehauen?"
Seika: „Ich…"
Mio: „Sag es mir einfach!" Mios Stimme wurde lauter und war nun deutlich weniger ruhig.
Seika: „Ich will nicht. Du machst mir Angst!"
Mio: „Sag es mir einfach. Ich muss es wissen und werde es früher oder später sowieso erfahren." Die Aufforderung und die Autorität, die Mio ausstrahlte schienen Seika dazu zu zwingen alles was sie wusste Preis zu geben. Das war ein merkwürdiges Gefühl und Seika fühlte sich Mio unterlegen.
Seika: „Ich wollte weg von meinem Vater."
Mio: „Was hat er getan?"
Seika: „Er hat getrunken und uns geschlagen."
Mio: „Und dann ist deine Mutter abgehauen und hat dich alleine gelassen?"
Seika: „Ja…"
Mio: „Er hat euch eingeschlossen und euch seine 'Liebe' aufgezwungen?"
Seika: „Ja, aber woher…"
Mio: „Komm mit."
Seika: „Wohin?"
Mio: „Das ist jetzt egal. Komm einfach mit!"
Seika: „Was willst du?"
Mio: „Stell keine Fragen mehr und folge mir."
Mio nahm Seika mit zu einem sicheren Ort. Es war ein Raum, der wie ein Büro wirkte, mit vielen Fotos an den Wänden. Eines der Fotos zog Seikas Aufmerksamkeit auf sich. Sie sah genauer hin und erkannte etwas in der Ecke des Bildes, was dort nicht sein sollte.
Mio: „Ich sehe, du hast es erkannt?"
Seika: „Das kann doch nicht sein. Das bin ja ich." Sie starrte auf das Foto, ihr Kopf schwirrte vor Fragen. Wie konnte das sein? Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf, all die Zeiten, in denen sie sich verloren und verlassen gefühlt hatte. War das wirklich sie? Und was bedeutete es, dass diese Frau das Bild besaß?"
Mio: „Ich kann es auch kaum glauben, aber du bist es wirklich. Meine kleine Seika." Ihre Stimme brach leicht, und Tränen stiegen ihr in die Augen, während sie versuchte, die überwältigende Freude und Erleichterung zu verbergen. Es fühlte sich an, als hätte sie ein verlorenes Stück ihres Herzens wiedergefunden.
Mio wurde glücklich, Tränen liefen ihr über die Wangen. Doch Seika reagierte anders. Seika Augen blitzen auf, ihr linkes Auge zuckte. "Ma...ma?"
Mio: "Ja, Seika ich bin..." Doch...
Seikas Kopf lief rot an, ihre Hände formten sich zu Fäusten, ihr Atem wurde flacher und Mio verstummte beim Anblick in das Gesicht ihrer Tochter. Seika knirschte die Zähne und ihre Wangen verhärteten sich, bevor sie mit ihrem Blick Löcher durch Mio bohrte.
Seika: „Was soll das heißen? Warum hast du mich verlassen? Warum bist du nicht zurückgekommen? Warum musste ich den ganzen Scheiß allein durchmachen!?"
Tränen formten sich in Seikas Augen. Ihre Fäuste leuchteten auf und kleine Feuerfunken sprühten aus ihren Händen, während sie ungeduldig auf Antworten von Mio wartete, die jedoch weiter mit einem tiefverletzen Blick schwieg und das vor Wut zitternde Mädchen bemitleidete, die sie ihre Tochter nannte.