"Echo... es ist ein Echo..."
Sunny konnte seinen Augen nicht trauen.
Echos waren eine extrem seltene Art von Belohnung, die Erwachte erhalten konnten, nachdem sie Alptraumkreaturen erlegt hatten. Die Chancen, eines zu bekommen, waren sehr gering. In der realen Welt konnte ein Echo für unvorstellbare Summen verkauft werden. Das lag daran, dass sie viel wertvoller waren als Erinnerungen.
Ohne länger zu zögern, tauchte er in sein Meer der Seele ein. Dort hatte sich nur wenig verändert: Eine einsame schwarze Sonne schwebte noch immer über dem ruhigen, stillen Wasser. Sie wurde von Lichtkugeln umkreist, die seine Erinnerungen darstellten. Diesmal waren es drei.
Genau wie zuvor wurde Sunny das Gefühl nicht los, dass sich etwas am Rande seiner Sichtweite heimlich bewegte. Doch dieses Mal schenkte er dem keine Beachtung. Er wollte sein Echo sehen.
Auch es wurde durch eine Lichtkugel dargestellt. Allerdings war diese Kugel viel größer und schwebte weiter vom Schattenkern entfernt. Mit einem Gedanken befahl er ihr, herabzusteigen.
Die Kugel schwebte langsam herab und berührte das dunkle Wasser. Als Sunny näher kam und auf der Oberfläche des Meeres wandelte, verblasste ihr Glanz langsam und enthüllte das Monster in ihrem Inneren.
Ein riesiger, bedrohlicher Panzer-Aasfresser stand ruhig vor ihm. In seinen Augen war kein Wahnsinn zu erkennen... oder überhaupt ein Gefühl. Schließlich war er nicht wirklich lebendig. Er war nur ein Echo.
Leuchtende Runen erschienen in der Luft um den Aasfresser.
Echo: [Panzer-Aasfresser].
Echo-Typ: Bestie.
Echo-Kern: Erwacht.
Echo-Attribute: [Stark], [Gepanzert].
Echo-Beschreibung: [Ein verfluchter Soldat der gefallenen Legion].
Ehe Sunny sich versah, erschien ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Dieser Aasfresser gehörte jetzt ihm: Er konnte beschworen und zum Kampf gegen seine Feinde, zum Transport schwerer Lasten oder für andere Aufgaben eingesetzt werden. Außerdem stand er einen ganzen Rang über seinem Meister, was bedeutete, dass er viel stärker, widerstandsfähiger und furchterregender war, als es ein Träumer mit einem schlafenden Kern normalerweise sein sollte.
Mit diesem Echo an ihrer Seite würden viele Dinge einfacher werden.
Getrieben von einem Impuls, hob Sunny eine Hand und strich sie über das kalte, schwarze Chitin. Er wollte einfach nur seinen neuen Besitz berühren...
Doch in dem Moment, als seine Handfläche den Aasfresser berührte, geschah etwas Seltsames. Das Meer der Seele brandete plötzlich auf, und eine neue Reihe von Runen erschien:
[Das Echo in einen Schatten verwandeln?]
Sunny zuckte zusammen und riss seine Hand zurück.
'Was zum Teufel soll das bedeuten?'
Er hatte noch nie etwas davon gehört, dass man Echos in etwas anderes verwandeln konnte, geschweige denn in "Schatten". Andererseits hatte er auch noch nie von Schattenkernen und -fragmenten gehört.
'Es scheint, als hätte mein Aspekt mehr Geheimnisse, als ich dachte.'
Sunny leckte sich über die Lippen und zögerte. Dann sagte er vorsichtig:
"Ja."
Doch es geschah nichts. Einen Moment später veränderten sich die Runen:
[Nicht genug Schattenfragmente, um eine Verwandlung durchzuführen].
[Benötigte Schattenfragmente: 24/100.]
Er runzelte enttäuscht die Stirn.
'So, es gibt also noch eine andere Verwendung für die Fragmente. Sie können entweder meinen eigenen Kern verstärken oder etwas Seltsames mit Echos anstellen. Wie soll ich wissen, welche Anwendung vorteilhafter ist, wenn ich nicht weiß, was eine Verwandlung wirklich bewirkt?'
Ein Echo war für sich genommen schon sehr nützlich. Sunny beschloss, sich vorerst auf seine eigene Stärkung zu konzentrieren.
'Später werde ich damit experimentieren.'
Mit diesen Worten verließ er das Meer der Seele.
Da er eine Weile abwesend gewesen war, schaute Nephis ihn mit einer Fragen in den Augen an.
Sunny grinste:
"Ich habe ein Echo."
Ihre Pupillen weiteten sich leicht.
Cassie hingegen war ausdrucksstärker:
"Ein Echo? Du hast wirklich ein Echo?!"
"Ja."
Da die größere Gruppe von Monstern nur noch Minuten entfernt war, sie einzuholen, verschwendete Sunny keine Zeit und rief den Aasfresser.
Das riesige Ungetüm erschien sofort vor ihm, aus winzigen Lichtfunken zusammengenäht. Schon bald wurde sein schwarzes Chitin vollkommen körperlich. Auf Sunnys Befehl hin bewegte es sich ein wenig und hob seine mächtigen Zangen.
Nephis beobachtete das Echo mit unleserlichem Gesichtsausdruck. Dann zuckten ihre Lippen leicht nach oben.
"Gut."
Sunny sah sie mit einem Lächeln an.
"Ich denke, wir können es damit beauftragen, Cassie zu transportieren. Außerhalb der Kämpfe wird es uns am meisten helfen."
Dem blinden Mädchen blieb der Mund offen stehen.
"Mich tragen? Wie... wie ein Reittier?"
Er kicherte und klopfte dem Aasfresser auf seinen Panzer.
"Dieses Ungetüm kann ein zierliches Mädchen wie dich ohne Probleme tragen. Vertrau mir! In den letzten Tagen bin ich viel auf diesen Dingen herumgeklettert. Es ist eigentlich ziemlich geräumig auf ihnen, vor allem, wenn sie nicht versuchen, dich umzubringen."
Cassie zögerte.
"Nun... okay. Wenn du meinst, dass es am besten so ist."
Sunny und Nephis halfen dem blinden Mädchen, auf das Echo zu klettern. Dann benutzten sie ein goldenes Seil, um provisorische Zügel anzufertigen, an denen Cassie sich festhalten konnte.
Nachdem sie schnell die Seelensplitter der toten Aasfresser eingesammelt hatten, verließen die Schläfer hastig den Gang und entgingen so knapp einem weiteren Kampf.
***
Da Cassie bequem auf dem Aasfresser ritt, erhöhte sich ihr Tempo drastisch. Sunny und Nephis joggten an der Spitze, in der Hoffnung, die in der ersten Tageshälfte verlorene Zeit wieder aufzuholen und den höchsten Punkt mit ein oder zwei Stunden Vorsprung zu erreichen.
Manchmal mussten sie Umwege nehmen, um Kämpfen mit Gruppen von gepanzerten Monstern auszuweichen. Aber mit einem eigenen Monster an ihrer Seite waren Stimmung und Geisteszustand der drei Schläfer weitaus besser.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft an diesem Ort fühlte sich Sunny einigermaßen ruhig.
Natürlich hielt diese Ruhe nicht lange an.
Irgendwann bemerkte Sunny, dass der Wind stärker wurde. Fast zeitgleich bat Cassie sie anzuhalten.
Nephis und Sunny sahen sie mit tiefem Stirnrunzeln an. Sie schienen beide eine böse Vorahnung zu haben.
"Was ist los?"
Das blinde Mädchen ließ die Zügel los.
"Hörst du etwas?"
Sie sahen sich an und schüttelten dann den Kopf.
"Nein. Warum?"
Cassie runzelte die Stirn.
"Helft mir, von diesem Ding herunterzukommen."
Nachdem sie ihr geholfen hatten, stand sie eine Weile regungslos da und hörte zu. Ihr finsterer Blick vertiefte sich. Dann kniete das blinde Mädchen vorsichtig nieder und legte ihr Ohr an den Boden.
"Was hörst du?"
Cassie leckte sich über die Lippen.
"Es ist ein Murmeln."
Plötzlich fiel ein Wassertropfen auf Sunnys Gesicht. Er hob den Kopf und sah in den Himmel.
Dort zogen dunkle Gewitterwolken mit unnatürlicher Geschwindigkeit auf. Schon bald würden sie ihn vollständig bedecken.
Einschließlich der Sonne.
Und wenn das geschah...
Seine Augen weiteten sich.