Kapitel 1 Stille Straßen
Wer durch die Straßen von Landor ging, konnte nachts, wenn es dunkel wurde neben den rhytmischen und schnellen Schritten der Patrouillen, dem Gegröle aus den Gasthäusern und Kneipen in den engen Gassen am Hafen; das leise Schluchzen eines Jungen hören. Bei uns sagt man, die Tränen eines Kindes können Wunder bewirken.
Aber beginnen wir mal ganz von vorne.
Im Westen unserer Heimat Antalya am Kristallmeer liegt Landor, die glänzende Stadt des Königs.
Wenn man an sonnigen Tagen vom Pass des Sinangebirges kommt, kann man schon von Weitem die funkelnde Kuppel des Palastes sehen, die prunkvollen Mauern mit denen ihnen anliegenden Türmen auf denen jeweils ein Katapult thront. Sonnon der Vierte hatte einst dieser Stadt zu ihrer machtvollen Erscheinung verholfen, indem er seinen Palast mit einer Kuppel aus reinem Kristall deckte und die Mauern verstärkte. Im inneren Teil der Stadt konnte man schon aus großer Entfernung die schön verzierten Häuser der reichen Adeligen, Ritter und Kaufleuten sehen, deren Türen jeweils das Wappen der Familien schmückte.
Das Gefühl von Anmut, Schönheit, Grazie und Sicherheit wich aber sobald man die Stadt betrat und der Gestank von Verwesung, Fäulnis und Elend einem wie ein betörender Schleier zu Kopf stieg. Der äußere Ring Landors war von Hütten geprägt, die bei genauerem Hinsehen dem nächsten Gewitter mit Sicherheit nicht standhalten würden. Die meisten dieser Behausungen waren nur aus dem notwendigsten zusammengezimmert; dass was man hier auf der Straße fand. Die Hütten aus Brettern, Stroh und Lehm nahmen die bizarrsten Formen an. Nur die Wenigsten konnten ihre Hütten mit Stein verstärken. Die Straße hatte sich in Morast verwandelt, durch den sich nur hier und da ein Gespann seinen Weg bahnte. Nur ein Blick in die Ecken zwischen den Häusern genügte um festzustellen woher dieser beißend modrige Geruch kam. Unvorstellbar, dass hier Menschen lebten. Aber dieser Teil Landors hatte nun mal seine eigenen Regeln. Die Menschen wuschen ihre Wäsche in Pfützen auf der Straße, Dreck war ein ständiger Begleiter im Alltag und an einigen Ständen wurden hier sogar Lebensmittel verkauft. Ein paar Straßen höher wurde die Menschenmenge etwas dichter.
Da die Sonne ihre letzten wärmenden Strahlen über die Oberfläche sandte und die Kuppel in ein gleißendes Orange tauchte, ging auch dieser Markttag zu Ende und die Bewohner des unteren Stadtrings wandten sich wieder ihren Hütten zu. Nur ein Junge, nicht größer als einen Meter fünfzig, versuchte sich durch die Menschenmenge zum Markt durchzukämpfen. Durch seine für Landor untypischen pechschwarzen Haare hob er sich deutlich von der Menge ab. Silan kam oft so spät zum Markt. Er hoffte noch etwas Essbares zu ergattern. Da es schon dunkel wurde bewegte sich Silan nur gebückt, um den Boden nach etwas Brot abzusuchen. Aber diesmal waren sie gründlicher gewesen; es war nichts mehr zu entdecken. Silan hatte sich schon fast damit abgefunden heute wieder mit knurrendem Magen schlafen zu gehen, doch auf einmal trat ein Glanz in seine mausgrauen Augen und seine rechte Hand schnellte nach vorn um einen Brotkrumen zu umklammern, der zwischen den Pflastersteinen liegen geblieben war. Kaum hatte er den Krumen gepackt, durchzuckte seinen Arm ein heftiger Schmerz. Er blickte auf und Entsetzen stand in seinen sonst so kindlichen Gesichtszügen. „Kriech dorthin zurück, wo du hingehörst!" Zwei Jugendliche im Hintergrund lachten. Er kannte diesen Jungen, er war aus dem inneren Kreis. Flavier liebte es ihn mit seiner Bande zu schikanieren. Flaviers Fuß traf ihn hart am Kinn, das sofort brannte und ihn rücklings auf die harten Steine warf. „Ah wen haben wir denn da? Wenn das mal keine Überraschung ist!" In Silan machte sich langsam Panik breit. Noch immer lag er mit dem Rücken auf dem harten Pflaster, die rechte Hand umklammerte immer noch das Stück Brot, was er gefunden hatte. Der Schmerz trieb ihm langsam die Tränen in die Augen. Sie hatten ihm schon wieder eine Falle gestellt. Mit einem Satz war Silan aufgesprungen und schubste Flavier von sich weg, dann rannte er mit einer Geschwindigkeit los, die man ihm aufgrund seiner schlaksigen Gestalt gar nicht zugetraut hätte. Flavier, der damit gar nicht gerechnet hatte war zuerst einige Schritte zurückgetaumelt, aber dann geistesgegenwärtig genug mit seinen zwei Kumpanen die Verfolgung angetreten. „Lasst ihn nicht entkommen!" Jeder der drei war mindestens zwei Köpfe größer als Silan und durch die Ausbildung zu Schildknappen gut durchtrainiert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn wieder einholen würden. Silan rannte so schnell er nur konnte, durch die engen Gassen. In seinem Kopf lief nebenbei das Szenario davon ab, wie es sein würde, wenn er es nicht schaffen sollte ihnen zu entwischen.
Er schlug Haken, bog links ab, wich einer Frau mit einem Korb aus, sprang über die Tonkrüge, die vor der Tür eines Hauses standen und rannte rechts in eine Gasse hinein. Sackgasse. Sie hatten ihn. Er wollte wenden, zurücksprinten, aber seine Beine brachen unter seiner Last zusammen. Erschöpfung überkam seinen ganzen Körper. Gierig schlang er noch das Stück Brot hinunter, das konnten sie ihm nicht mehr nehmen. Ein Ellenbogen traf ihn von hinten in die Rippen und er sackte zu Boden. Der starke Schmerz sagte ihm, dass einige seiner Rippen gebrochen sein müssten. Die nächsten Sekunden kamen ihm wie Stunden vor. Vor seinen Augen liefen wieder und wieder die Momente ab, wo sie ihn erwischt hatten. „Du dreckiger Dieb" und er spürte wie der nächste Tritt seinen Magen traf. Die Angst stand ihm wie ins Gesicht gemeißelt. Er spürte wie Blut aus seiner Nase tropfte, seiner unvergleichlich schönen Nase. Das Einzige, was ihm von seiner Mutter noch geblieben war. Er bereitete sich schon auf den nächsten Tritt vor, während ein Wort die stumme Marterung durchbrach: „HALT". Die überwältigende Dominanz dieses Wortes lies das Trio zurückschrecken. Erst jetzt nahm Silan das sanfte Glühen in der unbeleuchteten Ecke war. Er hatte den Mann in seiner Panik gar nicht bemerkt. Der Mann stand langsam auf. „Macht, dass ihr fortkommt. Feiges Pack!". Flavier war es peinlich erwischt worden zu sein, außerdem vermochte er es nicht, seinen Gegner einzuschätzen. „Los Leute wir hauen ab! Das nächste Mal wird dir niemand helfen!" Dann sah Flavier zu, dass er Abstand gewann. Seine zwei Komparsen taten es ihm gleich. Der Mann trat nun einen Schritt auf Silan zu und ein paar Strahlen der, an der Ecke stehenden, Laterne fielen auf ihn. Silans Blick wanderte über die Stiefel aus Nappaleder über die zerschlissenen Sachen auf seinen wettergegerbten Schultern hinauf auf sein Gesicht. Seine Miene unter dem kurzen Bart schien unberührt und neutral. Als nächstes fesselten Silan die leuchtenden grünen Augen, die die Dunkelheit zu durchschauen schienen. Als er dann auf seine schulterlangen Haare schaute, wurde ihm klar, dass der Mann nicht von hier sein konnte; er war ein Landstreicher. Silan hatte schon viel über solche Menschen gehört. Sie sollen hilflose Reisende im Schlaf erdolchen, nur um an ihre Ersparnisse zu gelangen, Oft wurden sie als Diebe und Mörder geächtet und gejagt. Der Fremde ging noch einen Schritt auf Silan zu. Silan wollte sich bewegen. Aber er stand noch zu sehr unter Schock, so dass seine Beine ihm nicht gehorchen wollten und er nur zitternd auf dem Boden lag. Was jetzt kommen würde, konnte er sich schon denken.
Der Fremde schob eine Hand in die Tasche seines verschlissenen Mantels und als er sie wieder herauszog, war sie mit blauen Beeren gefüllt. „Das wird die Schmerzen lindern." Silan ließ die Beeren in seine Hand fallen, sprang, nach wie vor unter Schock, auf und lief ohne auch nur ein Wort des Dankes zu sagen an dem Fremden vorbei in die Dunkelheit der Gassen.
Als Silan auf seinem Stroh lag, konnte er, dass was eben passiert war immer noch nicht richtig fassen. Dieser Fremde hatte ihm geholfen, ihn gerettet, so etwas war noch nie passiert. Niemand hatte Silan angeschaut, mit ihm gesprochen oder ihn getröstet, seit seine Eltern gestorben waren. Geschweige denn geholfen und das noch ohne etwas dafür zu verlangen. Sein kleines Herz machte einen Sprung. Er mochte diesen Fremden.
Irgendwie.