Szene 1: Der Beginn der Reise
Ryeon hatte die Nacht im Dunkeln verbracht, den Kopf voller Fragen und Unsicherheiten. Die Frau mit den silbernen Haaren, deren Namen er immer noch nicht kannte, hatte ihm nichts von ihrem eigenen Schicksal erzählt. Sie schien es zu verstehen, dass er Zeit brauchte, um das, was er gerade erfahren hatte, zu verarbeiten. Aber der Morgen war gekommen, und mit ihm ein Gefühl der Unausweichlichkeit.
Die Frau führte ihn durch die geheimen Gänge und versteckten Pfade der Stadt. Es war ein Labyrinth aus verlassenen Kellern und vergessenen Straßen, das Ryeon niemals bemerkt hätte, hätte er nicht plötzlich ein anderes Ziel vor Augen. „Wo gehen wir hin?", fragte er, während sie eine weitere verwinkelte Gasse entlanggingen.
„Du wirst lernen müssen, dich zu verstecken", antwortete sie, „und du wirst lernen müssen, wie man das Netz sieht. Wo du hinschaust, wird sich deine Zukunft zeigen. Doch nicht jeder Faden ist klar, nicht jeder Faden ist sicher." Ihre Stimme war ruhig, doch es lag eine unterschwellige Dringlichkeit darin. Ryeon konnte nicht sagen, ob es an der Situation lag oder an etwas anderem, das sie verbarg.
Sie blieben schließlich vor einem unscheinbaren Gebäude stehen – einem alten, fast ruinösen Haus am Rand der Stadt. Die Fenster waren verblasst, und die Fassade war von Efeu überwuchert, sodass sie fast mit der Natur verschmolz. „Hier", sagte sie und drehte sich zu ihm. „Dies ist der Ort, an dem du lernen wirst, was du bist."
Ryeon sah sie an. „Und was bin ich?"
„Ein Weber", sagte sie einfach. „Ein Weber des Schicksals."
Szene 2: Das Erbe der Weber
Im Inneren des Gebäudes war es düster und kühl. Doch Ryeon bemerkte sofort, dass der Raum voller Gegenstände war, die er nicht zuordnen konnte – alte Bücher, seltsame Artefakte und geheimnisvolle Symbole, die auf den Wänden prangten. Die Frau, die sich ihm als Lira vorgestellt hatte, führte ihn zu einem Tisch, auf dem ein altes, zerfleddertes Buch lag.
„Dies ist das Buch der Fäden", erklärte sie. „Es enthält alles, was du wissen musst, um die Fäden des Schicksals zu sehen und zu lenken. Doch sei gewarnt – der Weg, den du nun betreten hast, ist nicht ohne Gefahren. Es gibt diejenigen, die diese Macht für ihre eigenen Zwecke nutzen wollen. Die Weber sind nicht die einzigen, die von dir wissen."
Ryeon legte seine Hand auf das Buch und spürte, wie sich ein seltsames Kribbeln in seinem Inneren ausbreitete. Es war, als ob das Buch selbst lebte, als ob es auf ihn wartete. „Warum ich?", fragte er leise. „Warum kann ich das sehen und andere nicht?"
Lira trat hinter ihm und sah auf das Buch. „Die Fäden sind für alle sichtbar, aber nur wenige können sie wahrnehmen. Du hast eine Gabe, die in deiner Familie vielleicht schon lange verborgen war. Aber diese Gabe hat ihren Preis. Es ist nicht nur ein Geschenk – es ist ein Fluch. Ein Fluch, der dich an das Netz bindet."
Ryeon drehte sich zu ihr um. „Und was passiert, wenn ich nicht lerne, wie man es kontrolliert?"
„Dann wird das Netz dich verschlingen", antwortete sie düster. „Und nicht nur dich. Jeder, der dir nahe ist, wird mit dir in den Strudel gezogen. Die Weber werden nicht zögern, dich zu nutzen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen."
Ryeon schluckte. Es war mehr, als er ertragen konnte, aber es war jetzt zu spät, sich zu verstecken. Er musste lernen, was es bedeutete, ein Weber zu sein. Und vielleicht… vielleicht konnte er das Netz verändern, bevor es ihn zerstörte.
Szene 3: Das Netz erkennen
Lira führte ihn durch die Übungen, die er brauchte, um das Netz zu erkennen. Die ersten Stunden waren verwirrend. Ryeon starrte auf die Fäden, aber sie schienen sich zu verschieben, zu flimmern und zu verschwimmen. Es war, als ob sie ihm absichtlich entglitten, jedes Mal, wenn er versuchte, sie zu greifen. Doch Lira blieb geduldig, beobachtete ihn und gab ihm immer wieder Hinweise.
„Fokussiere deinen Geist", sagte sie immer wieder. „Die Fäden sind nicht nur sichtbar, sie sind auch fühlbar. Du musst die Bewegung des Schicksals spüren."
Es war eine Herausforderung, aber nach und nach begann Ryeon, ein Gefühl dafür zu entwickeln. Die Fäden waren nicht nur in der Luft sichtbar, sondern sie waren in den Menschen um ihn herum, in den Handlungen, die sie taten. Wenn er genau hinsah, konnte er die Verbindungen sehen – wie sie sich unter der Oberfläche webten und veränderten.
„Jeder Mensch hat seine eigene Linie", erklärte Lira. „Diese Linie wird durch die Entscheidungen, die er trifft, beeinflusst. Du kannst die Fäden sehen, aber du musst lernen, sie zu interpretieren."
Ryeon versuchte, sich auf eine Frau zu konzentrieren, die vor einem Fenster stand. Ihr goldener Faden war dünn und schimmerte sanft, doch als er näherkam, konnte er sehen, dass sie zögerte, den nächsten Schritt zu tun. Ein winziger Riss zeigte sich im Faden, ein Moment der Unsicherheit. Ryeon starrte auf den Faden und bemerkte, wie er sich verzog, als die Frau die Entscheidung traf, den Raum zu betreten.
„Gut", sagte Lira mit einem anerkennenden Nicken. „Du hast den ersten Schritt gemacht. Du siehst jetzt, was die anderen nicht sehen. Doch das reicht nicht. Du musst lernen, wie man diese Fäden lenkt."
Szene 4: Das Dilemma der Freiheit
Es war spät am Abend, als Lira und Ryeon eine Pause machten. Ryeon setzte sich an einen der Tische und starrte auf die dicken Folianten vor ihm. „Aber wie kontrolliere ich die Fäden?", fragte er, die Verwirrung immer noch in seiner Stimme.
„Indem du verstehst, dass jede Entscheidung, die du triffst, den Faden verändert", erklärte Lira ruhig. „Der wahre Schlüssel liegt nicht darin, das Schicksal zu erzwingen, sondern es zu verstehen. Zu wissen, wie es sich ausbreitet, und zu akzeptieren, dass es nicht immer nach deinen Wünschen verläuft."
Ryeon lehnte sich zurück und dachte nach. „Aber wenn ich die Fäden ändern kann, was passiert dann? Wird das Schicksal wirklich so einfach umgeschrieben?"
„Nein", sagte Lira mit einem Hauch von Trauer in ihrer Stimme. „Es gibt Dinge, die selbst die stärksten Weber nicht ändern können. Es gibt Kräfte, die das Netz schützen. Und wenn du versuchst, das Schicksal zu stark zu biegen, wirst du feststellen, dass das Netz immer wieder an seinen Ursprung zurückkehrt."
Ryeon sah sie an. „Und was passiert dann?"
„Dann wirst du die Konsequenzen tragen müssen."
Szene 5: Der erste Riss
In den Tagen, die folgten, lernte Ryeon schnell. Aber es war nicht genug, um den Webern zu entkommen. Die Erinnerungen an das, was Lira ihm über das Netz und die Weber erzählt hatte, lasteten schwer auf ihm. Doch er wusste, dass es keine Rückkehr mehr gab. Die Fäden hatten ihn jetzt vollständig ergriffen.
Eines Nachts, als er allein in der Bibliothek war, starrte Ryeon auf einen besonders dicken Faden, der vor ihm schwebte. Es war der Faden eines Mannes, den er vor Jahren gekannt hatte – ein alter Freund, der ihn einst verraten hatte. Ryeon spürte den Zorn in sich aufsteigen. Die Entscheidung war klar, der Faden wankte bereits.
Doch dann erinnerte er sich an Liras Worte: „Du kannst die Fäden nicht einfach nach deinem Willen ziehen." Ein Riss bildete sich in dem Faden vor ihm, und Ryeon wusste, dass dies mehr war, als nur eine Entscheidung. Es war der Beginn einer Reise, von der er nie mehr zurückkehren würde.