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Ich, endlich

_bookaura
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Synopsis

Chapter 1 - Zwischen den Zeilen

Mein Name ist Jules. Geboren wurde ich als Julian, aber das ist ein Name, der mich jedes Mal wie ein zu enges Hemd erstickt. Er passt einfach nicht – hat nie gepasst. Das erste Mal, dass ich das bewusst gespürt habe, war, als ich fünf Jahre alt war und meine Mutter mir diesen blauen Pullover angezogen hat. Er war rau, kratzig und hatte einen großen aufgestickten Dinosaurier darauf. Ich erinnere mich daran, wie ich im Flur stand, die Arme verschränkt, und nicht zurück in die Kita gehen wollte. Ich wollte das Kleid tragen, das ich an einem Wochenende heimlich aus dem Schrank meiner Cousine geklaut hatte. Es war rosa, mit kleinen Glitzersternen, und ich wusste, dass ich darin ich selbst war. Aber natürlich durfte ich das nicht sagen. Ich war ein Junge, sagte meine Mutter. Jungs tragen keine Kleider. Jungs müssen stark sein.

Meine Mutter hat uns verlassen, als ich acht war. Es war ein regnerischer Abend, und ich erinnere mich, wie der Regen gegen die Fensterscheibe prasselte, während sie mit meinem Vater gestritten hat. Sie dachte wohl, ich würde nichts hören, aber unsere Wohnung war klein, und die Wände waren dünn. Ihre Stimme hallt immer noch in meinem Kopf. „Ich kann das nicht mehr. Dein Sohn ist nicht normal, siehst du das nicht? Er zieht heimlich meine Schuhe an, schminkt sich mit meinem Lippenstift und will Barbiepuppen zu Weihnachten! Das ist doch nicht normal!"

Mein Vater hat versucht, sie zu beruhigen, aber ich konnte hören, wie er selbst kaum wusste, was er sagen sollte. Er verstand es nicht. Niemand verstand es. Außer mir. Ich habe auf dem Boden meines Zimmers gesessen, eine zerbrochene Barbie in den Händen, und habe gewartet, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Danach hat sie sich nie wieder gemeldet. Kein Anruf, keine Karte. Nur Stille.

Nachdem sie ging, wurde alles schlimmer. Mein Vater versuchte, der beste Vater zu sein, der er sein konnte, aber es war klar, dass er nicht wusste, wie er mit mir umgehen sollte. Er brachte mir ein Basketballset zum neunten Geburtstag – ich hatte mir ein Zeichenbuch gewünscht. Als ich es ihm sagte, starrte er mich an, als hätte ich ihn persönlich beleidigt. „Jungs zeichnen nicht," sagte er. „Jungs spielen Basketball. Du musst nur üben, dann wird dir das Spaß machen." Ich habe es versucht. Zwei Wochen lang habe ich den Ball gegen die Garagenwand geworfen, bis ich ihn in die Ecke warf und nie wieder anfasste. Was mir Spaß machte, war etwas ganz anderes.

Mit zehn habe ich angefangen, Geschichten zu schreiben. Sie waren über Prinzessinnen, die sich in verwunschene Wälder wagten, und Heldinnen, die Drachen töteten. Ich habe sie in einem alten Schulheft festgehalten, das ich auf dem Dachboden versteckt habe, weil ich wusste, dass mein Vater es nicht verstehen würde.

Dann kam die sechste Klasse. Meine Klasse war klein, und die anderen Jungen waren laut und grob. Ich war still, immer mit einem Buch oder einem Stift in der Hand. Die Lehrer nannten mich „zu sensibel", die anderen Jungs nannten mich „Schwuchtel". Es war ein Wort, das ich nicht ganz verstand, aber ich wusste, dass es nichts Gutes bedeutete. Die Mädchen waren anders. Sie redeten mit mir – zumindest einige von ihnen. Ich spielte mit ihnen Hüpfspiele auf dem Schulhof und half ihnen, ihre Haare zu flechten. Aber sobald ein Lehrer oder ein Elternteil uns sah, verstummten wir. Es war, als wäre unsere Freundschaft ein Geheimnis, das niemand wissen durfte.

Ich glaube, das Schreiben hat mir geholfen, nicht vollkommen zu zerbrechen. Mit vierzehn habe ich angefangen, Gedichte zu schreiben. Meistens über Dinge, die ich nicht laut sagen konnte. Über das Gefühl, in meinem eigenen Körper gefangen zu sein. Über die Wut, die ich auf mich selbst hatte, weil ich nicht so sein konnte, wie alle von mir erwarteten. Eines dieser Gedichte begann so:

Ein Spiegel, der lügt, jeden Tag, jede Nacht,

Ein Bild, das mich anstarrt, fremd und kalt.

Wer bin ich? Wer soll ich sein?

Ein Leben im Schatten, nie ganz, nie mein.

Ich habe es nie jemandem gezeigt. Nicht einmal meinem Vater, obwohl ich manchmal dachte, dass er es vielleicht lesen sollte. Aber wir haben nie über solche Dinge gesprochen. Die einzige Regel in unserem Haus war, dass man funktioniert. Man redet nicht über Probleme, man löst sie – oder ignoriert sie, bis sie von selbst verschwinden.

Jetzt bin ich siebzehn, und nichts hat sich wirklich geändert. Ich bin immer noch derselbe Geist, der durch die Flure der Schule schwebt. Ich habe keine engen Freunde, nur Bekannte, die mich tolerieren. Ich trage immer noch weite Kleidung, um meinen Körper zu verstecken. Manchmal stehe ich vor dem Spiegel und versuche, mir vorzustellen, wie ich aussehen würde, wenn ich ein Mädchen wäre – nicht nur in meinem Kopf, sondern auch in der Wirklichkeit. Aber der Gedanke fühlt sich an wie ein Traum, der nie wahr werden wird.

Meine Flucht ist das Schreiben. Ich fülle Seiten um Seiten mit Worten, die niemand je lesen wird. Meine Geschichten sind meine Welt, eine Welt, in der ich ich sein kann. Wo ich mich nicht verstecken muss. Wo ich die Jules sein kann, die ich immer war. Es ist nicht genug, aber es ist etwas. Es hält mich am Leben.

Heute hat mein Vater wieder mit mir gestritten. Es ging um die Bewerbung für ein Ausbildungsprogramm, das er unbedingt will, dass ich mache. „Das ist eine sichere Zukunft, Jules. Das ist das, was du brauchst." Aber ich brauche etwas anderes. Ich brauche Freiheit. Ich brauche endlich einen Weg, um aus diesem Leben zu entkommen. Aber wie erklärt man das jemandem, der einen nicht sehen will?

Manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn meine Mutter geblieben wäre. Hätte sie mich verstanden? Hätte sie mir geholfen? Oder wäre alles noch schlimmer geworden? Diese Fragen verfolgen mich, aber ich kenne die Antworten nicht. Alles, was ich habe, sind Worte. Worte, die ich auf Papier bringe, in der Hoffnung, dass sie mich eines Tages retten. Und diese Hoffnung ist alles was mir bleibt.