Teil 1
HOPPE HOPPE REITER,
WENN ER FÄLLT,
DANN SCHREIT ER
KAPITEL -13
Der Tag fängt genauso beschissen an wie der gestern. Und der vorgestern. Und wie eigentlich jeder andere Tag, seit ich denken kann. Was inzwischen seit 15 Jahren der Fall ist, wenn man die ersten zweidreiviertel Jahre meines Lebens nicht mitzählt. Wobei ich mich, dafür, dass ich nur ein Baby Schrägstrich Kleinkind war, noch relativ gut daran erinnern kann, dass auch diese ersten beiden Lebensjahre nicht sonderlich viel Frohsinn für mich übrig hatten. Also könnte man auch gut und gerne die volle Lebensspanne von 17 ¾ Jahren nehmen... wenn ich so darüber nachdenke, frage ich mich, ob es eigentlich überhaupt einen Tag in meinem Leben gab, von dem man behaupten könnte, dass er fröhlich gewesen wäre. Mir fällt jedenfalls keiner ein.
Es pisst wie aus Eimern, so wie eigentlich fast immer. Das Einzige, was mich vor den süßwasserperlengroßen Regentropfen schützt, ist die Kapuze der schwarzen Sweatshirtjacke, die ich wie immer über meinen Klamotten trage. Ihre Farbe trifft ziemlich exakt den Ton meiner momentanen Stimmungslage. Da ich sie aber eigentlich immer trage, kann man sich so ungefähr vorstellen, wie meine Stimmungslage an anderen Tagen ausfällt.
„Versinkst du mal wieder im Selbstmitleid?", höre ich eine krächzende Stimme neben mir und das Geräusch von flatternden Flügeln. Die Augen genervt verdrehend, ignoriere ich die Stimme.
Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass mich sowieso alle für eine Spinnerin halten – einschließlich mir wohlgemerkt – das letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann, ist in der Öffentlichkeit den Beweis zu erbringen, dass ich nicht mehr alle Nadeln an der Tanne habe, indem ich laut mit einem Raben spreche, der mich verfolgt.
„Komm schon, Hope. Willst du mich nicht an deinen sicherlich todtraurigen Gedanken teilhaben lassen? Mir ist so langweilig!"
„Dann geh doch irgendein Nagetier jagen und lass mich in Ruhe!", ziehe ich meine Kapuze tiefer in mein Gesicht, während ich durch zusammengebissene Zähne zische und inständig hoffe, dass niemand sieht, wie ich mit diesem bescheuerten Tier rede, dass mir in perfekter Stalkermanier von Zaun zu Zaun hüpfend folgt.
„Hab' ich schon gemacht. So eine kleine Spitzmaus dachte, sie könnte den lauernden Krallen des Todes entkommen – doch ich habe mich wie immer auf sie gestürzt und mich an ihren warmen Innereie–..."
„Himmel, Arsch und Vogeldreck", unterbreche ich den Kolkraben – der mit seinen 70 Zentimetern selbst für seine Gattung groß ist – angewidert und verziehe das Gesicht. „Das hatten wir doch schon, Corax! Ich will von deinem ekelerregenden Fressverhalten und deiner Vorliebe für Innereien nichts hören."
„Weißt du Hope, es ist auch nicht gerade eine Wohltat für meine Augen, wenn du Hähnchenflügel mit den Fingern isst! Die sind so etwas wie meine Verwandten! Wenigstens fresse ich deine Familie nicht...", krächzt er jetzt immer weiter und ich seufze nur ergeben und ignoriere ihn. Es bringt nichts mit einem sturen Raben zu diskutieren, der denkt, er wäre mit Hühnern verwandt. Da ist Hopfen und Malz sowieso verloren. Ein bisschen wie bei mir. Vielleicht sind wir deshalb so ein gutes Team. Zwei Jammergestalten, die sowieso nicht mehr ganz knusper in der Birne sind.
Manchmal bereue ich es aber auch, dass ich ihm damals, als ich mit 14 Jahren wieder nach Hause gekommen bin, das Leben gerettet habe. Seitdem lässt er mich nicht mehr in Ruhe, verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Was ich zwar irgendwo nachvollziehen kann, da ich der einzige Mensch bin, der ihn versteht und er der einzige Vogel ist, den ich verstehen kann, doch das macht es nicht weniger erbärmlich. Wir haben nur einander – was so für sich genommen schon traurig genug wäre. Was diese total schräge Freundschaft allerdings noch trauriger macht, ist die Tatsache, dass er im Grunde mein einziger Freund ist.
Abgesehen von Corax ist mein Sozialleben quasi nicht existent. Zwar besuche ich ein Gymnasium und habe auch vor, mein Abitur zu machen – aber das heißt ja noch lange nicht, dass ich ein normaler Mensch bin. Denn mal davon abgesehen, dass ich in ein paar Wochen mein Abitur habe – noch bevor ich 18 werde; das ist für viele schon Grund genug mich zu verachten und sich so weit es irgend geht, von mir fern zu halten – war es das auch schon mit dem, was ich bisher für mich und mein Leben geplant habe.
Ich habe keine Ahnung, was danach passieren soll. Wo soll ich hin? Was soll ich tun? Wie soll ich mein Leben nur auf die Reihe bekommen, nachdem es doch noch nie in der Reihe gewesen ist?
Nicht, dass es nicht vielen jungen Leuten in Deutschland gleich ginge – aber ich habe die Befürchtung, noch ein Stückchen hilfloser zu sein, als all die anderen. Vor ihnen breitet sich eine Welt voller Möglichkeiten aus, während ich das Gefühl habe, im Meer all dieser Aussichten, Gelegenheiten und Eventualitäten zu ertrinken, weil ich nirgendwo darin einen Halt entdecken kann.
Das einzige, wobei ich mir sicher bin, ist, dass ich hier nicht bleiben werde. Und mit 'hier' meine ich jeden Ort, an dem meine Familie ist. Nicht, weil ich meine Familie nicht lieben würde, im Gegenteil, ich liebe sie über alles und es gibt nichts, was ich nicht für sie tun würde – doch ich passe genauso wenig zu ihnen wie in eine Schlagerparade. Oder in diese Stadt. Oder auf dieses Gymnasium oder sonst irgendwohin – ich passe einfach nicht hinein. Egal, wo ich bin. Es gibt keinen Halt für mich, keinen Ort, an dem ich Zuhause bin. Und das macht es sogar noch trauriger, wenn man mal darüber nachdenkt, dass die einzige feste Konstante in meinem Leben dieser Kolkrabe mit Identitätskrise ist.
Nach der Geburt des jüngsten meiner drei Geschwister war für Mama, Papa und mich alles klar. Sie haben allesamt rote Haare und grüne Augen, genauso wie meine Eltern. Als der Kleine geboren war und Papa in diese grünen Augen geblickt und danach mich angesehen hat, beschloss mein Vater vor sieben Jahren, den Verdacht, den er schon mein ganzes Leben hatte, laut auszusprechen: nämlich, dass ich nicht von ihm stammen kann. Also hat er das einzig logische getan – Achtung, Sarkasmus – und hat sich nach einem extremen Wutausbruch, in dem er mich fast umgebracht hätte, vom Acker gemacht und uns Kinder mit Mama alleine zurückgelassen.
Mir selbst war das damals mehr als Recht, schließlich hat er seine miese Laune und Zweifel immer an mir ausgelassen. Nicht nur an diesem einen Tag und das auch nicht zu kurz – das Souvenir, dass er zurückgelassen hat, kurz bevor er verschwunden ist, hätte er mir ruhig ersparen können –, aber das, was er Mama damit angetan hat, werde ich ihm nie verzeihen. Für meine Mutter war nicht nur der gewalttätige Ausraster meines Vaters ein herber Schlag. Auch, auf einmal völlig alleine, ohne eine Cent dazustehen, war für sie ein Alptraum. Korrigiere, ist. Als alleinerziehende Mutter von vier Kindern ist das Leben in Deutschland hart. Wobei das vermutlich nicht nur für unser Land, sondern für jedes andere auch gilt – es ist schlichtweg fast nicht machbar, vier Kinder großzuziehen, zwei Jobs zu haben, den Haushalt zu schmeißen und dabei nur ansatzweise ein Privatleben zu haben, wenn man so wie meine Mutter keinerlei Unterstützung hat. Sie hat keine Familie, keine Freunde, niemanden, der ihr helfen kann. Sie hat nur uns. Also versuche ich ihr zu helfen, wo ich nur kann. Doch die Depression, unter der ich seit den Ereignissen leide, die der Wutausbruch meines Vaters zur Folge hatte, erlauben es mir nicht, sie in dem Ausmaß zu unterstützen, wie ich es gerne tun würde. Mein Krankheitsbild erlaubt mir keinen Nebenjob, mir bleibt also nur, mich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern. Doch egal, wie sehr ich ihr auch helfen möchte – ich mache es nur schlimmer. Der Druck ist zu groß. Schon seit langem ist von meiner Mutter nur noch ein Schatten ihrer selbst übrig, der mich jedes Mal in ein noch tieferes Loch zieht, wenn ich sie sehe. Und was viel entscheidender ist: auch sie fällt in sein solches Loch – jedes Mal, wenn sie mich sieht.
Es ist meine Schuld. Ich weiß, dass ich rein rational betrachtet nichts dafür kann, dass mein Vater ausgerastet und abgehauen ist – das sagt mir meine Therapeutin auch immer wieder. Auch was mir danach in der Anstalt angetan wurde, sei nicht meine Schuld gewesen, sagt sie, denn man kann für das Tun anderer nicht verantwortlich sein – aber eine Stimme in meinem Kopf sagt mir das Gegenteil. Sie sagt, es ist meine Schuld. Und ich weiß, dass sie Recht hat. Keine Ahnung was es ist oder wie ich das anstelle, aber um mich herum passiert nichts Gutes. Da ist kein Platz für Fröhlichkeit – war es noch nie. Ich ziehe schlimme Dinge an, wecke das Böse in den Leuten. Es ist, als würden üble Comic-Duftschwaden über meinem Kopf alle um mich herum vorwarnen, dass ihnen in meiner Nähe etwas Furchtbares widerfahren wird. Vielleicht ist es das, warum sich alle von mir fernhalten. Mitschüler, der Großteil meiner Lehrer, selbst Fremde auf der Straße... vielleicht ist das auch der Grund, dass sogar meine Geschwister die Nähe zu mir meiden. Es sind diese Schwingungen der Antriebslosigkeit, der Schuldgefühle und des vollkommenen Mangels an Selbstvertrauen, die ich vermutlich durch jede meiner Handlungen ausstrahle wie ein Kernreaktor kurz nach einer Spaltungsreaktion. Womöglich können Menschen mit so etwas nicht gut umgehen. Und wer kann es ihnen verdenken.
Meine Therapeutin meint, es wäre völlig normal, dass ich nach all dem, was mir zugestoßen sei, so über mich denke und in ein solches Loch falle – und wahrscheinlich hat sie damit gar nicht so Unrecht. Allerdings frage ich mich nur, was der Grund für all diese Symptome war, bevor Papa anfing, mich in den Keller zu schleifen und zu seinem höchstpersönlichen Boxsack zu machen. Denn diese selbstzerstörerischen Empfindungen in meinem Inneren kamen nicht erst mit Papas Vermutung, dass ich nicht sein Kind bin. Und Papas Gedanke, die Familie zu verlassen, kam auch nicht erst mit der Geburt meines kleinen Bruders. Das war zwar der Auslöser für seine Überreaktion, aber nicht der Ursprung.
Depressionen bauen sich genauso wenig in ein paar Tagen der Misshandlung auf, wie der Gedanke eines Vaters, die eigene Familie zu verlassen – bis meine Depressionen auf dem Niveau waren, das sie jetzt haben, hat es 13 Monate gedauert. Und eine solche Entscheidung, wie die meines Vaters, trifft man auch nicht von heute auf morgen; das war keine spontane Überreaktion. Meine miese Ausstrahlung rührt nicht durch seinen Missbrauch, die war schon vorher existent. Und genauso ist es mit seiner Entscheidung, uns zu verlassen. Die war schon in trockenen Tüchern, lange bevor Matt das Licht der Welt erblickte.
Ich war wohl der Auslöser, der ihn zum Ausrasten gebracht hat, aber der Ausraster war nicht der Grund, der ihn zum Gehen bewogen hat – und doch kann ich weder gegen die Schuldgefühle, die mir jeden Tag aufs Neue das Gefühl geben, ich bin 70 Meter tief unter Wasser ankämpfen noch kann ich etwas gegen den Druck auf meiner Brust oder die mangelnde Luft zum Atmen machen. Vollkommen wehrlos strampele ich gegen die drückenden Wassermassen an, aber nichts hilft. Ich gehe unter, sinke immer tiefer und es gibt nichts und niemanden, der mich davor abhalten wird, irgendwann zu ertrinken.
Ich kann es nicht fassen, dass ich in eingebildeten Wassermassen verenden werde, die nicht nur überhaupt nicht existieren, sondern auch noch eine beschissene Metapher für den steten Untergang meiner selbst sind, für den niemand außer ich selbst verantwortlich bin – was für ein passendes Ende für eine jämmerliche Erscheinung wie mich.
Meine Umwelt rauscht wie immer an mir vorbei, ich bekomme außer meinen eigenen selbstmitleidigen Gedanken mal wieder nichts mit, bis ich gegen ein Fahrrad laufe und es umwerfe.
„Kannst du nicht aufpassen wo du hinläufst, du hässliche Emo-Schnalle?", beschimpft mich ein Achtklässler genervt und schüttelt den Kopf. „Mein Fahrrad ist sicher nicht dran schuld, dass dein Leben scheiße ist!", ruft er mir hinterher, während ich sein Rad einfach liegen lasse.
Wo er recht hat, hat er recht. Aber es ist besser für ihn, wenn er mir fern bleibt, auch wenn ich ihm das sicher nicht erst sagen muss. Zweifelsohne ist er sowieso nicht sonderlich heiß auf meine Anwesenheit. So wie auch sonst niemand in dieser Schule. Und ich verstehe es. Ich verstehe es aufrichtig.
Das niedergeschlagene Seufzen, wenn jemand bei einer Partnerarbeit mit mir zusammen arbeiten muss, bin ich gewohnt. Genauso wie das heimliche Tuscheln hinter meinem Rücken, weil ich die Kapuze nie ab- und die Handschuhe nie ausziehe. Genauso wie die Tatsache, dass alle möglichen Gegenstände in meiner Gegenwart die spontane Fähigkeit entwickeln zu fliegen und dabei meinen Kopf anzusteuern (das ist die einzig logische Erklärung, denn schließlich war es ja nie jemand, wenn die Lehrer fragen). Auch die allgemeine Verwunderung über meine guten Noten, obwohl ich nie mitmache, selten Hausaufgaben abgebe oder sonst irgendeine Art von Leistung erbringe, die so gute Noten rechtfertigen würde, hat schnell für Skepsis in meinen Mitschülern gesorgt, die dann noch schneller in Missgunst umschlug – aber all das verstehe ich vollkommen, ehrlich. Ich kann es nur schlicht und ergreifend nicht ändern.
Mir fehlt die Motivation. Mir fehlt die Energie, mich für das, was meine Mitschüler denken oder tun, zu interessieren. Mir fehlt der Wille, mir meine Noten fair und nicht mithilfe des Mitleids der Lehrkräfte zu verdienen, die meine Situation nur allzu gut kennen und mir nicht noch mehr zusetzen wollen. Mir fehlt schlicht und ergreifend... keine Ahnung. Eigentlich alles.
„Sieh mal", höre ich eine Mitschülerin aus meiner Jahrgangsstufe flüstern, als ich an ihr vorbei in Richtung Klassenraum gehe. Ich glaube, sie heißt... Saskia? Es könnte aber auch Annika sein – keine Ahnung. Ist im Grunde auch egal. Ich mag sie nicht. Und das beruht definitiv auf Gegenseitigkeit. „Was sie wohl sagt, wenn sie es hört?", zischt sie ihrer Freundin zu.
Das klingt nicht gut. Ganz und gar nicht gut... hätte mein Leben einen Soundtrack, dann würde an dieser Stelle ein unheilvolles "Dun-Dun-Duuun", ertönen.
„Du weißt doch, wie sie ist", entgegnet ihre Freundin, deren Name mir im Grunde genauso egal ist, wie Saskias/Annikas und wirft sich ihre Haare völlig affektiert über ihre Schulter. Wenn sie mir nicht so gleichgültig wäre, hätte ich jetzt vielleicht die Augen verdreht. „Sie wird wie immer nichts sagen. Das ist so unfair! Das hat sie gar nicht verdient!", jammert Saskias Rockzipfel und ich bringe es gerade so über mich, mit der Stirn zu runzeln.
Wenn sie mir etwas nicht gönnen, ist es bestimmt etwas, worauf die beiden ganz scharf sind – das heißt, dass ich es unter gar keinen Umständen haben will! Da die Mutter des Rockzipfels, deren Namen mir einfach nicht einfallen will, Lehrerin an dieser Schule ist, liegt die Vermutung nahe, dass die beiden etwas wissen, das ich nicht weiß. Es muss irgendetwas mit Anerkennung, Aufmerksamkeit oder derlei Unannehmlichkeiten zu tun haben, auf die ich getrost verzichten kann.
Ich bin kurz davor, einfach umzudrehen und das Schulgelände wieder zu verlassen, werde dann aber zu meinem Leidwesen von einer mir bekannten Stimme aufgehalten.
„Frau Reuther?"
Noch nie habe ich verstanden, was dieser Quatsch mit dem Siezen zwischen Schülern und Lehrern soll und ich werde mich auch nie daran gewöhnen, dass mich Leute mit meinem Nachnamen ansprechen.
„Äh, ja?", frage ich nach und drehe mich um. Ich blicke in das Gesicht unseres Tutors, ein junger Lehrer namens Joshua Simmons, der aus den USA nach Deutschland kam, um Kinder, Teenager und junge Erwachsene wie mich zu unterrichten. Warum auch immer.
„Kommen Sie doch schon einmal herein, bevor ich die anderen ebenfalls in die Klasse rufe", fordert er mich auf.
Herr Simmons ist unser Lehrer für den Englischleistungskurs auf der Ersten Leiste und somit so eine Art Klassenlehrer für uns. Und wenn er mich alleine in der Klasse sprechen will, kann das für mich überhaupt nichts Gutes bedeuten.
„Äh, okay", gebe ich in einem spontanen Anflug ausgewachsener Schlagfertigkeit zurück und frage mich, ob er mir jetzt mitteilt, dass ich bei den Prüfungen durchgefallen bin. Dank meiner genialen Reaktion auf Herrn Simmons Bitte, die ja gerade eben so ansehnlich das treffsichere Ausmaß meines Intellektes unter Beweis gestellt hat, würde es mich nicht wundern, wenn ich durchgefallen wäre. Zwar habe ich durchaus für die Abiturprüfungen gelernt, aber ein sonderlich gutes Gefühl hatte ich bei keiner der Prüfungen. Aber das habe ich ja eigentlich nie. Egal, was ich tue.
„Setz dich doch bitte, Hope", fordert er mich auf und zögerlich nehme ich Platz. Er spricht uns sonst immer mit Nachnamen an und siezt uns – dass er jetzt einen auf Kumpel macht, beunruhigt mich nur noch mehr. Werde ich sterben? Gerade fühle ich mich so, als müsse er mir diese unheilvolle Nachricht überbringen. Auch wenn er ein Lehrer und nicht mein Arzt ist und daher die Wahrscheinlichkeit hierfür gleich null ist... mal davon abgesehen; das hätten mir Saskiannika sicherlich von Herzen gegönnt. Vielleicht ist es etwas noch Schlimmeres...
„Wie du dir sicher denken kannst, geht es um deine Abiturergebnisse", beginnt er und mustert mich. Ich schätze, er ist so Anfang dreißig. Vielleicht ist er auch schon älter, bei Lehrern finde ich das Alter immer schwer einzuschätzen. Aber die Art und Weise, wie er mich mustert, gefällt mir gar nicht. Als würde er irgendeine bestimmte Reaktion erwarten. Und ich bin mir fast 100 prozentig sicher, dass er die nicht kriegen wird. Es sei denn, er verkündet mir jetzt, dass er mit einem Robbenbaby schwanger ist und es Lollipop nennen will. Das würde selbst mich vor den Kopf stoßen. Schätze ich.
„Was... ist damit?", hake ich unsicher nach, weil Herr Simmons einfach nicht weiterreden will.
„Entgegen aller Erwartungen...", zieht er seine Aussagen wieder so unnötig in die Länge und ich beginne nervös mit dem Fuß auf den Boden zu tippen. Völlig untypisch für mich.
„Ja?", will ich es jetzt einfach wissen. Wenn ich es nicht gepackt habe, soll er es gottverdammt nochmal einfach sagen! Dann kann ich nach Hause gehen und mir darüber Gedanken machen, in welcher McDonald's Filiale sie wohl neues Personal suchen.
„...hast du die besten Noten des ganzen Jahrgangs geschrieben", sagt er dann.
Außer zu blinzeln fällt mir nichts ein, was ich darauf entgegnen könnte.
Da wäre mir das mit dem Sterben lieber gewesen.
Deutlich lieber!
Die besten Noten? Des ganzen Jahrgangs? Ich?
Woher?
„Wenn du im mündlichen Abitur ebenso gut abschneidest, könntest du einen Schnitt von 1,3 oder besser erreichen, Hope. Und das ist... also das soll jetzt nicht heißen, dass wir dich nicht für intelligent oder fleißig halten würden, keinesfalls... aber das ist doch... wesentlich besser, als jeder deiner Lehrer erwartet hätte. Du bist mit deinen schriftlichen Leistungen dermaßen übers Ziel hinausgeschossen, dass wir uns nun Sorgen machen, du könntest diese Leistung in den mündlichen Überprüfungen... naja, da du sonst eher ruhig und zurückhaltend bist, was mündliche Mitarbeit betrifft, könnte es das Ergebnis deutlich beeinträchtigen und verschlechtern, wenn du nicht am Ball bleibst. Deshalb teile ich dir das jetzt mit, bevor die Noten morgen offiziell an euch Schüler gegeben werden. Verstehst du, was ich dir zu sagen versuche?"
Nein. Kein Wort. Ich bin noch immer bei dem Wort „besten", das ich noch gar nicht verarbeiten kann. Eigentlich hatte ich nicht das Gefühl, dass ich sonderlich gute Prüfungen geschrieben habe. Geschweige denn, dass ich sonderlich gute Klausurergebnisse gehabt hätte, die letzten beiden Jahre.
Wie komme ich denn bitte zu Bestnoten?
Dürfen Lehrer einem selbst im Abitur aus Mitleid gute Noten geben? Gibt es da nicht Gesetze oder Regeln, die so etwas verbieten?
„Ich verstehe das nicht...", murre ich und ziehe meine Kapuze tiefer in mein Gesicht. Simmons seufzt, aber diese Geste kennt er schon von mir. Noch hat mich kein Lehrer dazu gebracht, die Kapuze abzuziehen und das wird auch keinem gelingen. Im Gegenteil sogar – desto mehr sie versuchen, mich darunter hervorzulocken, desto mehr igele ich mich in meinen schwarzen Sachen ein und sperre alle anderen aus. Das weiß er, deshalb versucht er gar nicht mehr, mich zu überzeugen, mich ihm oder sonst irgendjemand gegenüber zu öffnen. Aber irgendetwas versucht er dennoch...
„Du bist immer gut im Schriftlichen gewesen, Hope. Nicht nur bei mir, in jedem Fach."
Seit wann denn das? Ich bin immer davon ausgegangen, dass mir alle Lehrer nur Mitleidspunkte gegeben haben, weil sie wissen, was mir zugestoßen ist und wie es – zumindest was die medizinische Diagnose anbelangt – in mir drin aussieht. Bisher hatte ich angenommen, sie lassen mich nur aus dem Grund mit einigermaßen passablen Noten durchkommen, weil sie nicht dafür verantwortlich sein wollen, dass ich einen vollständigen Nervenzusammenbruch erleide und in noch tiefere Depressionen verfalle, wenn ich in der Schule auch noch versage. Welcher Lehrer will schon schuld daran sein, dass ein Schüler einen depressiven Schub erleidet und sich am Ende noch was antut?
Nicht, dass das Risiko bei mir bestünde, aber ich verstehe sie, wenn sie mir deshalb Noten schenken, die ich nicht verdient habe. Es war vielleicht feige von mir, es so lange zuzulassen, dass sie mir Noten gegeben haben, die mir überhaupt nicht zustehen, aber andererseits habe ich sie schließlich nicht darum gebeten, mich zu schonen. Alles, was ich ihnen gesagt hätte, hätten sie mir sowieso nicht geglaubt. Genauso wenig wie ich Simmons jetzt glaube. Aber wer glaubt schon einem Mädchen, das von ihrem Vater beinahe umgebracht und schwer misshandelt wurde, seit drei Jahren an Depressionen leidet und zudem ihr Gesicht und ihre Hände vor den Blicken anderer versteckt?
„Vor allem in deinen Leistungskursen bist du stark", erzählt Herr Simmons weiter und ich komme mir vor, wie in einer Märchenstunde. Es war einmal ein Mädchen mit schwarzem Haar, das wurde von allen gemieden, aufgrund dessen, dass es wart sonderbar. Als das Mädchen dann erhielt Bestnoten im Abitur, wart es niedergetrampelt und gesteinigt von den Mitschülern während großer Aufruhr.
Ende.
Eine großartige Geschichte.
Eine eins in Deutsch würde ich verstehen.
Ironie aus.
„Doch es fehlt dir an Offenheit, an Ehrgeiz, an Motivation", macht Simmons unbehelligt weiter, während er von der lauschigen kleinen Märchenstunde vor meinem inneren Auge nichts mitbekommt. Vielleicht würde er seine Noten zurücknehmen, wenn ich ihm davon erzähle? „Ich weiß, dass das alles schwer für dich sein muss... ich bin mir über deine Situation im Klaren. Es ist grausam, was du alles durchmachen musstest und was du und deine Familie ertragen habt. Es ist falsch, dass einem so jungen Menschen so furchtbare Dinge angetan wurden." Aha. Heißt das, wenn ich älter gewesen wäre, würde es ihn nicht so sehr mitnehmen? Komische Wortwahl. „Aber das zeigt doch umso mehr, wie stark du bist. Und wie begabt – ich kennen keinen anderen Schüler, der sich in diesem Alter so wacker durchs Leben geschlagen und dabei auch noch so gut abgeschnitten hätte." Wenn er denkt, dass er mir damit schmeichelt oder mich mit so einer Arschkriecherei motiviert, ist der Gute schief gewickelt. Dieser ganze Unsinn sorgt nur dafür, dass ich mich noch schuldiger fühle, weil ich das alles nicht verdiene. Ich schlage mich nicht wacker – nicht einmal ansatzweise. Im Gegenteil, alles was ich anfasse zerbricht, zerfällt und wird zerstört. Er ist nur zu blind, um das zu sehen... „Also habe ich mich mit Dr. Pick-Hackenberg unterhalten und sie hat mir empfohlen ganz offen und aufrichtig, mit dir über meine Bedenken, was deine mündlichen Prüfungen angeht, zu sprechen. Wir beide glauben, dass du..."
Doch ich höre ihm nicht mehr zu. Draußen am Fenster hackt Corax mit seinem Schnabel auf das Fenster ein und das ist alles, was ich jetzt ich höre.
Tock, tock, tock – macht er und wäre ich alleine, würde ich ihn hereinlassen. Aber ich bin nicht alleine. Und ich bin mir sicher, dass Simmons hier auf der Stelle meine Therapeutin Dr. Pick-Hackenberg anrufen und mich wieder einweisen lassen würde, wenn ich das Fenster aufmache und anfange hier mit einem Raben Kaffeeklatsch über meine Abiturnoten zu halten. Aber Corax fände wenigstens mein Märchen lustig...
Tock, tock, tock – macht es wieder und ich versuche zu verstehen, was Simmons da gerade für einen Unsinn von sich gegeben hat. Er hat doch mit Dr. Pick geredet. Wie um alles in der Welt kommt er denn auf den schmalen Pfad, ich sei begabt? Oder stark? Oder wacker? Reicht ihm nicht das armselige Erscheinungsbild meiner demotivierten Körperhaltung, um zu verstehen, dass ich nichts als gebrochen und erbärmlich bin?
Tock, tock, tock – höre ich Corax erneut am Fenster und blicke zu ihm herüber. Zwar wüsste ich gerne, was er von mir will, dass er so beharrlich klopft, während die Zeit für mich wie in Zeitlupe vergeht – doch das muss jetzt warten. Noch immer verdaue ich die Info, dass ich die Beste gewesen sein soll. Am liebsten würde ich nachfragen, ob das hier heimlich gefilmt wird und dann im Internet landet? Oder ob er die Abiturklausuren irgendwie vertauscht hat. Oder ob es sein kann, dass das ein grausamer Streich ist. Oder ob irgendeine andere Art von Missverständnis vorliegt, die diese völlig skurrile Situation erklären könnte – doch ich traue mich nicht.
„... warum ich dir das eigentlich erzähle ist, dass morgen jemand vorbeikommt, um dich kennen zu lernen, Hope."
„Hä?", gebe ich erneut meine herausragenden Fähigkeiten als Beste des Abiturjahrgangs zum Besten.
Nicht, dass ich in einer anderen Situation intelligenter reagiert hätte, aber vermutlich liegt es an der Panik, die mich gerade kriechend von unten bis oben überkommt und sich anfühlt, als würde man den Kegel eines Waffelhörnchens ganz gemächlich mit kaltem Softeis füllen.
Der Grund? Das letzte Mal, als jemand kam, um mich kennen zu lernen, hatte ich gerade einen lebensgefährlichen Angriff meines Vaters überlebt und wurde für mehr als ein Jahr in eine Anstalt gesperrt. Ich bin also verständlicherweise nicht sonderlich erpicht auf die Bekanntschaft neuer, fremder Leute.
„Morgen kommt jemand an die Schule, der ein ganz besonderes Stipendium vergibt", erklärt Simmons weiter und bemerkt offenbar meine Anspannung gar nicht. „Es handelt sich dabei um eine Stiftung für besonders hochbegabte Schüler, die aus schwierigen Familienverhältnissen stammen und in ihrer Entwicklung unterstützt und gefördert werden. Wir hatten bis heute Morgen auch noch nichts von dieser Stiftung gehört, irgendwas mit Wellenreiter oder Weltenspringer... jedenfalls scheint sie äußerst exklusiv zu sein. Der Herr am Telefon sagte, sie wollen überprüfen, ob du dich als Stipendiatin für ihr Programm eignest. So hättest du die Möglichkeit zu studieren, ohne dass du oder deine Familien sich in Schulden stürzen müssen. Das wäre doch klasse, nicht wahr?"
Er redet weiter auf mich ein, doch ich schalte wieder ab. Klasse?
Klasse wäre, wenn ich jetzt im Erdboden versinken könnte. Oder, um mal realistisch zu bleiben, wenn ein Erdbeben die Schule zwingen würde, das Gebäude zu evakuieren, sodass ich mich wenigstens unbemerkt vom Acker machen kann. Mir fallen tausend Dinge ein, die besser wären, als das hier. Also nein, klasse ist das keinesfalls. Es ist das Gegenteil von klasse. Es ist unklasse.
Ich würde mir sogar lieber mit Saskiannika eine Pyjama Party schmeißen, bei der wir uns gegenseitig Zöpfe flechten, während wir über unsere Teenagerprobleme rumjammern, als in diesem Moment hier sitzen zu müssen und mir anzuhören, wie Herr Simmons sich meine Zukunft als Studentin ausmalt.
Super. Noch so ein Ort, an den ich nie gehören würde, bei dem ich ein Außenseiter wäre und an dem ich immer das Gefühl hätte, verloren zu sein.
Nichts würde mich weniger glücklich machen, als studieren zu gehen. Doch dem so euphorisch schnatternden Simmons, der mich gerade in den - Achtung, Sarkasmus - Genuss von Erzählungen aus seiner Zeit an der Uni kommen lässt, zu verkünden, dass mich Dinge wie eine bezahlbare Mensa, gepflegte Wohnheime, Studententickets und Disco-Rabattcoupons genauso sehr interessieren, wie die Lieblingsfarbe von Kim Jong Un, bringe ich nicht über mich.
Der Gedanke, von hier wegzukommen, ist zugegebenermaßen verlockend – aber doch nicht, um zu studieren! Und auch wenn ich nicht gerade Expertin auf dem Gebiet der Menschenkenntnis bin, so beschleicht mich doch das Gefühl, dass es auf Unverständnis treffen wird, wenn ich meinem Tutor jetzt verkünde, dass ich keinerlei Interesse daran habe, als junger Mensch kostenlos eine Universität zu besuchen, um mich weiterzubilden und mir eine Existenz mit Zukunft aufzubauen – seiner recht ausführlichen Aufzählung nach zu urteilen, die er gerade um die steuerlichen Vorteile des Studentenlebens erweitert, entnehme ich, dass es für ihn nichts wichtigeres im Leben eines jungen Menschen gibt, als das Studium.
Da frage ich mich doch, weshalb er nicht an einer Universität unterrichtet? Andererseits ist er Lehrer und muss vermutlich solche Reden schwingen, um so demotivierte Schüler wie mich dazu zu bringen, irgendwann ihr Leben in die Hand zu nehmen, um etwas aus sich zu machen. Doch bei mir ist das verschwendete Liebesmüh. Ich gehe sicher nicht auf eine Uni. Selbst dann nicht, wenn diese Weltenbummler – oder wie auch immer die sich da nennen – noch so exklusiv und kostenlos sind.
Da ich mir jedoch einen empörten Vortrag darüber ersparen will, wie wichtig es doch ist, zu studieren – obwohl ich den ja im Moment sowieso schon ins Ohr geschoben bekomme, ob ich will oder nicht – stimme ich einfach schnell diesem blöden Termin zu und setze mich auf meinen Platz.
Herr Simmons scheint zufrieden zu sein, wahrscheinlich glaubt er jetzt, mein Scheißleben durch seine kleine Liste mit Steuervorteilen nachhaltig verbessert zu haben und ruft die anderen Schüler rein. Und dem Verhalten der anderen nach zu urteilen hat der Rockzipfel von Saskiannika mit ihrem Geheimwissen nicht hinterm Berg gehalten (sie hat sicher eine blühende Zukunft als Spionin in einer geheimen Organisation vor sich).
Obwohl all die anderen ihre Noten noch nicht kennen, wissen sie offenbar über meine bestens Bescheid, denn die Comic-Schwaden der Verachtung sind deutlich über den Köpfen der gesamten Klasse zu sehen.
Wie immer sitze ich ganz alleine, ganz hinten. Daran hat sich auch mit Bestnoten nichts geändert. Was für einen Streber wie Herrn Simmons sicher völlig unverständlich ist – für ihn gab es während seiner Schulzeit bestimmt nichts Wichtigeres, als die Poren eines jedes Lehrers aus der ersten Reihe zählen zu können – kann jeder normale Mensch sicherlich gut nachvollziehen; Außenseiter, die sich schwarz anziehen und mit einer gruseligen Kapuze ihr Gesicht verdecken, außerdem wortwörtlich im Selbstmitleid ertrinken und noch dazu mit niemandem reden, sind sowieso schon nicht gerade beliebt. Doch wenn es jetzt auch noch die jahrgangsbeste, gruselige, schwarzgekleidete, vermeintlich auf geheimnisvoll machende Emo-Trulla ist, die sich ganz vorne hinsetzt und einen auf hingebungsvolle Streberin macht, trägt das nicht zwingend zu einem Anstieg auf der Beliebtheitsskala bei. Und zum Klassenklima würde es auch keinen positiven Beitrag leisten. Ich sitze ganz hinten, ganz alleine und halte mich bedeckt wie immer – und trotzdem sind alle sogar noch mieser drauf als sonst. Mir werden noch mehr missbilligende Blicke zugeworfen und noch mehr Gegenstände finden während ihrer ersten Flugstunden den Weg gegen meinen Kopf. Zudem klingt so gut wie jede Aussage, Antwort oder Meldung eines Mitschülers wie ein Vorwurf in meine Richtung.
Recht haben sie, was fällt mir auch ein, gute Noten im Abitur zu schreiben? Schließlich habe ich als Außenseiterin kein Recht dazu, in irgendetwas gut zu sein. In meiner Klasse werden bestimmt alle mal Bürokraten.
Der Tag ist also, wie schon bereits erwähnt, genauso beschissen wie jeder andere davor. Nur, dass es heute sogar noch schlimmer ist. Wer hätte gedacht, dass es da noch eine Steigerung gibt? Die Emo-Trulla, deren einziger Freund ein sprechender Kolkrabe ist, jedenfalls nicht.
Die anderen Schüler tuscheln hinter vorgehaltenen Händen, alle schütteln die Köpfe, wenn ich in den Fluren zwischen den Stunden an ihnen vorbei gehe, manche rempeln mich sogar auf dem Gang an – wieder andere beleidigen mich auch ganz offen.
Auf welcher Website ich die richtigen Antworten zu den Aufgaben gekauft habe, werde ich gefragt. Ob wir gerebt haben und ich so alle schmieren konnte. Oder ob ich nur einen oder gleich alle Lehrer auf unzüchtige Weise beglückt habe, um so gute Noten zu bekommen.
Die Tatsache zu erwähnen, dass wir wesentlich mehr Frauen als Männer als Lehrer haben und die Wahrscheinlichkeit, dass sie alle bestechich, geschweige denn lesbisch sind, doch vergleichsweise gering ist, schenke ich mir. Denn aufgrund der tendenziell eher niedrigen Empfänglichkeit für Wahrscheinlichkeitsrechnung bei allen Schülern in den Nachabiturwochen, würde mich das auch nicht retten. Im Gegenteil; es würde alles noch schlimmer machen. Es gibt neben den Schülern, die sich die Arbeit machen, zusammenhängende Sätze zu bilden, aber auch diejenigen, die das Mobbing pragmatischer angehen; sie rufen mir die Beleidigungen schlicht und ergreifend in einzelnen Worten hinterher, wie in den guten alten Zeiten. Da sind sogar Ausdrücke dabei, die ich noch gar nicht kannte. Schimmelfresse, beispielsweise. Oder Emo-Lumpen-Schlampe und – ich weiß nicht, wie der Junge darauf kam, aber die Beleidigung löst bei mir durchaus Sorgen um unsere Generation aus – Fotzenhitler. Was auch immer das bedeuten mag. Die Frage liegt nahe, ob er entweder nicht weiß, wer Hitler war oder ob er hat keine Ahnung was eine Fotze ist, denn für mich sind das zwei Sorten von Beleidigungen, die sich eigentlich nicht miteinander kombinieren lassen. Aber in Zeiten wo Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist, muss man sich wohl daran gewöhnen, dass es nicht immer für alles eine logische Erklärung gibt. Wenn es darum geht, die Schulaußenseiterin zu mobben, scheinen der Kreativität jedenfalls keine Grenzen gesetzt zu sein.
Ich würde gerne behaupten, dass das alles spurlos an mir vorbeigeht. Doch depressiv zu sein, heißt nicht taub, blind und tot zu sein. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt.
Nach der Schule bin ich einfach nur froh – wenn man das bei mir so nennen kann –, dass ich das Gelände endlich verlassen kann. Die Sticheleien, die ich üblicherweise abbekomme, prallen meistens an mir ab. Dafür habe ich einfach schon zu viel erlebt. Sowohl von dieser Sorte Sticheleien, als auch in Form von anderen negativen Erfahrungen – ich bin schlicht und ergreifend abgestumpft. Doch der heutige Tag war selbst für mich schwer zu ertragen. Dass die Lehrer in den unterschiedlichen Unterrichtsstunden und auf dem Schulhof auch noch versucht haben, mich zu verteidigen und vor den Hänseleien zu beschützen, hat es nicht gerade besser gemacht. Das hat die anderen nur dazu provoziert, mir in der Pause den Inhalt eines Mülleimers in den Rucksack zu kippen. Warum checken Erwachsene eigentlich nie, dass sie alles immer nur schlimmer machen, wenn sie sich einmischen? Sie wollen helfen, das ist ja nett – aber sie bezwecken das exakte Gegenteil damit. Jemand, der von einem Lehrer verteidigt werden muss, wird automatisch noch mehr zum Außenseiter. Und auf die Idee, dass ich mich mit voller Absicht nicht gegen die anderen wehre, kommen die gar nicht.
Wie immer nehme ich den Hinterausgang der Schule, denn da gehen nur wenige Schüler entlang, weil es die entgegengesetzte Richtung des Bahnhofes und Parkplatzes ist.
Gerade will ich durch den Busch klettern, durch den ich den Weg nach Hause zu Fuß abkürzen kann – mit dem Bus würde es schneller gehen, aber ich wollte nicht, dass Mama so viel Geld für ein Ticket bezahlen muss, wenn ich genauso gut laufen kann –, da nehme ich ein vertrautes Geräusch wahr. Kurz bleibe ich stehen, als ich sehe, wie ein Rabe vor mir landet und fast muss ich lächeln.
Es ist nicht Corax, aber ich mag Raben einfach. Vielleicht, weil mein einziger Freund einer ist. Vielleicht aber auch, weil sie genauso schwarz in ihr Federkleid gehüllt sind, wie ich in meine Klamotten und ich mich ihnen dadurch wenigstens ein bisschen verbunden fühle. Wie es wohl sein mag, mit diesen geschmeidigen Federn durch die Lüfte zu schweben und sich fallen zu lassen? Fast bin ich mir sicher, dass ich nicht unter Depressionen leiden würde, wenn ich tagein tagaus durch die Lüfte gleiten und die Welt von oben betrachten könnte. Weit entfernt von dem Leid, das das Leben als Mensch unter Menschen für einen bereithält.
„Es muss schön sein, so viel Abstand von all dem bedeutungslosen Mist hier unten nehmen zu können", flüstere ich dem Vogelweibchen zu und streiche sanft über ihr schimmerndes und wunderschönes Federkleid. „Über den Dingen zu schweben und die Farblosigkeit der Menschen hinter sich zu lassen."
„Interessante Ansicht", erschreckt mich eine tiefe Stimme hinter mir fast zu Tode. Ich zucke zusammen und verjage so leider die hübsche kleine Dohle. „Betrachtest du diese Welt hier immer so finster?"
Mich langsam zu der Stimme umdrehend, runzle ich unter meiner Kapuze die Stirn, während ich den Stoff tiefer in mein Gesicht ziehe. Ein paar Meter von mir entfernt steht ein Kerl in einer dicken Motorradkluft. Und er starrt mich an.
Sofort wende ich mich ab und will einfach gehen – da ich mir absolut nicht sicher bin, ob er wirklich mit mir geredet hat und ich keine Lust auf noch mehr Erniedrigungen am heutigen Tag habe. Selbst geübte Mobbingopfer mit Depressionen, die Schmerzen und Folter gewohnt sind, haben ihre Grenzen. Und was faselte er da überhaupt? Diese Welt hier? Er sagt das so, als gäbe es eine Alternative. Als hätte man die Wahl zwischen diesem Alptraum und einem anderen.
„Warte", ruft er und ich laufe nur schneller. Nur mal angenommen, der Typ sollte tatsächlich mich meinen, wenn er ruft, ich solle warten, dann bekräftigt mich das nur umso mehr in meiner Reaktion – nämlich keineswegs zu warten, sondern davonzulaufen. Und zwar so schnell ich kann. Doch dann fragt er etwas, dass meine Beine zum Anhalten zwingt.
„Redest du oft mit Raben?"
Wie angewurzelt bleibe ich stehen und drehe mich mit weit aufgerissenen Augen um. Er sieht das zwar nicht, da ich den Kopf immer so geneigt halte, dass mein Gesicht und meine Reaktionen im Verborgenen bleiben, so kann ich mir eine Gegenfrage aber dennoch nicht verkneifen.
„Was?", frage ich vollkommen überrumpelt und dieses Mal es ist mir schnurzpiepegal, ob ich dabei so dumm klinge, wie ich mich fühle – das einzige, was mich interessiert ist, wie er das wissen kann! Wer stellt denn so eine Frage? Ich habe ja nicht gerade viel Erfahrung im Umgang mit normalen Menschen, aber ich bin mir absolut sicher: Kein normaler Mensch fragt einen anderen so etwas!
„Ob du oft mit Vögeln redest, wollte ich wissen", wiederholt er und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn durch den Motorradhelm richtig verstanden habe. Für einen Augenblick nehme ich alles um mich herum überdeutlich wahr – die zwei roten Streifen, die rechts und links an seinem Helm hinab laufen und so dunkel sind, dass sie bei dem Schwarzton des Helmes fast untergehen und die auch in das Leder seiner Kluft eingenäht sind... die wenigen hellen Haarspitzen, die in seinem Nacken unter dem Helm hervorragen... den Geruch nach Sandelholz, nach abgeriebenem Gummi, nach Pfefferminz und Leder... das Knarzen seiner Handschuhe, als seine Hand sich zu einer Faust ballt, ich bilde mir sogar ein, seinen Atem zu hören, wie er gegen die Scheibe seines Visiers stößt und dort beschlägt... was natürlich völlig wahnsinnig ist!
„Raben", korrigiere ich und hebe leicht den Kopf. „Du sagtest nicht Vögel. Sondern Raben."
„Sagte ich das?", will er wissen und klingt... amüsiert.
Mist, verdammter. Ich muss hier weg. Sofort.
Also ergreife ich umgehend die Flucht. Ich biege unnötig oft ab, nehme Umwege, versuche mal schneller, mal langsamer zu gehen und drehe mich eigentlich permanent um, um mich zu vergewissern, dass er mich nicht verfolgt.
Woher zum Teufel weiß er das?
Hat er am Morgen gesehen, wie ich mit Corax geschimpft habe? Doch wenn er an diesem Morgen da gewesen sein sollte, habe ich ihn nicht bemerkt. Und ich bin mir absolut sicher, dass ich einen solchen Typen auf jeden Fall bemerkt hätte – denn wie er da so mit seiner absolut untrügerischen Ausstrahlung alles um sich herum für sich eingenommen hat, war er einfach nicht zu übersehen. Andererseits bin ich auch immer ziemlich in Gedanken versunken und höre nur selten zu, wenn ich zur Schule gehe – geschweige denn, dass ich allzu genau auf meine Umgebung achte... vielleicht sollte ich mal damit anfangen, bevor ich hier noch vollends den Verstand verliere.
Ganz ruhig, Hope, beruhige ich mich selber und sehe mich aber dennoch um, als wäre ich paranoid. Soweit ich das beurteilen kann, ist mir niemand gefolgt, doch ich bin auch keine Polizistin oder Geheimagentin. Sprich, ich hab keine Ahnung, wie es aussieht, wenn man tatsächlich verfolgt wird. Hinter mir ist jedenfalls niemand zu sehen. Doch das beruhigt mich nicht. Nicht die Bohne.
Auf dem Weg in die Praxis von Dr. Pick-Hackenberg sehe ich mich noch hunderte Mal um, doch ich kann weit und breit niemanden entdecken, der mir folgen würde. Auch ein Motorrad höre ich nicht.
Was war das nur für ein Kerl? War er überhaupt echt? Hat er mich das wirklich gefragt?
Ich weiß gar nicht, war mir lieber ist: Dass ich jetzt endgültig durchdrehe und beginne, ganze Dialoge mit nichts existenten Personen zu halluzinieren oder dass mir wirklich gerade ein völlig Fremder die Frage gestellt hat, ob ich häufiger mit Raben rede.
Bei der Praxis von Dr. Pick angekommen atme ich tief durch. Ich muss mich zusammenreißen – die Frau kann mich leider viel zu gut lesen. Andererseits sind Depressionen auch ihr Spezialgebiet und ich schätze mal, da gibt es nicht allzu große Schwankungen bei den Launen ihrer Patienten. Schließlich leiden wir alle unter so ziemlich dergleichen Krankheit mit ähnlichen Symptomen. Und sie ist nicht nur da, um diese zu erkennen, sondern auch um sie zu behandeln. Da sollte sie in der Lage sein, zu erkennen wen und was sie vor sich hat, wenn ich es recht bedenke. Und nach dem heutigen Tag, darf ich wie ich finde, mies drauf sein. Schließlich ist sie nicht ganz unschuldig an meiner Situation. Also muss ich vielleicht gar nicht so tun, als wäre alles in Ordnung – denn es ist nichts in Ordnung. Überhaupt nichts!
Ich trete also meinen Unmut nicht verbergend in die Praxis ein und die Empfangsdame lächelt mich schon so breit wie eh und je an. Sie sieht wie immer aus, als hätte sie ein Baguette quer im Mund stecken. Nicht falsch verstehen, ich mag Greta durchaus – aber ihr Lächeln ist nun mal so breit wie ein Baguette. Wie kann ein Mensch nur immer so gut drauf sein? Sie ist gefühlt das absolute Gegenteil von mir. Nicht nur aufgrund ihrer stets guten Laune, sondern auch äußerlich.
„Hallo Hope", piepst sie und es ist mir wie immer ein Rätsel, wie sie mit einem Lächeln so breit, dass es selbst ihre Backenzähne entblößt, überhaupt sprechen kann. Ihre blonden Locken hüpfen so vergnügt, wie sie es ist und ihre kleine, rundliche Figur dreht sich immer schwungvoll mit ihrem Hocker mit, auf dem sie sitzt.
„Hi Greta", entgegne ich leise. „Alles klar?", erkundige ich mich, obwohl ich die Antwort kenne. Es ist fast so etwas wie ein Running Gag zwischen uns.
„Alles in Puderzuckerbutter, wie immer", sagt sie freudestrahlend und leckt sich über die pink angemalten vollen Lippen, und zwinkert mir mit ihrem Auge zu, dass in perfekt aufgetragenen, noch pinkeren Lidschatten und tiefschwarzen Mascara gehüllt ist, der ihre Wimpern in absoluter Vollkommenheit vereinzelt und das Blau ihrer Augen betont.
Oha, Puderzuckerbutter. Das will schon was heißen. Je süßer, desto besser geht es ihr. Das heißt, für gewöhnlich ist alles in Honigkuchenbutter oder auch mal in Marzipanlebkuchenbutter. Aber Puderzuckerbutter – wenn ich keine eigenen Probleme hätte, würde ich wohl mal nachfragen, wer genau ihr den Puderzucker gebuttert hat, aber da spricht sie schon weiter. „Die Frau Doktor hat sofort Zeit für dich, geh' gleich durch", verkündet sie entzückt und ich nicke ihr nur dankend zu. Ich hab' jetzt ein anderes Hühnchen zu rupfen und keine Zeit, mich um Gretas Gründe für Puderzucker und Butter zu kümmern.
„Hope", begrüßt mich Dr. Rita Pick-Hackenberg mit einem freundlichen, aber verhaltenen Lächeln, das wohl ihre Professionalität zum Ausdruck bringen soll und nickt mir mit einer ebenso fachkundigen Geste zu. Die kann was erleben, denke ich aufgebracht. „Wie ich sehe, bist du bester Laune", zieht sie mich auf. Ihre Antwort auf meine schlechte Laune ist häufig Sarkasmus. Keine Ahnung, ob ich das von ihr habe oder sie das von mir hat. Es gibt jedenfalls nicht viele Leute, die Sarkasmus so fließend sprechen wie wir zwei es tun.
„Schenken Sie sich das", gifte ich sie nur an und lasse mich missmutig in den Sessel ihr gegenüber sinken, wo ihre aufmerksamen braunen Augen mich durchleuchten. Ein winziges Lächeln umspielt ihre Lippen und manchmal glaube ich, ich erinnere sie an ihre Tochter.
Der Unterschied zwischen mir und ihrer Tochter? Sie hat im Gegensatz zu mir Selbstmord begangen. Die Gemeinsamkeit? Sie hat es aufgrund von Depressionen getan.
Warum diese Frau sich das antut, Menschen zu behandeln, die an der gleichen Erkrankung leiden, wie die, wegen der ihr eigenes Kind sich das Leben genommen hat, werde ich nie verstehen. Aber ich bin ihr dankbar dafür, dass sie es tut. Auch wenn ich es ihr gegenüber nie zugeben würde, weil sie mich ja doch nur damit aufziehen würde, so hilft sie mir doch ungemein dabei, mit den Gefühlen, die mich manchmal aus dem Nichts überrollen, umzugehen. Sie verscheucht sie nicht, aber zumindest kann ich sie so unter Kontrolle bringen. Wenigstens ab und zu. Das, was ich dieser Frau schuldig bin, werde ich ihr niemals im Leben zurückzahlen können – und doch dämpft das meine Wut nicht im Geringsten. Denn heute ist sie mitverantwortlich für meine Gefühle.
Ich kann mir nicht helfen, aber ich fühle mich von ihr verraten. Sie hätte erst mit mir über solche Sachen wie meine Zukunft sprechen sollen und nicht mit meinen Lehrern – schließlich bin ich ihre Patientin. Ich bin hier, damit sie mir hilft, nicht damit sie mich in die Scheiße reitet.
Klar, ich bin ihr mein Leben schuldig, weil sie mich aus dieser Hölle, in der ich vor vier Jahren eingesperrt war, befreit hat und mich seitdem nicht nur kostenlos behandelt, sondern sich auch wirklich gut um mich kümmert, aber deshalb darf sie mir noch lange nicht in den Rücken fallen.
„Herr Simon hat also mit dir gesprochen."
„Simmons", korrigiere ich sie und wieder zuckt das Grübchen über ihrer Oberlippe, das immer entsteht, wenn sie versucht, nicht zu lachen. „Und ja." Wir wissen beide, dass sie den Namen nur falsch gesagt hat, um mich zu ärgern, aber darauf will ich jetzt nicht näher eingehen. Sie versucht mir damit deutlich zu machen, dass mir nicht alles egal ist, indem sie absichtlich Fehler in ihre Sprache einbaut und mich so mit meinem Korrekturzwang aus der Deckung lockt. Aber heute habe ich andere Probleme als ihre kleinen manipulativen Tricks.
„Wie geht es dir damit?", will sie wissen und ich verdrehe die Augen.
„Hören Sie bitte mit diesem schwachsinnigen Freud-Gequatsche auf", flehe ich. „Sie wissen genau, wie sehr ich das hasse."
„Halte dich an meine Regeln, dann halte ich mich an deine."
Seufzend lasse ich den Kopf gegen die Lehne des Sessels fallen. Ich will nicht mit Freud reden – sie will nicht mit dem Ghost Face Killer aus Scream reden. Das sind die Regeln zwischen uns. Also ziehe ich, wenn auch widerwillig, die Kapuze ab. Außer meiner Familie ist Dr. Pick-Hackenberg die einzige, der ich mein Gesicht ohne die Kapuze zeige. Sie redet ansonsten entweder gar nicht mit mir oder treibt mich absichtlich so lange auf die Palme, bis ich dann doch nachgebe. Also ist es einfacher, ohne ein großes Theater zu veranstalten, die Segel zu streichen und gleich einzulenken. Die Frau weiß nämlich welche Punkte sie bei mir Drücken muss und sitzt daher am längeren Hebel. Traurig, aber wahr.
„Sehr schön", bemerkt sie und ich verdrehe die Augen erneut. Mein Anblick ist unter Garantie alles andere als sehr schön, aber sei's drum! „Es ist schön, dich zu sehen, Hope."
Da ist es schon wieder, dieses blöde Wort. Kein Wort auf der Welt täuscht einem mehr Lügen vor, als das Wort schön. Etwas, das als schön bezeichnet wird, so wie Dr. Pick-Hackenberg dieses Gespräch oder die Tatsache, dass ich ihr mein Gesicht zeige, ist immer gelogen – denn es ist reine Ansichtssache. Für sie mag es schön sein, dass sie mir ins Gesicht gucken kann, für mich hingegen ist es Folter. Schönes Wetter für den einen, bedeutet Dürrezeiten für den anderen. Ein äußerlich schöner Mensch kann innerlich so verdorben sein, wie ein schöner roter Apfel, der hinter den knackigen Wänden von einem Wurm zerfressen worden ist und kurz davor ist, in sich zusammenzufallen. Schön ist das irrenführendste Wort, das es gibt. Denn es spiegelt niemals etwas so wider, wie es wirklich ist, sondern nur wie es einem erscheint. Und nichts ist weniger aussagekräftig, als ein äußerer Schein.
„Ich kann mir vorstellen, dass der Tag nicht einfach für dich war", meint sie und bekommt von meinem Inneren Konflikt mit ihrer Wortwahl nichts mit. Meine Abneigung dem Wort schön gegenüber ist eines der wenigen Dinge über die wir noch nicht gesprochen haben.
„Sie haben ja keine Ahnung", murre ich und wünsche mir den Schutz meiner Kapuze zurück. Nichts verunsichert mich mehr, als wenn Leute mein Gesicht sehen können. Nicht einmal ich selbst weiß genau, was ich in welcher Situation empfinden soll. Dass andere Leute, die auch noch in der Lage sind, Gesichtsausdrücke zu deuten, womöglich mehr über mich erfahren könnten als ich selbst über mich, gibt ihnen eine Macht, die ich ihnen nicht einräumen möchte. Doch das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich mein Gesicht nicht zeigen will. Unwillkürlich drehe ich ihr die linke Seite meines Gesichtes zu, wo das lange, dunkle Pony mein halbes Gesicht verbirgt und zum Glück immer so fällt, dass es die rechte Seite vor ihren Blicken versteckt.
„Dreh dich nicht weg", meint sie in einfühlsamen Ton, aber der bringt gar nichts. Ich kann nicht anders. Sie weiß, dass dieses Abwenden von ihr bedeutet, dass sie mein Vertrauen gebrochen hat und ich vor Unsicherheit am liebsten losheulen würde. „Es tut mir leid, dass ich das hinter deinem Rücken gemacht habe. Ich kann mir vorstellen, wie du dich jetzt fühlst. Aber Herr Simmons und ich waren uns einig, dass es für dich das Beste ist, dir erst einmal anzuhören, was diese Weltenreiter Stiftung ist, was sie tun und was das für Möglichkeiten für dich bereithalten könnte. Du willst weg – sie bieten dir vielleicht die Möglichkeit dazu. Solltest du es nicht wenigstens versuchen?"
„Ich will ja auch weg", stimme ich mit meinen Worten zu und lehne mit meinem Ton doch gleichzeitig ab. „Aber ich will doch nicht an eine Uni!"
„Wieso nicht?", hakt sie nach und verändert ihre Sitzposition. Das macht sie oft, wenn sie etwas, das ich sage, nicht versteht. Zum Beispiel, als ich ihr zu erklären versuchte, dass ich nicht das Gefühl habe, Teil meiner eigenen Familie zu sein. Oder dass die Welt oft an mir vorbeizieht, wie ein Theaterstück – aber ich bin nicht fähig zuzusehen, zuzuhören oder etwas dabei zu empfinden. Keine Begeisterung, keine Trauer, keine Anteilnahme oder Kritik – nichts, da ist einfach rein gar nichts auf der Welt, dass mich da bewegt, wo es wichtig ist: nämlich tief in meinem Inneren.
„Was soll ich denn da? Das ist doch wieder nur ein neuer Ort, an dem ich die Ausgestoßene bin. An den ich nicht hingehöre, nicht teilnehme und im schlimmsten Fall ja auch nur dafür gequält werde, dass ich anderes bin."
„Du denkst, du gehörst nicht hierhin?"
„Sehen Sie mich doch an", entgegne ich und werde sauer. „Hat Simmons Ihnen nicht erzählt, wie ich in der Schule behandelt werde? Dass mich alle hassen? Und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Es ist so offensichtlich, dass ich nicht dazugehöre!"
„Herr Simmons", korrigiert dieses Mal sie mich. „Hat mir nur erzählt, wie du dich in der Schule verhältst. Und wenn ich dich ansehe, sehe ich ein wunderschöne aber verletzte, junge Frau, die viel mitgemacht hat und sich aufgrund ihrer schmerzlichen Erfahrungen deshalb selbst von anderen distan–..."
„Ja wunderschön", spotte ich und setze meine Kapuze wieder auf. „Hören Sie, Doc – ersparen Sie mir diese Farce. Mein Verhalten hat weder mit meinen Verletzungen noch mit meinem Aussehen oder den Geschehnissen in meiner Familie und der Anstalt zu tun. Andere Menschen hassen mich! Ich stoße sie ab. Das ist schon immer so gewesen! Seit meiner Geburt ist das schon so. Sie spüren es – ich spüre es. Manche Dinge kann man nicht ändern – so sieht es einfach aus. Ende der Geschichte."
„Wieso denkst du, andere hassen dich?"
„Keine Ahnung. Menschenkenntnis?", lüge ich. Das mit der inneren Stimme kann ihr nicht erzählen. Sie schickt mich zurück in diese Hölle von Anstalt. „Wenn man 'ne Viertelstunde seiner Pause damit verbringt, Müll aus seinem Rucksack zu kratzen, liegt die Vermutung irgendwie nahe, dass der Müll weder alleine noch aus Zuneigung den Weg da rein gefunden hat", höhne ich.
„Dann trifft es auf deine Mitschüler zu. Aber nicht auf alle anderen Menschen."
„Wissen Sie, nicht alle Menschen reagieren gleich. Erwachsene brauchen zumeist länger, bis sie ihre Empfindungen mir gegenüber zulassen, weil sie irgendwann in ihrem Leben mal gelernt haben, jemanden nicht sofort zu verurteilen, auch wenn sie gleich eine Abneigung verspüren. Aber tief in ihrem Inneren hassen auch sie mich von der ersten Sekunde an, in der sie mir begegnen. Und irgendwann geben auch sie ihren Instinkten nach und lassen es mich spüren. Junge Menschen versuchen nicht einmal ihn zu verbergen, diesen Hass. Sie sehen mich, sie empfinden Abneigung und reagieren mit Hass. Manchmal dauert es länger, manchmal nicht – aber alle Menschen reagieren früher oder später auf ihren Hass. So ist das."
„Ich hasse dich nicht, Hope", wendet sie ein und ihre Augen bekommen einen traurigen Ausdruck.
„Nein, aber ist es nicht offensichtlich, warum nicht?", will ich zynisch wissen und bevor sie etwas sagen kann, feure ich auch schon eine Salve Beleidigungen auf sie ab. „Sie stehen ja so offenkundig auf die Gegenwart verzweifelter, ausgestoßener, niedergeschlagener Menschen seit sie selber einer sind, dass ich das selbst ohne Doktortitel als klassische Überkompensation diagnostizieren kann. Seit Ihre Tochter sich umgebracht hat, suchen Sie die Nähe zu ebenso depressiven Menschen. Zum Teil, weil Sie selbst einer sind, zum anderen Teil, weil Sie nach Antworten suchen. Warum bringt sich ein Mensch um, wo es doch andere Menschen im Leben gibt, die einem vielleicht hätten helfen können? So wie Sie zum Beispiel Ihrer Tochter hätten helfen können, so als ausgebildete Psychologin. Wissen Sie was? Wenn ich an der Stelle Ihrer Tochter gewesen wäre, hätte es mich genauso zur Verzweiflung gebracht, dass Sie sich ständig in mein Leben einmischen und versuchen zu helfen, obwohl Sie niemand darum gebeten hat und zu allem Überfluss alles auch nur noch schlimmer machen!", brülle ich jetzt und erhebe mich aus dem Sessel.
Erst will ich rausstürmen, doch ich bleibe einfach nur stehen. Dann will ich zum Fenster gehen, doch auch das tue ich nicht. Wie versteinert stehe ich dort, balle die Hände zu Fäusten und versuche, die innere Leere in mir mit irgendetwas anderem zu füllen, als Schuld. Doch da ist nichts. Keine Wut, keine Trauer, keine Empörung über mich selbst. Und jetzt, wo ich diese schrecklichen Dinge zu Dr. Pick-Hackenberger gesagt habe, erst recht nicht. Ich weiß, dass es falsch war, ihr das alles an den Kopf zu werfen, so viel gesunden Menschenverstand besitze selbst ich noch. Aber da ist nichts. Alles ist leer. Da ist nur dieses Gefühl, nie gut genug zu sein, nie etwas richtig zu machen, nie wiedergutmachen zu können... nie etwas anderes zu sein, als eine Last. Als ungewünschter Ballast. Als ein völlig unbedeutendes Wesen, dass nie zu etwas zu gebrauchen sein wird. Dass nie eine Spur hinterlassen wird, außer die des Leids, dass es angerichtet hat, alleine, indem es existiert.
„Es tut mir leid", höre ich, wie meine Stimme völlig tonlos erklingt.
„Ist schon gut, Hope", erklärt Dr. Pick. „Ich weiß, du meinst es nicht so."
Doch da hat sie Unrecht. Ich meinte es genauso, wie ich es gesagt habe. Ich wollte es nicht sagen, aber dennoch meine ich es so. Ich kann ihre Tochter verstehen. Nicht wegen ihr, das war übertrieben, aber ich verstehe, warum man sich als Tochter einer renommierten Therapeutin erst Recht hilflos gefühlt hat. Wenn nicht einmal diese einem helfen kann, sich so zu fühlen, wie ich mich gerade fühle. Wenn nicht einmal die eigene Mutter einem eine Daseinsberechtigung geben kann... einen Grund zum Leben... warum damit weitermachen? Warum ertragen müssen, was nicht zu ertragen ist? Warum weiterhin so tun, als könne man mit etwas leben, mit dem man nicht leben kann?
„Vielleicht ist es genug für heute", wende ich ein.
„Eigentlich wollte ich mit dir noch über das Gespräch morgen reden", wendet Dr. Pick-Hackenberg daraufhin ein, doch als ich einen Blick auf ihr Gesicht werfe, wird mir klar, dass ich sie tiefer getroffen habe, als sie zugeben will. „Aber vielleicht hast du Recht und es reicht erst einmal."
Ohne ein Wort zu sagen, wende ich mich zum Gehen Richtung Tür. Doch sie ruft mich noch einmal zurück.
„Hope", sagt sie und ich schließe vor Schmerz die Augen. Jedes Mal ist es wie ein verdammtes Glüheisen, das in meine Magengegend gerammt wird, wenn jemand meinen Namen sagt. Das Paradoxon dieser Hoffnungslosigkeit in mir und diesem Rufnamen, dieser völlig absurden Benennung meiner Person – ich mag ja nicht viel fühlen, aber dieser Schmerz vergeht wirklich nie. „Ich weiß, dein Vertrauen in die Menschheit ist zutiefst geschwächt, wegen all dieser Grausamkeiten, die dir widerfahren sind – aber tu' mir den Gefallen und hör dir morgen wenigstens an, was die Leute dieser Stiftung zu sagen haben. Bitte. Vielleicht ist es ja doch eine Möglichkeit, endlich deinen eigenen Weg zu finden. Auszubrechen, aus gewohnten Mustern und Neue zu erlernen. Vielleicht rettet es dir eines Tages das Leben. Man weiß ja nie", sagt sie noch und schenkt mir etwas, das wohl wie ein Lächeln aussehen soll, dass in ihren Gesichtsmuskeln aber noch nicht angekommen ist. Und wenn ich mich nicht täusche, bilden sich Tränen in ihren Augen. Ob das wohl die Worte waren, die sie ihrer eigenen Tochter nicht mehr sagen konnte?
Weg hier, denke ich panisch und verlasse so schnell ich kann diese Praxis.
Toll gemacht, lobe ich mich selbst höchst sarkastisch. Genau. Man weiß ja nie. Vielleicht ist das ja die Uni für die größten Vollversager der Welt und sie bieten als Wahlfächer „Nutzlosigkeit auf Arschlochniveau", „Fabulöses Fehlverhalten" und „Taktlosigkeit für Fortgeschrittene" an. Dann dürfte einem Durchbruch ja nichts mehr im Wege stehen...
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„Du denkst wirklich, sie ist es?"
„Auf jeden Fall ist sie das!"
„Na, ich weiß ja nicht!"
„Sieh' sie dir an! Wenn sie es nicht ist, fress' ich mein Schwert! Selbst die ganzen Blumen lassen ihren Kopf hängen, wenn sie an ihnen vorbeigeht. Hast du schon einmal jemanden mit einer solchen Ausstrahlung gesehen? Das muss sie einfach sein!"
„Keine voreiligen Schlüsse, wenn ich bitten darf", wende ich ein. Die beiden sind sich nämlich grundsätzlich in nur einer einzigen Sache sicher: dass sie sich nicht einig sind.
„Selbst du musst zugeben, dass ihre Ausstrahlung echt die Pest ist, Night!", entgegnet Vi, doch ich bedeute ihr, leise zu sein. Aber diese beiden Idioten halten einfach nie den Mund – ich frage mich, wozu ich überhaupt der Anführer bin, wenn sie so sowieso nie das machen, was man ihnen sagt. Im Kampf mag auf die beiden ja Verlass sein, aber sonst...
„Die Pest? Also ich weiß ja nicht", wiederholt sich Lance und Vi verdreht die Augen.
„Weißt du eigentlich überhaupt jemals irgendetwas? Außer, dass du ewigen Hunger hast und dumm wie ein Stück frittierte Walflosse bist?"
„Ewiger Hunger? Das sagt ja genau die richtige! Wer ist denn hier die verfressene, die immer nur von Essen rede–..."
„Ruhe ihr beiden!", unterbreche ich Lance und rege mich so auf, dass ich wohl ein wenig zu laut bin.
Hope Reuther, ihres Zeichens halb deutsch, halb Amerikanerin, junge 17 Jahre alt und kurz davor ihren Schulabschluss zu machen, dreht ihren Kopf und sieht sich hektisch um.
Mist, sie hat mich wohl gehört. Schon auf dem Weg zu dieser Praxis hat sie sich ständig so panisch umgesehen – doch zu meiner Überraschung hat sie uns nicht entdeckt. Noch nicht. Wenn diese beiden Vollidioten, die sich neben mir jetzt zu schlagen angefangen, allerdings nicht endlich aufhören, sich wie unreife Kinder zu benehmen, wird das nicht mehr lange der Fall sein.
„Hört! Auf!", befehle ich leise und sofort halten sie inne. Einen Augenblick ist es ruhig und endlich geht Hope Reuther weiter. Wenn auch eiliger als zuvor. „Nach so langer Zeit finden wir endlich eine, die in Frage kommt und ihr beide versaut beinahe alles!", rege ich mich auf und haue ihnen auf den Kopf. Dann packe ich sie am Kragen und setze sie auseinander, einen rechts, eine links von mir. „Als wäret ihr Kinder und nicht hundert Jahre alt", murre ich noch missmutig und werfe beiden einen scharfen Blick zu. „Wollt ihr sie etwa absichtlich verjagen?"
„Erstens: Ich bin erst achtundachtzig", verdreht Lance die Augen. „Und Zweitens: Wir wissen doch noch nicht mal ob sie es wirklich ist", sagt er und pult sich mit der spitzen Seite seiner Waage unter den Fingernägeln herum, während Vi ein paar Funken der Wut aus ihren Augen auf ihn abschießt.
„Hör auf damit oder willst du meinen Mantel wieder in Brand stecken, du hitzköpfige verfressene Seekuh?"
„Wie hast du mich gerade genannt?", fragt Vi durch zusammengebissene Zähne und noch mehr Funken sprühen aus ihren Augen.
„Lass dich doch nicht immer so leicht provozieren", rede ich ruhig auf Vi ein, in der Hoffnung, dass sie als die Vernünftige, nicht auf Lance' Versuche sie zur Weißglut zu trieben eingeht.
Ich glaube, insgeheim mag er sie, deshalb ärgert er sie immer – wie sagt man auf der Erde so schön? Was sich liebt, dass neckt sich. Doch den Teufel würde ich tun, einem der beiden gegenüber meinen Verdacht zu äußern. Genau genommen ist es auch nicht mein Problem.
Mein Problem besteht darin, den letzten Reiter zu finden. Und in Anbetracht dessen, dass man nicht weiß, ob der fehlende Reiter männlich, weiblich, jung, alt, reich, arm, groß, klein, schmal, breit, dumm, klug, gesund, krank – und in diesem bestimmten Fall sogar tot oder lebendig ist – hatten wir dementsprechend überhaupt keine Ahnung, wie wir ihn finden sollen. Wir wussten nicht in welchem Land, welchem Staat, welcher Stadt, welchem Ort, welcher Straße, welchem Gebäude, welchem Haus, welcher Wohnung, welchem Zimmer wir den Reiter finden würden. Der einzige Hinweis, den wir erhalten hatten war, dass der Vierte Reiter auf der Erde geboren wurde.
Was ehrlich gesagt keine übermäßig große Hilfe war. Die Erde mag ja eine junge, chaotische Welt sein, aber für eine junge und chaotische Welt, ist sie groß. Mit unbeschreiblich vielen Menschen. Dass wir jetzt nach all der Zeit endlich eine Person gefunden haben, die tatsächlich in Frage kommt, grenzt an ein Wunder.
Und diese beiden verhalten sich wie das aller letzte Pack. Undiszipliniert und despektierlich. Als wären wir hier im Urwald von Pamona, ohne Regeln und Zivilisation, wo jeder machen kann, was er will. Aber das sind wir nicht. Ich bin der Erste Reiter und meine Aufgabe ist es, für Ordnung zu sorgen und die Mission erfolgreich abzuschließen.
„Reißt euch mal ein bisschen zusammen! Ihr kennt die Liste mit den Anzeichen noch? Beobachtet sie und sagt mir, ob ihr etwas entdeckt, dass sie als Reiterin auszeichnet."
„Jawohl, Boss", gibt Lance hochgradig provokativ zurück und ich atme tief durch. Er weiß, dass ich es verabscheue, so genannt zu werden. Ich habe es mir schließlich auch nicht ausgesucht, in dieses Leben und diese Rolle geboren zu werden – genauso wenig wie er, Vi und vermutlich auch diese Hope Reuther – aber ich muss ruhig bleiben. Es liegt in Lance' Natur sich so zu benehmen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er das mit Absicht macht oder ob er einfach nicht anders kann. Das gleiche gilt für uns andere Reiter. Falls Hope Reuther tatsächlich die sein sollte, die wir suchen, dann bin ich mir absolut sicher, dass sie sich dieses Schicksal nicht ausgesucht hätte, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Doch die haben wir nicht. Niemand hat sie.
„Gar nicht so einfach, ihn nicht auf der Stelle umzubringen, was?", flüstert Vi mir zu und ich verkneife mir ein Nicken. Ja, das ist es in der Tat nicht. Aber wir haben hier eine Aufgabe, die verdammt wichtig ist und erledigt werden muss, bevor der jüngste Tag anbricht. Oder besser gesagt: Damit der jüngste Tag anbricht. Und meine ganze Aufmerksamkeit gilt meiner Pflicht als Erster Reiter dafür zu sorgen, dass dieser Tag anbricht. Also darf ich mich nicht genauso undiszipliniert verhalten wie die beiden und mich ablenken lassen. Für gewöhnlich fällt mir das leichter, aber da Vi und Lance auch meine Freunde und nicht nur Soldaten sind, verliere ich manchmal den Fokus.
„Konzentration, Leute!", befehle ich und endlich gehorchen die beiden und beobachten Hope Reuther – den wohl unglücklichsten Menschen, den ich in all der Zeit auf dieser Welt je beobachtet habe. Und wenn man mal bedenkt, dass wir eine ganze Menge niedergeschlagener, deprimierter, verzweifelter, verbitterter, bekümmerter, freudloser, unseliger, elender, kranker, gebrechlicher, hilfloser, schwermütiger, heruntergekommener und bedauernswerter Gestalten gesehen haben, in deren Umgebung viele, viele schlimme Dinge passiert sind – schließlich suchen wir nach genauso einer Person – so kann man doch mit Fug und Recht behaupten, dass die kläglichste aller Personen Hope Reuther ist. Vielleicht gar nicht mal wegen dem, was ihr laut der Akte ihrer Therapeutin, in die ich gestern gesehen habe, zugestoßen sein mag, da gibt es wesentlich schlimmere Schicksale auf der Erde, wie wir verzagt feststellen mussten. Nein – es ist das, was sie ausstrahlt. Als könne sie gar nicht anders, als dermaßen trostlos, ziellos und motivationslos durch ihr Leben zu schlurfen und alle, die in ihrer Nähe sind, damit zu infizieren. Doch auch das ist eines der Anzeichen, nach denen wir suchen: absolute Hoffnungslosigkeit. Wir dachten, wir würden diese in den dunkelsten Augenblicken im Leben der Menschen finden – in Krankheit, Verlust, Trauer oder Krieg. Doch war an diesen Stellen stets ein Funke Hoffnung zu finden. Obwohl im Leben dieser Hope durch die guten Ergebnisse im Abitur durchaus ein Funke Hoffnung vorhanden ist, so existiert dieser nicht in ihr selber – sondern ausschließlich in den Menschen um sie herum. Es ist fast schon ironisch, wie ironisch das Ganze ist. Als für sie selber keine Hoffnung mehr übrig, die sie tief im Inneren bewegt, so wie das bei anderen Menschen der Fall ist.
Inzwischen ist sie fast Zuhause angekommen. Es ist ein faszinierendes Schauspiel. Man kann durch das Fenster beobachten, wie ihre Familie mit jedem Schritt, den sie näher an das Haus kommt, unglücklicher wird. Das eben noch so glockenhelle Lachen des kleinen, rothaarigen Mädchens verklingt und langsam aber sicher werden ihre Familienmitglieder ruhig, bedächtig, nachdenklich – und das, obwohl Hope noch nicht einmal durch die Haustür eingetreten ist. Es ist, als würde sie um sich herum, alles, was jemals positiv war, absorbieren und sobald sie sich entfernt, langsam wieder frei lassen. Auf jeden wirkt sich ihre Ausstrahlung anders aus; doch eines ist unverkennbar. Sie wirkt auf jeden irgendwie.
Selbst mir legt sich ein leichter Druck auf die Brust, was wirklich erstaunlich ist. Wenn sie ein Reiter sein sollte – woran ich so langsam keinen Zweifel mehr habe, auch wenn ich nicht voreilig urteilen will – dann muss sie mächtig sein. Sogar sehr mächtig. Vierte Reiter haben oft starke Kräfte, aber für gewöhnlich haben sie keinen so starken Einfluss auf andere Reiter. Schließlich sind auch wir sehr mächtig. Wir sind ebenfalls Reiter und sollten nicht so stark auf ihre Ausstrahlung reagieren – und doch ist es unmöglich sich gegen ihre miese Laune zu wehren. Und zu beobachten, wie die gerade noch so gelöste Stimmung ihrer Familie mit Hopes Betreten des Hauses urplötzlich auf Begräbnisniveau herabsinkt, ist erstaunlich deprimierend. Fast tut sie mir leid. Ob sie wohl je einen Menschen hat lachen sehen?
„Okay, vielleicht ist sie es doch", räumt jetzt sogar Lance ein, dass dieses Verhalten von Menschen einander gegenüber, äußerst ungewöhnlich ist – selbst wenn wir in dieser Welt bereits viel Außergewöhnliches gesehen haben. Aber eine so heftige Reaktion auf jemanden, den die anderen noch nicht einmal sehen, hören oder wahrnehmen können – das ist nicht normal!
„Wie war dein Tag, Schatz? Ist etwas passiert? Geht es dir gut?", will die Mutter von Hope wissen, als diese das Haus schließlich betritt und die Ängstlichkeit und Sorge in der Stimme der Frau ist unüberhörbar. Kein Wunder, bei dem, was ihrer Tochter in ihrer Schule alles angetan wird. Das muss für eine Mutter hart sein. Vor allem für eine solche, die so wenig Zeit für ihre Kinder hat. Wir haben die Familie gründlich durchleuchtet und haben so viele Indizien gefunden, die auf Hope als Vierte Reiterin deuten, dass es fast schon absurd erscheint, jetzt noch daran zu zweifeln, wo wir es live mit ansehen können. Die Worte der Therapeutin in ihrer Akte „Es ist, als zehre alleine Hopes Anwesenheit an der eigenen Seele und versuche, sie dazu zu bewegen, das Böse, das tief in einem selbst haust, herauszulassen, um Luft zu kriegen, während sie einem selbst ausbleibt" treffen das Gefühl, das sich auf dem Gesicht von Hopes Mutter abbildet, erstaunlich gut.
Wir verstehen die Antwort nicht, die sie ihrer Mutter gibt, doch sie fällt kurz aus. Fast ist so etwas wie Freude auf dem Gesicht der Mutter zu erkennen, als sie sagt: „Aber das ist doch fantastisch". So richtig nehme ich ihr die Freude aber nicht ab. Ihrer ältesten Tochter scheint es genauso zu gehen, denn kurz darauf trottet Hope niedergeschlagen die Treppen hoch und lässt ihre Familie im Erdgeschoss zurück.
Die drei kleinen Geschwister sind seit ihrer Anwesenheit alle verstummt und haben jegliche Spielereien eingestellt. Auch die Mutter wirkt jetzt, als würde sie am liebsten jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
„Bei meinem Blutschwert", meint Vi entsetzt. „Das mit anzusehen, zieht selbst mich runter. Soll das so sein? Ich meine, sie redet ja kaum mit denen und verbreitet schon eine dermaßen miese Stimmung – was passiert da erst, wenn sie jemanden anfasst?"
„Kennst du die Liste nicht?", ärgert Lance sie, denn wir alle kennen die Liste ihrer Anzeichen genauso auswendig wie unsere eigenen. „Niedergeschlagenheit, Angst, Pech, Misserfolg, Krankheit, Niedergang und schließlich Tod – kein Wunder, dass sie Handschuhe trägt. Ob sie wohl schon einmal jemanden gekillt hat?"
„Lance!"
„Ausversehen, meine ich", gibt er kleinlaut auf meine Ermahnung hin zurück. „Und sie hat offenbar einen Draht zu Raben! Also los – worauf warten wir noch?"
„Du bist so ein Volltrottel", beschwert sich Vi in hysterischem Flüstern. „Eben wolltest du noch unbedingt Recht haben damit, dass sie es auf keinen Fall sein kann und jetzt willst du auf einmal mit Sicherheit wissen, dass sie es ist? Das ist so typisch für dich."
„Meinungen sind so unbeständig wie das Leben, Baby", zuckt Lance mit den Schultern und will schon, ein Stück über dem Boden schwebend hinter meinem Rücken zu Vi gleiten, um sie weiter zu provozieren. Bevor er ankommt, halte ich meinen Arm dazwischen und gebiete ihm Einhalt.
„Genug, habe ich gesagt." Das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann ist, wenn Vis Haare in Flammen aufgehen. Nicht einmal Menschen können eine scharlachrote Stichflamme, die mitten in einem Busch hochgeht ignorieren – auch wenn sie nicht viel mitbekommen, einen brennenden Busch bemerken sie.
„Spielverderber", murmelt er und reibt widerstrebend an seiner Waage, sodass er plumpsend wieder auf dem Boden landet.
„Wie geht es jetzt weiter, Night?", fragt Vi und ich sehe in ihre rot glühenden Augen.
Ich denke nach. Wir wissen nicht, was sich hinter den Fenstern der Therapeutin abgespielt hat. Aber ich hoffe, dass sie Hope Reuther dazu bekräftigt hat, an dem Treffen, dass ich für den nächsten Morgen mit ihr und der Schule angesetzt habe, teilzunehmen. Zum Glück hat uns dieser Lehrer in seinem inbrünstigen Bestreben seiner Schülerin zu helfen, zu der Therapeutin geführt. Aus der Akte konnten wir so viele Informationen über Hope Reuther gewinnen, die für sie als Vierte Reiterin sprechen, dass es fast schon lachhaft ist, wie perfekt das alles zusammenpasst. Und doch bin ich mir nicht ganz sicher... eine Sache spricht einfach absolut dagegen, dass sie es ist. Und die will mir nicht aus dem Kopf gehen.
„Wir warten ab", beschließe ich. „Vielleicht kommt sie morgen zu diesem Termin und wir können einen näheren Blick auf sie werfen", bestimme ich.
„Wie nah willst du denn noch ran? Willst du dich umbringen? Probieren, ob ihre Killerflossen funktionieren?"
„Und wenn sie nicht zu dem Termin erscheint?", merkt Vi an und wir beide ignorieren Lance.
„Dann müssen wir uns einen anderen Weg einfallen lassen, wie wir sie unter die Lupe nehmen können, um sicher zu gehen. Wir werden sehen, ob es auf diesem Weg funktioniert. Aber ich will absolut sicher sein."
„Wie viel sicherer willst du dir denn noch werden?", fragt Vi.
„Bis ich absolut keine Zweifel mehr habe. Und im Moment habe ich die durchaus. Denn es gibt da etwas, das ergibt einfach keinen Sinn."
„Dass da wäre?"
„Ihre hässlichen Klamotten?", wendet Lance auf Vis Frage hin ein. „Ich meine – ehrlich mal Leute, sie mag ja vielleicht eine von uns sein, aber so kann man doch nicht herumlaufen. Nicht einmal, wenn sie das ist, von dem wir glauben, dass sie es ist. Ihr Style geht einfach gar nicht!"
„Halt die Schnauze, Lance. Was wolltest du sagen, Night? Was beunruhigt dich?", fragt Vi erneut nach und ich werfe einen letzten nachdenklichen Blick auf das abgedunkelte Schlafzimmerfenster von Hope Reuther. Neben all den Charaktereigenschaften, die Vierte Reiter für gewöhnlich auszeichnen, und die Hope Reuther meiner Einschätzung nach nicht erfüllt – beispielsweise Selbstsucht, Eigennutz, Gehässigkeit, Masochismus, Sadismus, Egoismus –, so gibt es doch eine Tatsache, die mich ganz besonders stutzig macht.
„Auf der Liste mit den Merkmalen eines Vierten Apokalyptischen Reiters, dem Reiter des Todes steht Fehlschlag. Außerdem Misserfolg. Pech. Niedergang."
„Ja. Was ist damit?"
„Ja", plappert Lance Vi nach. „Was ist damit? Sie führt ja nicht gerade ein Leben als philanthropische Milliardärin in der Karibik. Ist dir ihr unscheinbares kleines Leben nicht traurig genug?"
„Erkennt ihr es nicht?", ignoriere ich Lance' bedeutungsloses Gerede. „Wenn sie eigentlich für Misserfolg, Fehlschlag und Niedergang steht... wie kann sie da ein so gutes Abitur schreiben? Sie ist besser als alle anderen in ihrem Jahrgang. Wenn sie als Vierte Reiterin für Misserfolg steht, hätte sie nicht eigentlich kläglich scheitern müssen?"