SECHS JAHRE SPÄTER
Hüte dich vor dem Mann, der leise in dein Ohr flüstert, denn in seinem Herzen strebt er danach, dir das Leben zu nehmen.
ZINA
Zina presste ihren Rücken an die Wand, als ein straffer Körper sie festhielt und ihre Wärme sich vermischte. Vier Jahre tödlicher Erwartung hatten sich in diesem Moment verdichtet.
Seine Flüstereien streichelten ihr Ohr, Schauer jagend, die nichts mit der Kälte der Luft zu tun hatten. „Da du so gut Visionen siehst, sag mir, Theta meines Hauses, siehst du den Tag, an dem du sterben wirst?" Sein Atem huschte über ihre Haut und erinnerte sie an eine Schuld, die sie begleichen musste.
Sie schluckte und hielt ihren Stab fest umklammert, trotz des Körpers, der gegen ihren brannte, und antwortete entschlossen. „Ich fürchte, die Götter haben es mir noch nicht offenbart."
Der Mann über ihr lächelte verschmitzt. Seine Lippen streiften ihr Ohr, sein heißer Atem sandte Wellen der Empfindung. „Ich glaube an alle Namen, die man mir gegeben hat, einer davon ist Gott. Also lass mich dir das sagen, was du nicht weißt ...
„... heute ist der Tag, an dem du sterben wirst."
Zinas Augen weiteten sich, ihr Herz raste.
Sie erkannte, dass die Welt, die sie durchquerte, nur ein Traum war, und dass sie in Wirklichkeit immer noch in ihrem opulenten Raum im NorthSteed-Pack war. Unbewusst wanderte ihre Hand zu ihrem Schulterblatt und streifte das Mal, das dort war. Wie vom Blitz getroffen, zog sie ihre Hand zurück.
Zinas Kehle war ausgetrocknet, und der Bereich zwischen ihren Beinen pochte. Sie stöhnte, wünschte, das Gefühl würde verschwinden ... und ihr Wunsch wurde erfüllt.
Die Tür zu ihren Gemächern flog auf und eilige, bedrohliche Schritte näherten sich ihr.
„Die Seherin!!" rief die Stimme, und bevor Zina sich fassen konnte, hörte sie das unverwechselbare Zischen einer Klinge, die auf sie zukam.
Sie wich ihr erstaunlich aus und drehte ihren Körper weg von der bedrohlichen Waffe. Sie schnupperte in der Luft.
Ein Schurke? Das war definitiv neu.
Als hätte sie geahnt, dass ein Angriff auf jemanden so flink wie Zina mit einer Klinge zwecklos war, erklangen die unverwechselbaren Geräusche von sich verschiebenden Knochen und knackenden Gelenken, während der Geruch eines Halbwandlers Zinas Nasenlöcher erreichte.
Sie kauerte auf dem Boden, die Hand um ihren Stab geklammert, der nie die Seite ihres Bettes verlassen hatte, ihre Sinne waren hellwach.
Der Schlaf wich aus ihren Augen, und sie spürte am Zwitschern des Spottdrosselvogels in seinem Käfig, dass es noch die frühen Morgenstunden waren.
Dah hatte eine ganz eigene Art, Zina die Zeit und die Jahreszeiten vorzusingen, und liebte sie nicht gerade diesen kleinen Vogel?
Der Schurke stürzte sich auf sie, ein wild knurrendes Wesen. Der Stab, von dem Zina gelernt hatte, dass er aus einem harten Material gemacht war, das sie nicht kannte, blockierte die Klaue, die auf ihre Kehle zielte, und mit all ihrer Kraft stieß sie mit demselben Stab nach dem Schurken.
Er rührte sich kaum, aber das Abwehren seines Schlags hatte ihn gestört, sodass Zina ein Fenster fand, um ihm vorübergehend zu entkommen.
Wo war der Tempelkrieger, der sie bewachen sollte? Oder hatten sie es satt, ihr Beschützer zu schicken, die anfangs noch lebten, nur um dann in einem Sarg zurückzukehren?
Es würde Zina nicht wundern, wenn das der Fall wäre.
Der Schurke erholte sich, fand Zina und ließ eine Klaue nach der anderen auf sie regnen. Zina wehrte die Hiebe mit ihrem Stab ab, doch das Ding war ziemlich hartnäckig und ließ sich von ihrer Verteidigung nicht beirren.
Sein Bein schoss hervor, trat Zina in den Magen und ließ sie gegen die Wand fliegen. Ihr Rücken prallte gegen die harte Wand, und Schmerz schoss durch all ihre Nervenenden.
Sie stöhnte auf, dachte aber nicht weiter über ihren Schmerz nach. Wenn sie noch länger zögerte, würde sie diesem Schurken zum Fraß vorgeworfen werden.
Wo waren eigentlich alle?
Zina wich einem Angriff aus und kletterte auf den Boden, um ihren Stab zu finden. Seraph hatte sie immer wieder angefleht, wenigstens eine Spitze ihres Stabes zu schärfen, aber Zina, so eigensinnig wie sie war, bestand darauf, ihren Stab in seinem ursprünglichen Zustand zu belassen.
So war ihr Stab, abgesehen vom Schlagen und Zeigen auf den Gegner, im Kampf praktisch nutzlos.
Ihr Stab landete genau auf dem Gesicht des Schurken. Hart. Er stöhnte auf, als wäre er einfach nur genervt von dem Schmerz, was Zina dazu veranlasste, die Augenbrauen zu heben.
Ein harter Brocken also?
Während des Kampfes, bei dem Zinas harter Stab zwischen ihr und den unnachgiebigen Klauen des Schurken eingeklemmt war, hörte sie das unverwechselbare Geräusch eines Werwolfs, der sich ihnen näherte.
Es könnte der Gefährte des Schurken sein, wenn da nicht der unverwechselbare Geruch von Tempelweihrauch gewesen wäre, der Zinas Nase erreichte.
Anscheinend war der Tempel noch nicht müde, ihr Krieger zu schicken.
Der Werwolf zog den Schurken unsanft von hinten weg, und das Geräusch von Krallen und Reißzähnen, die sich in das Fleisch des Schurken gruben, durchdrang den Raum. Der Schurke heulte ein schreckliches Geräusch, was Dah veranlasste, noch lauter zu zwitschern.
Diesmal ahmte der Spottdrossel, der wusste, dass sein Herrchen nun hellwach war, nur zum Spaß das Heulen eines Wolfes nach.
Zina bürstete lediglich verärgert ihre Kleidung von jeglichem Schmutz frei.„Theta Zina", Seraphs Stimme hallte durch den Raum, ein Hauch von Panik lag darin, „geht es dir gut?"
„Mir geht es gut."
„Das hört man gerne."
Der Geruch von Blut erfüllte den Raum, doch Zina zuckte nur kaum wahrnehmbar zusammen bei dem dumpfen, metallischen, würzigen Duft. Im NorthSteed-Rudel gewöhnte man sich an vieles, und Blut gehörte definitiv dazu.
Eine ganze Menge Blut.
Eine gesundheitsschädlich große Menge Blut.
„Ist er bereits tot?", fragte Zina ungeduldig.
Der Tempelkrieger verwandelte sich zurück in menschliche Gestalt, und Zina konnte aus Seraphs unbehaglichem Verhalten neben ihr schließen, dass der Krieger nackt war.
Die fremde Stimme eines jungen Mannes antwortete fieberhaft: „Theta Zina, entschuldige, dass ich so spät..."
„Ist er tot?", wiederholte Zina emotionslos und fiel dem Krieger ins Wort.
„Nein, das ist er nicht. Ich werde ihn verhören und dir berichten!" Der Krieger proklamierte feierlich.
Aha, also war dieser hier jung und voller Leidenschaft? Zina fragte sich, wie lange er es wohl aushalten würde.
Sie ging zum Waschbecken in ihrem Zimmer und begann, sich das Gesicht zu waschen. Seraph huschte ihr hinterher. Mit dem Rücken zu dem Krieger fragte Zina: „Wie heißt du?"
„Ablanch Druin, ich wurde dieses Jahr zum Krieger des Tempels ernannt.", verkündete der junge Mann stolz.
„Gestern starb dein Vorgänger.", sagte Zina mit einer Stimme, die jeglicher Emotion entbehrte, „er wäre der dritte Krieger, der in meinem Dienst gestorben ist."
Die Furcht, die sie in dem Mann auslösen wollte, zeigte keine Wirkung, denn er erwiderte mit leidenschaftlicher Stimme: „Ich werde nicht der Vierte sein!"
„Gut. Seraph, bitte bring ihn auf den neuesten Stand, wie sehr die Leute meinen Kopf rollen sehen wollen."
Seraph räusperte sich und warf dem Krieger ein Stoffbündel zu, welches er mit viel Lärm auffing. „Das Attentat heute wäre das siebenundzwanzigste seit..."
„Was?", unterbrach der Krieger mit angespannter Stimme.
„...in den letzten sechs Jahren.", fuhr Seraph fort, ihre Stimme verbarg kaum ihr Stirnrunzeln über seine Unterbrechung. „Die Anschläge haben sich vor drei Jahren gehäuft, nachdem die Theta die große Hungersnot vorausgesagt hatte. Wir vermuten stark, dass sie ihren Ursprung hier im arktischen Norden haben. Allerdings schließen wir den Einfluss anderer Regionen nicht aus, die den Vorhersagen der Theta nicht gefolgt sind und ihr aus Missgunst nach dem Leben trachten."
„Ich verstehe!", sagte Ablanch feierlich und ohne Pause.
„Wenn du an meiner Seite bleiben willst", sagte Zina und trocknete mit dem Handtuch ihr Gesicht und ihre Handfläche, „musst du lernen, deine Schichten nahtlos zu wechseln."
„Wie du befehlst, Theta. Ich werde es sicher lernen, meine Schichten nahtlos zu wechseln.", sagte der Krieger mit einer Stimme, die vor grimmiger Entschlossenheit erfüllt war.
Zina spürte Seraphs Lächeln, als die zwanzigjährige Frau leise ihren Dank an Zina richtete.
Zina, die blind war, blieb der entsetzliche Anblick erspart, wenn Werwölfe, die ihre Schicht nicht wechseln konnten, nackt erschienen. Doch Seraph, die in den letzten sechs Jahren immer an ihrer Seite gewesen war, blieb solche Schreckensvisionen nicht erspart.
Das Mädchen begann Zinas Haare zu kämmen, während Ablanch den Raum verließ, um sich angemessen zu kleiden.
Als der Kamm die Strähnen ihres Haares streichelte, spürte Zina, wie das Mädchen hinter ihr noch nervöser wurde.
„Was gibt es denn jetzt wieder?", fragte Zina, wohl wissend, dass ihr Morgen, wie immer, prachtvoll begonnen hatte.
„Kriegsnachrichten von den Grenzen sind eingetroffen. Der Alphakönig ruft euch."
„Dann müssen wir uns auf den Weg machen.", sagte Zina abrupt, erhob sich von ihrem Stuhl und machte sich auf den Weg zu den Gemächern des Alphakönigs.
Dank langjähriger Übung fand sie problemlos ihren Weg durch die Arktische Burg. Ablanch gesellte sich kurz darauf zu ihnen und die Stille in Eldric NorthSteeds Wohnbereich war erdrückend, wie erwartet.
Sie nickte auf die gelegentlichen Grüße, die sie bekam, nur kurz. Als sie den königlichen Flügel erreichten, erstarrten sie und ihre Begleiter beim unverkennbaren, schwer in der Luft liegenden Geruch von Blut. Die Geräusche von Stöhnen und Grunzen drangen von innen nach außen und veranlassten Zina, ihre Faust fest zu ballen.
„Verkündet meine Anwesenheit.", sagte sie zu den Epsilons, die die Türen bewachten, in einer wohlgeübten, kontrollierten Stimme, die nichts von ihren wahren Gefühlen verriet.
„Theta Zina WolfKnight möchte den Alphakönig sehen!"
Die Türen wurden aufgestoßen und Zina trat ein. Sie kam nicht weiter, als die Sohlen ihrer Schuhe auf dem Boden auf etwas Flüssigem kleben blieben. Das Stöhnen war jetzt lauter, das Grunzen tiefer und das Klatschen verschlungener Körper schallte laut durch den Raum.
Zina wusste ohne jeden Zweifel, dass sie gerade in eine Lache aus Blut getreten war.