'ZINA
"Außerdem kann ich erkennen, dass einer von ihnen ein Aberrant ist!"
Zina versteifte sich, als sie wieder einmal gezwungen war, herablassende Blicke zu ertragen.
"Ein Aberrant?" Der Alphakönig sprach mit leiser Stimme, als hätte er diese Information gerade zum ersten Mal gehört, was bei Zina den Wunsch weckte, der Boden möge sich öffnen und sie komplett verschlucken.
"Sie ist tatsächlich eine Aberrantin", sagte Moorim mit einer Selbstsicherheit, die zu verstehen gab, dass Zinas niedriger Status überhaupt kein Problem darstellte. "Aber diese Aberrantin, die du siehst, ist genau die Seherin, die Luna Savages außergewöhnliche Schwangerschaft vorhergesagt hat."
Die Aufmerksamkeit auf sie wurde mit neuem Eifer erneuert. Die Flüstereien waren nun leiser, und obwohl Zina versuchte, sie zu verstehen, ließen ihre verwirrten Gedanken ihr Gehör nicht richtig funktionieren.
Zu Zinas Entsetzen war es seine Stimme, die die sich ausdehnende Stille durchbrach,
"Eine Aberrantin mit einer so mächtigen Sicht", verkündete Daemon fast allen im Raum, "und zwei ebenso mächtige Seher an ihrer Seite. Mit dem Wasser des Lebens hier bin ich sicher, dass die Wahrheit keine andere Wahl hat, als an die Oberfläche zu treten."
Die Art, wie diese letzten Worte gesprochen wurden... nein, die schwere Dosis Sarkasmus in seinen letzten Worten bereitete Zina großes Unbehagen. Zina wusste nicht, ob ihre Gefühle wahr oder falsch waren, aber Daemons durchdringender Blick verriet ihr, dass der Prinz mehr über das aktuelle Geschehen wusste, als er zugeben wollte.
Wusste er von der Lüge, die sie erzählen würde? Wenn ja, warum hatte er ihr nicht einfach den Hals durchgeschnitten und sie endgültig getötet, als sie sich in den Korridoren begegneten? Warum lebte sie immer noch, beladen mit Schuld und der schweren Bürde einer noch zu erzählenden Lüge?
"Bringt das Wasser des Lebens!" befahl Moorim, und schwere Schritte verließen den Raum. Dieselben Schritte kehrten kurz darauf zurück, und das Geräusch ihrer Schritte deutete darauf hin, dass sie etwas trugen, als sie zurückkamen.
Die weibliche Stimme der Theta sprach in einem so leisen Ton, dass man sie für krank gehalten hätte,
"Wir beginnen nun mit dem Mondem-Ritual. Der Vollmond ist noch nicht sichtbar, aber seine Sichel wird ausreichen."
Es war also die Mondsichel in dieser Nacht. Derselbe Mond, der sie an den Tag erinnerte, an dem sie verlassen wurde.
Kräftige Schläge einer Kulturtrommel begannen in einem starken Rhythmus zu hallen, der Zina zu beflügeln drohte. Widerwillig verspürte Zina den starken Drang, sich zu drehen und zu tanzen, obwohl sie blind war. Es war, als würde etwas an ihrem Herzen nagen und ihr Blut durch das Adrenalin schneller pumpen lassen, obwohl sie nichts getan hatte, was einen solchen Energieausbruch hätte auslösen können.
Die Stimme der Theta verwandelte sich von sanft zu stark, als sie seltsame Worte murmelte, die nur die alte Sprache der Bergwölfe sein konnten. Ihre Stimme nahm eine unheimliche Klangfarbe an, als sie zum Schlag der Trommeln sprach.
"Hast du die Geburt eines Missgestalteten vorhergesehen?" Die alte Frau fragte, als ob sie gerade das Ausmaß dessen begriff, was man Zina zur Last legte.
Zina antwortete ihr nicht, sondern konzentrierte sich stattdessen darauf, was die Atmosphäre in ihr auslöste. Das Mondem-Ritual sollte einem Theta oder jedem, der über eine spirituelle Sicht verfügte, eine bestimmte Vision entlocken, so verstand es Zina.
Doch sie sah nichts von demjenigen, der den König vergiften wollte. Die einzige Vision, die ihre Sinne überwältigte, war stattdessen die des aktuellen jungen Daemon, der ausgestreckt auf dem Boden vor seinem Thron lag und zu Tode blutete.
Und egal, wie sehr Zina über diese Vision nachdachte, nur eine Interpretation erschien ihr klar.Rechtfertigung war eine schreckliche Sache, aber Zina hatte jetzt eine... egal wie heuchlerisch sie war. Zina hatte endlich einen Grund jenseits der Sicherheit ihres Rudels, diese Lüge zu erzählen, aber eine Sache stand ihr im Weg....
....das Wasser des Lebens.
Hatten ihre Entführer das nicht bedacht? Dass es einen so großen Stolperstein für ihre Pläne gab.
Die Trommeln ertönten immer noch, und der Theta sprach in der gemeinsamen Sprache. "Wir werden bei den Ältesten beginnen. Kommt nach vorne!" Sie winkte der alten Frau zu, und Zina spürte, wie die Frau, die die Position der Theta anstrebte, freudig von ihrer Seite wich.
Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Zina ihr fehlendes Augenlicht nicht als unerträglich störend. Sie konnte sich nur auf ihre Sinne verlassen, um ihre Bewegungen zu verfolgen und zu deuten, was geschah, was ziemlich ärgerlich war.
"Trink!"
Zina hörte mit angestrengtem Gehör das unverwechselbare Geräusch der alten Frau, die eine Flüssigkeit hinunterschluckte.
Wie ein Déjà-vu stellte der Alphakönig genau dieselbe Frage, die ihre Entführer buchstabiert hatten,
"Wer soll mich töten, und wer soll meinen Thron erben?"
Kein einziges Wort fehlte. Das, was ihre Entführer ihr vorgesagt hatten, dass der König sie fragen würde, war genau das, was der Frau gestellt wurde.
Zina fand das erschreckend.
Die alte Frau stotterte. Als ob sie etwas sagen wollte, aber die Worte nicht ganz aufbringen konnte, aber nicht ganz den Halt fand.
Jedes einzelne Ohr im Raum reckte sich, um sie zu hören, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Als Nächstes fing sie an, laut zu keuchen, als würde ihr etwas die Kehle zuschnüren, was den Raum in Aufruhr versetzte.
Sie keuchte, kratzte, zappelte, die Geräusche waren sehr erregend und deuteten auf einen bevorstehenden Tod hin. Und nach einiger Zeit hörte sie auf zu keuchen, und nur noch Stille durchdrang den Raum.
Zusammen mit dem Gestank des Todes.
"Ich habe vergessen, eine Sache zu sagen", erklang Moorims klare Stimme im Raum. "Das Mondem-Ritual bringt jedem den Tod, der vorgibt, mit dem Anblick gesegnet zu sein. Das Wasser des Lebens dient dazu, diesen drohenden Tod ein wenig näher zu bringen."
Die Frau mittleren Alters neben Zina sog tief Luft ein, während Zina wie ein verlorenes Ding dastand, unsicher, welchen Weg sie einschlug und ob es das wert war.
Tod? Stolz? Verlassenheit? Rechtfertigung? Das waren alles Ausreden, hinter denen sich Zina versteckte, um ihr allgemeines Elend zu verbergen. Und irgendwie fielen alle ihre Panzer ab, einer nach dem anderen, und enthüllten sie als das, was sie wirklich war....
....Ein Feigling, der unfähig war, sich der Welt zu stellen.