Laute Sirenen hallen weiterhin über das Militärgelände, ihr eindringlicher Klang durchbricht die angespannte Atmosphäre wie eine unsichtbare Klinge. Der Essenzsturm tobt erbarmungslos, ein Wirbel aus purer Energie.
„Warum wird der Essenzsturm nicht schwächer, obwohl wir uns immer mehr vom Zentrum entfernen?" Finns Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, doch sie zittert leicht.
Sein Blick wandert zu Mara, die erschöpft in Kiarans Armen ruht. Es ist offensichtlich, dass er versucht, sie nicht weiter zu beunruhigen.
„Das kann nur zwei Dinge bedeuten," antwortet Seren knapp, ihre eisblauen Augen konzentriert auf die Straße vor ihnen gerichtet.
„Und die wären?" Finns Ton wird drängender, seine Unsicherheit schimmert durch.
Seren atmet tief ein, bevor sie spricht. „Entweder verteilt sich die Essenz aus dem Zentrum stärker – was gut, aber unwahrscheinlich ist."
„Oder?" Finns Stimme wird leiser, fast ängstlich.
Seren dreht sich kurz zu ihrem Team um. Ihre Haltung ist fest, aber in ihren Augen liegt eine Schwere, die sie nicht verbergen kann.
„Oder der Essenzsturm wird so stark, dass selbst der Rand des Sturms die Stärke des Zentrums erreicht. Wenn das passiert, sollten wir mit einem Leerenbruch rechnen."
Ein kurzes Schweigen legt sich über die Gruppe. Der Gedanke an einen Leerenbruch ist wie ein drohender Schatten, der sich über ihre Seelen legt.
Nico, der neben Seren geht, versucht, die Spannung zu brechen.
„Ach, alles wird gut. Schließlich ist Serens Vater doch auch noch da. Muss echt cool sein, einen Vater zu haben, der zu den Top 10 gehört."
Serens Magen zieht sich zusammen. Sie schaut leicht zur Seite, ihre Schritte verlangsamen sich leicht.
„Wenn es so weit kommt, dass mein Vater eingreifen muss," sagt sie leise, „dann können wir uns von einander verabschieden."
„Was soll das denn heißen?" Kiaran, der Mara noch immer trägt, blickt sie überrascht an.
Seren bleibt stehen und sieht ihn direkt an. Ihre Stimme ist ruhig, aber hart.
„Es soll heißen, dass mein Vater nur Zerstörung mit sich bringt. Wenn er sein Stigma aktiviert, geschweige denn sein Arkana, wird es nichts mehr geben, was zu retten ist – auch nicht uns."
Kiaran öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch bevor er sprechen kann, ertönen Schritte aus der Straße vor ihnen.
Die Gruppe erstarrt. Seren zieht ihr Schwert in eine fließenden Bewegung aus dessen Scheide.
„In Kampfstellung!" ruft sie.
Finns Hände beginnen sofort, in einem blauen Licht zu schimmern, bereit, eine Barriere zu errichten.
Doch bevor es zu einem Kampf kommt, dringt eine vertraute Stimme durch die staubige, verwüstete Luft. „Ganz ruhig, ich bin es."
Die Gestalt von Offizier Samir tritt aus den Schatten. Sein Gesicht ist verschlossen, doch seine Haltung strahlt Autorität aus.
„Ich habe nach den Nachzüglern Ausschau gehalten. Es ist schwer zu glauben, dass ihr die zunehmende Stärke des Sturms nicht bemerkt habt. Was hat euch aufgehalten?"
„Nicht was, sondern wer," antwortet Seren und deutet auf Mara, die nun schläfrig an Kiarans Schulter lehnt. Ihre Haare kleben an ihrem Gesicht, und ihre kleinen Hände zittern leicht.
Samir betrachtet das Mädchen einen Moment lang, bevor er fragt: „Ihre Familie?"
Seren zögert kurz, bevor sie mit brüchiger Stimme antwortet: „Ihr Vater ist wohl nicht in der Stadt. Und ihre Mutter… sie ist tot."
Samirs Blick verfinstert sich. Für einen Moment sagt er nichts, bevor er schließlich nickt. „Ich verstehe. Wir müssen schnell zum Camp zurück."
***
Das Lager ist ein Meer aus hektischer Aktivität, doch alles scheint organisiert zu sein. Überall stehen Soldaten und Rekruten in geordneten Reihen, Waffen werden überprüft, und Kommandos hallen über den Platz.
Der Essenzsturm, nun offiziell „Trudy" genannt, wurde von der Kategorie 1 auf Kategorie 2 hochgestuft – mit Tendenz zur Kategorie 3.
Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer.
„Ich dachte, das wäre nur ein Training!" ruft ein panischer Rekrut aus einer Gruppe.
„Keiner hat mir gesagt, dass wir gegen einen Kategorie 2 oder sogar Kategorie 3 Leerenbruch standhalten müssen!"
Die Unruhe breitet sich aus, doch sie wird jäh durch die donnernde Stimme von Offizier Samir unterbrochen. „RUHE!"
Ein unbeschreibliches Gefühl der Schwere macht sich im Lager breit.
Rekruten und selbst einige Soldaten spüren, wie ihre Knie nachgeben, und verstummen augenblicklich.
„Spar dir deine Kraft" flüstert Kael, der neben ihn getreten ist.
Kael übernimmt die Ansprache wieder und fährt fort: „Da viele von euch heute unerfahrene Rekruten sind, werden wir Teams bilden. Ein erfahrener Soldat wird sich mit fünf von euch zusammentun. Die Teams werden aus sechs Personen bestehen. Verstanden?"
Ein lautes „Ja, Sir!" hallt durch das Lager.
Seren wendet sich ihrem Team zu. „Wir sind nur vier. Wir müssen uns noch jemanden suchen."
Ihre Augen wandern über das Chaos, das im südöstlichen Teil des Lagers herrscht, wo die Rekruten versuchen, sich zu organisieren.
Serens Blick bleiben an einer großen, dunklen Gestalt hängen. Ein junger Mann mit langen, schwarzen Haaren steht leicht gebückt, doch seine Größe lässt ihn aus der Menge herausstechen.
Seren spürt, wie ihr Herz schneller schlägt. Sie rennt auf ihn zu, ihre Gedanken überschlagen sich.
„Lumen?" ruft sie, ihre Stimme ist heiser, fast ein Flüstern.
Als der Mann sich zu ihr umdreht, erstarrt Seren. Statt der vertrauten goldenen Augen starren sie braune an.
Enttäuschung breitet sich in ihr aus, und ihre Wangen färben sich vor Verlegenheit rot.
„Sorry, kennen wir uns?"
Seren stottert. „D-du bist eine Frau."
Die Fremde lacht.
„In der Tat. Haben es meine Brüste oder langen Haare verraten?"
Serens Verlegenheit wächst, sie schaut peinlich berührt zur Seite.
„Ich wünschte, ich könnte im Boden versinken," denkt sie.
Ihr Team hat sie inzwischen eingeholt. Nico klopft ihr grinsend auf die Schulter. „Du hast schon jemanden gefunden? Wie von dir erwartet, Seren!"
Die Fremde lächelt.
„Ich heiße Ahri und würde mich freuen, eurem Team beizutreten."
Seren kratzt sich an der Stirn, immer noch beschämt. „Ähm, ja, willkommen im Team. Ich bin Seren, das ist Finn, da ist Kiaran, und Nico steht dort."
Zusammen gehen sie zum Sammelpunkt, wo die erfahrenen Soldaten warten.
Ein freundlicher Mann stellt sich vor.
„Ich heiße Robert. Freut mich, euch kennenzulernen."
Er besteht darauf, jedem die Hand zu schütteln, was Seren seltsam vorkommt, doch sie behält den Gedanken, angesichts ihres seltsamen Verhaltens gegenüber Ahri, für sich.
„Ich denke, es wäre sinnvoll, wenn wir unsere Stigmata erklären, damit wir besser harmonieren," sagt Robert ernst.
„Klingt nach einem Plan," stimmt Seren zu und wirft einen letzten Blick in Richtung des tobenden Sturms.
Sie ist zwar aufgeregt, freut sich aber auch gleichzeitig auf ihren ersten richtigen, ernsten und potenziell gefährlichen Einsatz.