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Seelensturm-Durch meine Augen

Marie_Vellin
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Chapter 1 - Der erste Abend von vielen

"10.10.22 // 17:43 Uhr

...„Ich glaube, ich bin nicht gemacht dafür, ein vernünftiges Leben zu führen", sprach ich leise vor mich hin und hoffte, dass es jemand sieht, dass jemand mich sieht.

"14.06.18 // 19:57 Uhr

An diesem einen Tag trafen wir uns doch irgendwie aus Zufall. Wir befanden uns in einer Gruppe unserer gemeinsamen Freunde. Du saßt auf unserem Balkon, der die Verhältnisse widerspiegelte, in denen wir lebten. Wir wohnten hier zu viert, inklusive mir, in einer billigen WG in Berlin. Wir saßen auf den Möbeln, die wir für 10 Euro gebraucht kauften: ein paar verschiedene Stühle, die etwas kaputt waren, aber ihren Zweck noch erfüllten – wie so gut wie alles, was wir besaßen.

An diesem Abend waren wir zwölf Leute. Wir schoben verschiedene Tische, die wir in unserem Haushalt fanden, zusammen, damit wir Alkohol darauf stellen konnten, um wie jedes Wochenende zu feiern, dass wir die fünf schrecklichen Tage überstanden hatten und nun zwei Tage dem Ernst dieses traurigen Lebens entfliehen konnten.

Du warst neu dabei, eigentlich nur, weil du der Fahrer von Freunden warst. Doch im Laufe der Geschichte wird noch klar, dass du hier fast zu perfekt hineingepasst hattest. Deine Blicke schenkten mir Interesse, zugleich Abscheu gegenüber dem Kerl, der neben mir saß und mit seiner Hand mein braun-blond verwaschenes Haar streichelte. Du kanntest mich nicht, ebenso den Kerl nur flüchtig. Trotzdem verriet mir dein Ausdruck, dass du wusstest, dass er und ich nicht echt waren, nicht so echt, wie wir von außen zu sein versuchten. Du gabst mir das Gefühl, dass du sofort erkannt hattest, dass bei mir und ihm etwas falsch lief.

Während ich meine Lippen auf die des Kerls presste, um verzweifelt zu verdeutlichen, wie schön und harmonisch wir sind – so wie wir es immer taten, um den Anschein zu bewahren – merkte ich, wie du zusahst und gleichzeitig versuchtest, mich zu durchschauen. So wie du es bis vor kurzem immer noch tatest. Denn genau das war das erste Detail an dir, das mich dich nicht vergessen ließ. Oder vielleicht mochte ich auch nur das Gefühl, dass ein Stück von der Realität in meinen Beziehungen gesehen wurde. Wer weiß.

Wir verbrachten den Abend alle gemeinsam, unterhielten uns über oberflächliche Dinge wie Ansichten, Lebensziele und Geschichten aus der Vergangenheit. Mit einer Zigarette in der Hand erblickte ich die Gruppe von hoffnungslosen Jugendlichen oder auch verkorksten jungen Erwachsenen. Jeder von uns hatte eine andere Lebensgeschichte, trotzdem teilten wir alle dasselbe erbärmliche Schicksal. Wir beendeten, was wir begonnen hatten. Deine Anwesenheit an diesem Abend ließ mich nachdenken. Du hattest etwas an dir, das mich auf eine seltsame Art anzog.

„Was sagst du, Lis?", fragte ich meine rothaarige Freundin, die zugleich eine meiner Mitbewohnerinnen in der WG war.

„Irgendwie putzig, oder? Aber definitiv aus einem reichen Haushalt, das rieche ich aus der größten Entfernung", flüstert sie mir ins Ohr und grinst, als ihr Gesicht wieder hervorkam. Dabei hatte sie auf jeden Fall recht, was der weiße Mercedes Benz C63 AMG, der auf unserem Hof parkte, definitiv repräsentierte.

Du bekamst den Schlüssel zugeworfen, sammeltest drei der Leute ein, die du mitbrachtest. Gleichzeitig schautest du ein letztes Mal zurück, als würdest du es besser wissen. Eine kleine Menge Mitleid, doch hauptsächlich Arroganz begleiteten diesen Blick, der mich ein letztes Mal betrachtete, nachdem du aus unserer mahagoniroten Tür den Weg zu deinem Auto gefunden hattest.

Irgendwie komisch, du kamst hierher und warst dennoch schlau genug, um dich nicht täuschen zu lassen. Irgendwas in mir fand dich total interessant, zudem spürte ich dieses kleine Stück Verbundenheit, das wir hatten, solange wir gemeinsam mit unseren Augen kommunizierten. Wer warst du, dachte ich, während ich darauf wartete, dass mir der Joint, der durch die Runde ging, gereicht wird, um endlich mal ein bisschen Ruhe in das Chaos meines Kopfes zu bekommen.

"23:56 Uhr

„Wie findest du ihn?", fragte ich den Kerl, der übrigens Dorian hieß, damit ich mir klar werden konnte, ob er sich ebenfalls durchschaut fühlte.

„Etwas hochnäsig, aber im Großen und Ganzen scheint er ganz okay zu sein", antwortete er mit dem Ausdruck im Gesicht, den er immer draufhatte, sobald er sich die Frage speicherte, um sie mir irgendwann wieder vorzuwerfen. Schließlich, selbst wenn es nicht so sein sollte, war der Krieg, der zwischen uns herrschte, immer im Vordergrund.

Um die Diskussion über dich zu vermeiden, legte ich mich zu ihm in seinen Arm und fing an, mich nicht mehr von meinem Handy abzuwenden, wobei ich entdeckte, dass sich dort eine neue Benachrichtigung von Instagram befand. „Noah möchte dir folgen", flüsterte ich fragend vor mich hin, womit ich schnell realisierte, wer Noah war. „Wer möchte dir folgen?", erwiderte er mit etwas lauterem Stimmenfall. „Noah, ich denke, er hat mich in Jackies Freundesliste gefunden", betonte ich. Darüber hinaus erwartete ich Widerworte, doch er beendete die Konversation mit einem stumpfen und monotonen „Okay".

Deine meerblauen Augen strahlten auf deinen Bildern wie im echten Leben. Dein Lächeln drückte das aus, was ich mir schon dachte, als ich dich das erste Mal sah. Genau! Du dachtest, du bekommst jede rum, was sich spätestens bestätigte, nachdem ich durch deine Followerliste swipte. Mädchen, um genau zu sein wirklich viele wunderschöne Mädchen. Während ich durch diese Liste voller Models swipte, merkte ich, dass ich da nicht reinpasse, zumindest dachte ich das. Sie waren hauptsächlich blond, blauäugig, hatten eine Stupsnase oder Sommersprossen, dazu schienen sie keinerlei Probleme mit ihrem Körper zu haben. Also eigentlich das genaue Gegenteil zu mir, weswegen mir in diesem Moment klar wurde, dass ich mir nicht zu große Hoffnungen machen sollte. Ja, ich wusste, wie das klang: „zu große Hoffnungen", obwohl ich doch bereits in einer Beziehung war. Aber im Laufe der nächsten Kapitel wird klar, warum zumindest mein Inneres sich nach etwas Neuem und Gesünderen sehnte.

Deine Highlights auf Instagram berichteten von einem Leben, das sich alle wünschten. Geld, viele Freunde, immer glücklich und voller Lebensenergie. Es schien, als hättest du das perfekte Leben. Andererseits wusste ich, dass es nicht so sein konnte und du nur versuchtest, ein Leben darzustellen, welches du gerne hättest, so wie wir es nun mal alle versuchten. Die altbekannte Flucht vor der Realität, der Versuch, nicht nur andere, sondern sich selbst davon zu überzeugen, ein lebenswertes und ereignisreiches Leben zu haben. Und genau deshalb weckte in mir der Gedanke, wer du wirklich außerhalb der sozialen Medien warst, mein Interesse. Ich nahm dich an, addete dich auf Snapchat, um dir entgegenzukommen und ebenso mehr über dich zu erfahren. Ob sich das als Fehler auswirken könnte? Ja, das fragte ich mich auch, aber Drama zog mich nun mal an, also warum es nicht einfach mal riskieren?

"15.06.2018 // 00:12 Uhr

Als Dorian nun spielerisch anfing, mir mein Handy zu klauen, während ich es mir mit viel Lachen zurückerkämpfen wollte, passierte das, was etwas zu oft passierte. Aus einer spielerischen Art wurde eine grobe Art. Obwohl ich ihm verdeutlichte, dass es mir weh tat, hörte er einfach nicht auf. Er sagte mir, dass ich mich nicht so anstellen sollte. Er hielt beide meine Hände fest, etwas zu fest, doch um locker zu lassen, war ich genauso zu stur. Immerhin wollte ich ihm nicht mehr Macht zusprechen, als er in diesem Moment sowieso schon besaß.

Ich löste mich aus seinem Griff, mit einem provokanten Spruch vermittelte ich ihm, dass ich allerdings stark genug sei. Daraufhin schlang er seine breite Hand um meinen Hals, drückte zu, wobei er mich fragte: „Wer ist wirklich stärker?" Am Treten und versuchend, ihn von mir herunterzubekommen, sprach ich weiterhin, dass ich die Stärkere sei, auch wenn das durch die wenige Luftzufuhr nicht gerade leicht war. Ich provozierte gerne in Momenten, in denen ich mich schwach und voller offensichtlicher Verletztheit befand. Das war mein Schutzschild, welches ich mir in jungen Jahren schon erbaute, denn auch in meiner Familie war es schon immer wichtig, ständig vorsichtig und bereit zur Abwehr zu sein.

Vielleicht war es aber auch einfach ein Versuch, zu verdrängen, dass ich es in diesen Momenten nie war – stark, stark genug, um den Krieg, der zwischen uns herrschte, zu gewinnen. Natürlich drückte er kraftvoller zu, so doll, dass ich so gut wie keinen Atem mehr übrig hatte, und mein Mund nur leise „Du bist stärker" äußerte, damit ich endlich wieder einen Luftzug nehmen konnte. Ich fühlte mich hilflos in solchen Situationen. Zudem verstand ich nie, warum er seine Stärke mir gegenüber ausnutzte. Schlussendlich war ich doch nicht sein Feind, oder?

Ich sagte nie etwas dazu. Trotzdem vergaß ich keinen Moment, in dem ich zu schwach war, es anzusprechen, um ihm das alles irgendwann mit vollem Mut entgegenwerfen zu können. Ich hoffte zumindest, dass ich es irgendwann einmal tat. Er war zwar körperlich stärker, ja, aber ich wusste, was seine psychischen Schwachstellen waren, die ich nutzen würde, wenn ich sie mal benötigen sollte.