Als Rosalie sich dem Sitzbereich im kaiserlichen Hauptgarten näherte, sah sie, dass die anderen jungen unverheirateten Adelsdamen bereits wartend auf ihren zugewiesenen Plätzen saßen und den Beginn der Vorstellung der Jagdtrophäen erwarteten.
Die Sitzordnung, die in der ersten Reihe positioniert war, umrahmte eine große leere Fläche, auf der die Männer ihre Jagdbuten stolz präsentieren würden, um mit ihren Erfolgen der Jagdreise anzugeben. Diese Veranstaltung gab ihnen die Gelegenheit, ihr Jagdgut einer Frau zu widmen, die sie verehrten oder liebten, um damit ihre Unterstützung und Loyalität zu bekunden. Eine Geste platonischer Zuneigung wurde durch einen Kuss auf den Handrücken der rechten Hand ausgedrückt, während Heiratsabsichten durch die linke Hand symbolisiert wurden. Demgemäß wurde erwartet, dass jede Dame in der ersten Reihe unverheiratet und im heiratsfähigen Alter war.
Es galt als enorme Schmach, nicht mindestens einmal ein gewidmetes Jagdgut zu erhalten.
Als Lady Ashter sich ihrem zugewiesenen Platz näherte, erhoben die anderen adligen Damen absichtlich ihre Stimmen, so als hätten sie ihre Ankunft nicht bemerkt.
"In diesem Jahr war die Jagd besonders ergiebig! Mein eigener Bruder hat es geschafft, ein paar schwer zu fangende Bergfüchse zu erlegen. Die Dame, die ihr Fell erhält, wird zweifellos den prächtigsten Wintermantel dieser Saison maßschneidern lassen."
Lady Estelle Viden warf einen schnellen Blick zu Lady Filmore und zwinkerte ihr spielerisch zu, als würde sie andeuten, dass sie die glückliche Dame sein könnte, von der sie sprach, woraufhin Anastasia Filmore daraufhin errötete.
Lady Viden fuhr fort: "Wie dem auch sei. Es scheint, dass die arme Lady Rosalie auch in diesem Jahr leer ausgehen wird. Ihr Bruder, der junge Lord Raphael, muss wirklich ein Herz aus Gold haben, immer darauf zu achten, dass die Ehre seiner Schwester nicht befleckt wird und sie nie ohne Geschenk bleibt."
Dann richtete sie ihren Blick auf Rosalie, die sich von den spitzen Bemerkungen nicht beeindrucken ließ und ruhig ihr leicht zerzaustes Haar und Kleid richtete. Lady Estelle, verunsichert durch die ausbleibende Reaktion, zog ihre dünnen, roten Augenbrauen zusammen und erhob noch lauter ihre Stimme.
"Jahr für Jahr... Der einzige, der ihr etwas von seiner Beute schenkt, ist ihr eigener Bruder. Das muss wirklich demütigend sein!"
'Was für eine böse Zunge... Wie ärgerlich.'
Rosalie ließ diesen Gedanken für einen Bruchteil einer Sekunde zu, schloss dann die Augen, ignorierte weiterhin das gezwungene, unwürdige Gerede und nippte gelassen an ihrem Glas Wein.
"Aber ... Großherzog Damien Dio nimmt dieses Jahr am Bankett teil."
Die unerwartete Erwähnung dieses Namens ließ Lady Ashter für einen Moment innehalten und ihre Aufmerksamkeit schärfen. Vielleicht würde dieses bedeutungslose Gespräch nun endlich eine spannende Wendung nehmen.
Lady Filmore stieß einen kurzen Atemstoß aus und schlug dramatisch ihre Hände zusammen.
"Er ist es normalerweise, der die größte Beute erlegt! Selbst Seine königliche Hoheit, der Kronprinz, kann sich nicht mit ihm messen. Ich frage mich, welcher Dame er seine Beute widmen wird?"
"Was denkt Ihr, Lady Anastasia? Es liegt doch auf der Hand, dass er dieses Jahr wegen Prinzessin Angelika am Bankett teilnimmt! Ich habe gehört, sie ist endlich aus dem Tempel zurückgekehrt!"
Lady Melania Blanche tippte Lady Filmore mit ihrem gefalteten, bunten Fächer auf die Schulter und schüttelte missbilligend ihren Kopf.
Als Rosalie den Namen "Angelika" hörte, erinnerte sie sich daran, dass Prinzessin Angelika Rische im Roman die einzige Tochter des Kaisers war. Sie wurde als ein empfindliches und schwaches Kind beschrieben, da sie eine Frühgeburt war und die meisten Tage ihres Lebens in den Palastmauern unter der Aufsicht von Ärzten und Krankenschwestern verbracht hatte oder für lange Behandlungen in den Tempel geschickt worden war.
Was von größerer Bedeutung war, ist, dass Prinzessin Angelika und Rosalie Ashter in ihrer Kindheit enge Freundinnen gewesen waren und viel Zeit miteinander verbracht hatten, bevor Angelika vorzeitig in den Tempel geschickt wurde.Lady Ashter richtete ihre grauen Augen auf den Platz, an dem die kaiserliche Familie saß, und erschrak fast vor Verblüffung - Ihre Hoheit Prinzessin Angelica war tatsächlich zurückgekehrt.
Als sich ihre Blicke trafen, erkannte Prinzessin Angelica sofort ihre entfremdete Freundin Rosalie, zwinkerte ihr aufmunternd zu und winkte ihr herzlich mit der Hand, begleitet von einem sanften Lächeln, das ihr blasses, leicht eingefallenes Gesicht erhellte.
Selbst aus einiger Entfernung konnte das Mädchen nicht umhin, zuzugeben, dass die Prinzessin trotz ihrer schwachen Statur eine Schönheit besaß, die einer Königin würdig war - langes blondes Haar floss wie ein goldener Wasserfall über ihren Rücken und schimmerte leicht silbern, als die sanften Sonnenstrahlen ihre voluminösen Locken streichelten. Ihre großen, azurblauen Augen erinnerten an die ruhige Weite eines morgendlichen Meeres, während ihre langen, fast weißen Wimpern an dünne Wölkchen an einem klaren blauen Himmel erinnerten.
Jedes Mal, wenn sich Angelicas schlanke, sorgfältig geformte Lippen zu einem Lächeln verzogen, schien es, als würde die Atmosphäre um sie herum von einer Unzahl funkelnder Sterne erhellt. Ihre bloße Anwesenheit hatte eine solche Bedeutung, die der eines Himmelskörpers glich.
***
Nach den vom Kronprinzen selbst aufgestellten Regeln richtete sich die Reihenfolge, in der die Männer ihre Jagdbeute präsentierten, nach der Größe der Beute, die sie erlegt hatten. Folglich präsentierte derjenige als Erster, der die kleinste Beute erlegt hatte, was darin gipfelte, dass Prinz Loyd Rische seine eigenen Errungenschaften von der Reise präsentierte und Raphael Ashter stets der vorletzte Präsentator war.
Doch so großartig die Veranstaltung auch sein mochte, Rosalie fand sie dennoch miserabel.
Die edlen Herren traten in ihren besten Gewändern auf und präsentierten die Früchte ihres Könnens und ihrer Fähigkeiten. Mit Schwung präsentierten sie ihre Beute - eine bunte Mischung aus Federn, Geweihen, Reißzähnen und magischen Fellen. Jede Trophäe zeugte von Geduld, Geschicklichkeit und Präzision.
Die edlen Damen verfolgten diese "Show" mit Spannung, ihre Augen leuchteten vor Bewunderung und Neugier. Es war eine Darbietung sowohl der Gaben der Natur als auch des Mutes der Adligen, die Abenteuergeschichten erzählten und ihre Fähigkeit unter Beweis stellten, ihre geliebten Gefährten zu versorgen und zu schützen.
Als die Zahl der präsentierten Beute immer größer wurde, war es endlich an der Zeit, dass Raphael Ashter seine Beute präsentierte, doch zum Erstaunen aller wurde statt seines Namens "Großherzog Damien Dio" ausgerufen.
Alle Augen waren nun auf Damien gerichtet. Es war offensichtlich, dass niemand damit gerechnet hatte, dass er vor Raphael Ashter erscheinen würde, da Damiens Beute oft sogar die des Kronprinzen übertraf. Der Anblick von fast drei Dutzend Rittern, die ihm beim Tragen der von ihm erlegten magischen Bestien halfen, machte unmissverständlich klar, dass Damien Dio der unbestreitbare Sieger der diesjährigen Jagdreise war.
"Gütiger Himmel! Er hat den Leichnam des Heiligen Berg-Wofl mitgebracht!"
Rosalie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie die Worte von Lady Viden hörte. Der Heilige Bergwolf galt als eine der seltensten und schwierigsten Kreaturen, die man fangen, geschweige denn erlegen konnte. Er wurde nicht nur für seine außergewöhnliche Stärke und Ausdauer geschätzt, sondern auch für sein glänzendes graues Fell, ein Luxus, den sich selbst die reichsten Adligen nur mit Mühe leisten konnten.
Lady Ashter betrachtete den toten Körper des Heiligen Bergwolfs, der neben den Füßen des Herzogs lag, und konnte nicht umhin, ein auffallend schönes Detail zu bemerken - das Fell des Tieres hatte denselben tiefen Grauton wie Rosalies Augen.
Während die Menge von der Würdigkeit von Damiens Beute fasziniert war, bemerkten sie nicht, dass er sich nicht auf den Sitz der Prinzessin zubewegte, sondern auf die edlen Damen in der ersten Reihe auf der gegenüberliegenden Seite.
'Unmöglich... Warum kommt er hierher?'
Rosalie beobachtete die langsamen, aber entschlossenen Schritte des Herzogs in Richtung ihres Platzes, seinen scharfen goldenen Blick fest auf ihr errötendes Gesicht gerichtet, und schließlich hielten seine selbstbewussten Schritte an, als er sich Lady Ashters Platz näherte. Mit Eleganz streckte er seinen Arm aus und lud das aufgeregte Mädchen ein, ihre Hand in seine zu legen. Doch gerade als sie ihre rechte Hand anbieten wollte, ergriff der Herzog rasch ihre linke Hand und drückte zärtlich seine warmen Lippen auf ihre weiche Haut, während seine Augen noch immer von Rosalies verwirrtem Blick gefesselt waren.
Ermutigt durch das laute Keuchen, das von den Lippen der Schaulustigen ausging, löste Damien seine Lippen von Lady Ashters Haut und sagte mit leiser Entschlossenheit in der Stimme,
"Lady Rosalie Ashter... Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, meine Jagdbeute anzunehmen?"