Ohne weiter nachzudenken, sprang sie vom Bett herunter. Sie hatte keine Ahnung, warum sie das vergessen hatte, doch sie trug stets einen dünnen Dolch in ihrem Stiefel. Da sie bereits Gewalt angewandt hatte, konnte sie genauso gut damit fortfahren. Schnell, die Augen immer noch auf den Mann gerichtet, zog sie ihren Dolch heraus und nun erkannte sie plötzlich, warum ihr Gehirn völlig vergessen hatte, dass sie einen Dolch besaß.
Dieses Ding war nichts im Vergleich zu diesem Mann! Es war wie eine Gabel! Was sollte sie damit machen? Ein Brot schneiden? Doch sie hatte kaum eine andere Wahl. Sie war bereit, diesen unvernünftigen Menschen herauszufordern.
"Du kleine Hexe!" Seine Worte waren hart und tief und spiegelten angemessen seinen Zorn wider. "Ich dachte, Elfen seien sanftmütig und würdevoll! Du wirkst aber eher wie ein tollwütiger Hund."
"Ich bin ein Elf!", entgegnete sie. "Und ich bin immer so würdevoll, wie es nur geht! Aber Sie, mein lieber Herr, sind weit davon entfernt. Sie wissen offensichtlich nicht, was das Wort bedeutet. Wie können Sie wissen, was Würde bedeutet, wenn in Ihnen dieses schmutzige Drachenblut fließt? Sie versuchen, mein reines, sauberes, gesegnetes Blut und meinen Körper mit Ihrem verfluchten, ekelhaften, verunreinigten, unzüchtigen, schmutzigen Drachenblut zu beflecken! Ich schwöre bei allem Heiligen und Unheiligen, dass ich Sie beißen werde! Und ich werde Schlimmeres tun, wenn Sie versuchen, mich erneut zu berühren."
Er sagte nichts. Ihre Brust hob und senkte sich wie die eines wilden Tieres. Im Dunkeln konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Das Kerzenlicht war erloschen und das Feuer im Kamin war auch ausgegangen. Abgesehen von den kleinen Reflexionen, die vom offenen Fenster kamen, befanden sie sich jetzt in völliger Dunkelheit.
"Lassen Sie mich einfach gehen", sie wollte es wie eine Bitte klingen lassen, aber nicht wie ein Flehen. Sie senkte ihre Stimme, doch ihre Hand blieb erhoben mit dem Dolch.
"Ich verspreche, dass ich der Prinzessin oder sonst jemandem nichts davon erzählen werde. Niemand muss es erfahren. Süße Göttin! Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind. Ich kenne Ihren Namen nicht und vielleicht werde ich Ihr Gesicht morgen beim Aufwachen nicht einmal mehr erkennen." Das war eine Lüge. Neriah wusste genau, dass sie diesen Mann nicht so schnell vergessen würde. Sie würde sich wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens an ihn erinnern. Wie könnte sie das Gesicht des Mannes vergessen, der sie in nur einer Nacht auf verschiedene Weisen berührt hatte? Wie könnte sie die Stimme des Mannes vergessen, die ihr süße Schauer über den Rücken jagte?
Oh süße Herren! Sie würde ihn niemals vergessen. Weder sein Gesicht, noch seine Lippen, seinen Kuss, noch seine Berührung. Sie würde es nie vergessen. Und sie würde ganz sicher niemals die Leidenschaft vergessen, die er in ihr wecken konnte. Oh Herren! Dieser Fremde ist wirklich etwas Besonderes.
"Ich werde überhaupt nichts über Sie sagen. Ich werde der Prinzessin sagen, dass ich Prinz Barak nicht im Schloss finden konnte, dass er aus irgendeinem Grund fortgegangen ist. Lassen Sie mich einfach gehen. Sie wollen mich doch nicht wirklich berühren."
Es herrschte erneut einen Moment lang Stille zwischen ihnen beiden. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das leise Knistern des verbrannten Holzes, das versuchte, wieder Feuer zu entfachen, und das schwere Atmen der beiden. Vor allem das von Neriah, denn es schien, als kämpfe sie mit einem Stier."Du irrst dich", sagt er plötzlich, "ich begehre dich wirklich." Er gibt es zu. Und Neriah holt flehend nach Luft. Der Mann ist außer sich. Schritt für Schritt nähert er sich ihr, obwohl sie noch immer ihren Dolch in der Hand hält.
"Tatsächlich", es scheint, als würde er flüstern, doch Neriah ist sich nicht sicher, ob er es wirklich tut. Sicher ist sie sich jedoch darin, dass er schnell sein kann - unglaublich schnell. Denn plötzlich steht er direkt vor ihr und ihr Dolch ist nicht mehr in ihrer Hand. Jetzt ist sie ihm ausgeliefert, in seinen Armen, während seine Finger ihr Gesicht entlangfahren, über ihre Lippen, die von seinem furchteinflößenden Kuss geschwollen sind. Er blickt auf sie hinab und bei den Göttern, wie sie es hasst, sich so zu fühlen. Wie ein hilfloses, unerfahrenes Mädchen in Erwartung seines Kusses.
"Ich habe nie jemanden oder etwas so sehr begehrt, wie ich dich heute Nacht begehre", und seine Lippen finden erneut die ihren.
Oh, wie er es schafft, dass sie den Verstand verliert, dass sie ihre Vernunft verliert. Wie sein Kuss sie vergessen lässt, wer sie wirklich ist und wer er ist. Wie seine Hand ihren Nacken kitzelt, während er sie festhält, und sie schwach und verwundbar macht. Oh Götter, wie er befiehlt und zwingt, nötigt und überredet. Noch nie hat sie jemanden wie ihn gekannt.
Doch plötzlich lässt er von ihr ab. "Das sollst du wissen", sagt er und blickt ihr tief in die Augen. "Ich begehre dich wirklich. Ich bin mir sicher, du weißt, dass es für jeden Mann schwer wäre, dir zu widerstehen. Doch ich werde jetzt aufhören, dich zu berühren." Kaum ausgesprochen, sind seine Hände nicht mehr an ihrem Körper und er steht schon zwei Schritte entfernt.
Neriahs Augen weiten sich. War das schon alles? Musste sie nur aufrichtig verhandeln - oder so ähnlich?
Ihre Mutter hatte ihr immer erzählt, dass Worte weit tragen können, und dass ein Krieg führender Staat manchmal nur das S aus dem Schwert entfernen muss, um die Welt zu einem friedvollen Ort zu machen. Meinte ihre Mutter etwa das?
"Willst du mich verlassen?", fragt sie. Vielleicht ist es eine dumme Frage, vielleicht hätte sie einfach zur Tür hinausrennen sollen, als er es ihr sagte, aber dennoch stellt sie die Frage und wartet auf eine Antwort.
"Wärst du lieber mit mir zusammen?"