Arwen fühlte sich am ganzen Körper taub. Lag es am Schmerz, der ihren ganzen Körper peinigte, oder war es er? Sie konnte es nicht sagen. Doch eines wusste sie gewiss: Er hatte sie heute im Stich gelassen.
Sie hatte keine Ahnung, wer im anderen Auto war. Es war mit ihrem kollidiert und vielleicht litt der andere genauso sehr wie sie, oder noch mehr. Aber hätte er nicht zuerst zu ihr kommen sollen? Sie zuallererst retten sollen? Sie war schließlich nicht irgendjemand, sondern seine Verlobte, die Frau, der er sich versprochen hatte.
Wie konnte jemand anderes wichtiger für ihn sein als sie? Oder hatte er sie vielleicht gar nicht gesehen?
Ja, das war vielleicht möglich. Schließlich konnte sie ihn nicht anrufen und vom Unfall berichten.
"Ryan! Ich bin auch hier. Ryan!"
Mit diesem Gedanken versuchte sie, ihn zu rufen, um ihm ihre Anwesenheit - ihre Lage - mitzuteilen. Doch egal, wie sehr sie auch rief, ihre Stimme war lediglich ein Murmeln. Sie hatte weder die Energie zu schreien, noch die Kraft, auszusteigen und zu ihm zu gehen. Doch tief in ihrem Inneren glaubte sie, dass er es wissen würde, so wie sie stets seine unausgesprochenen Wünsche und Signale verstand.
Aber in dem Augenblick, als sie die Frau erblickte, die er im Arm hielt, wusste sie, er würde nicht hinhören. Denn in der Nähe dieser Frau waren all seine Sinne ausgeschaltet. Sein Herz war nur auf sie fixiert, niemand anderes zählte mehr. Nicht einmal sie - seine Verlobte.
Delyth Embers – die Herzensdame von Ryan Foster. Würde Delyth verletzt sein, wie konnte er sie dann sterben sehen?
Ihr Lächeln wurde spöttisch. All die Zeit hatte sie versucht, seine Ignoranz zu rechtfertigen, sich selbst einzureden, dass er sie retten wollte... dass er vielleicht nicht zu ihr gekommen war, weil er sie nicht gesehen hatte.
Doch in Wahrheit belog sie sich selbst nur erneut, um etwas Unmögliches zu glauben. Wie hingebungsvoll sie doch war, nicht wahr?
Aber was hatte ihr diese Hingabe eingebracht?
Seine Vernachlässigung. Seine Empathielosigkeit.
"Heh", spottete sie sarkastisch, bevor sie das Blut ausspuckte, das sie die ganze Zeit unterdrückt hatte. 'Arwen, öffne die Augen und sieh klar. Du hast dich und deine Jugend an jemanden verschwendet, der es kaum verdient hat. Er hat dich nicht einmal geliebt, obwohl du ihm blind gefolgt bist. Hast du wirklich geglaubt, er würde sich umdrehen und dich sehen – sich in dich verlieben?'
Das war unmöglich.
Gerade als sie sich selbst für ihre Naivität tadeln wollte, sah sie, wie er sich vom Unfallwagen entfernte. Seine Schritte stockten jedoch, als hätte er etwas – oder jemanden – bemerkt.
Arwens Blick war verschwommen, aber sie sah, wie er sich umdrehte und in ihre Richtung blickte. Ihren Gesichtsausdruck konnte sie nicht erkennen, weil ihre Sicht trüb war. Doch jetzt wusste sie, dass er von ihrer Anwesenheit wusste.
Da er in ihre Richtung sah, wusste er, dass sie dort war, eingeklemmt und im Sterben lag. Aber was ihr Angst machte, war seine mögliche Reaktion auf ihre Situation. Würde es ihm genug bedeuten, um sie zu retten?
Er sollte, denn immerhin war sie seine Verlobte und Kindheitsliebe. Doch sicher konnte sie sich nicht sein. Schließlich wusste sie, wen er im Arm hielt. Mit jener Frau an seiner Seite würde sie keine Bedeutung haben. Selbst im Todeskampf könnte es ihm gleichgültig sein.
Und genau das, wovor sie Angst hatte, trat ein. Er drehte sich um und ging fort, ohne zu zögern. Als wäre sie für ihn nur dünne Luft. Er hatte sie nicht gesehen.Wenn er sich nicht umgedreht hätte, um nach ihr zu sehen, hätte sie sich vielleicht eingeredet, es zu glauben. Aber auch wenn sie naiv war, so blind konnte sie nicht sein, dass sie nicht erkannte, dass er sie einfach zum Sterben zurückließ.
Vielleicht war es genau das. Vielleicht war das alles.
Das war alles, was sie brauchte, um zu erkennen, wie sinnlos ihr Leben gewesen war. Wie vergeblich ihre Anstrengungen und Opfer waren, denn ihm war nie etwas davon wichtig. Alles, was zählte, war die Frau in seinen Armen.
Als die Erkenntnis in ihrem Herzen klarer wurde, fühlte sie, wie sie in einen tiefen, dunklen Abgrund fiel, der das Ende von allem zu sein schien. Ja, es musste ihr Ende sein – ihr Tod.
Ihre Arme sanken kraftlos zu ihren Seiten, als sie den letzten Faden des Bewusstseins verlor, an dem sie sich festgeklammert hatte. Vielleicht hatte sie das verdient, weil sie ihrem Herzen so unvernünftig gefolgt war.
Sie wusste nicht, wie lange sie in dieser tiefen Finsternis gefangen war, aber da kein Hoffnungsschimmer vorhanden war, hatte sie bereits aufgegeben. Doch dann rüttelte etwas sie in den Flammen der Dunkelheit. Es fühlte sich an, als ob jemand sie in seine Arme nahm, ihren kalten Körper fest an sich zog und versuchte, sie mit seiner natürlichen Wärme zu beleben und wachzurütteln.
Arwen versuchte, ihre Augen zu öffnen, um zu sehen, wer es war, aber sie konnten sich einfach nicht heben. Sie hatte nicht die Kraft dazu.
"Du darfst nicht so sterben. Öffne deine Augen, Arwen. Los, öffne sie."
Die Stimme war unklar, doch sie konnte das ernsthafte Flehen darin hören. Es war auch ein Hauch von Zorn zu spüren, aber sie war sich nicht sicher, gegen wen er sich richtete.
Wer war er? Und warum war es ihm so ernst, sie zu retten?
Sie versuchte, es herauszufinden, aber egal wie sehr sie sich anstrengte, sie konnte seine Stimme niemandem in ihrer Erinnerung zuordnen.
Aber er kannte ihren Namen, was bedeutete, dass er sie auch kennen musste.
Wie hatte er sie gefunden?
Es gab so viele Fragen über ihn. Doch sie hatte keine Antworten. Und war nicht in der Verfassung, sie zu finden.
Könnte er Ryan sein?
"Arwen, hörst du mich? Steh auf. Schlaf nicht ein und wage es nicht, zu sterben."
Sie hörte seinen Ruf erneut und spürte, wie seine Arme sie fester umschlossen. Da spürte sie die Angst in seiner Stimme – die Angst, die er hinter seinem drängenden, einschüchternden Ton zu verbergen versuchte.
Sie wusste nicht, wer er war. Aber wer auch immer er war, er hatte Angst, sie zu verlieren.