Harrisons Sichtweise
Peters Abgang hatte mir für die Nacht sämtliche Energie geraubt. Der Alkohol im Whiskey verwischte meine Sicht. Gedankenverloren fiel ich schwer auf die Couch und lehnte mich zurück, starrte zur Decke hinauf, wo die Sterne mal strahlend hell, mal schwach leuchteten, während ich langsam in meinen Erinnerungen versank...
Auf meinem Weg, ein Alpha zu werden, durchlebte ich mehr Prüfungen und Leid als die meisten. Mein Pfad war härter als jeder andere. Ich wurde im berühmten Dunkelnacht-Rudel geboren, mein Vater war der Alpha. Eine leuchtende Zukunft war mir vorherbestimmt, doch die Mondgöttin schien Freude daran zu finden, mir Streiche zu spielen.
Als ich acht Jahre alt war, traf meinen Vater ein unzeitiger Tod. Die loyalen Krieger unter seinem Kommando wurden von Rebellen niedergemetzelt, und niemand wollte einem Jungen wie mir helfen, den Thron zu besteigen. Schutzlos streiften meine Mutter und ich umher, den verächtlichen Blicken ausgeliefert. Jene, die einst von der Gunst meines Vaters profitiert hatten, verschlossen uns ihre Türen, manche wiesen uns gar ab.
Zum Glück war der Ältestenrat des Rudels präsent. Mit ihrer Hilfe wurden die Rebellen vertrieben. Der Ältestenrat erklärte jedoch, dass der Posten des Alphas im Dunkelnacht-Rudel vakant bliebe. Der Rat sollte über alle Angelegenheiten des Rudels wachen, bis ich das entsprechende Alter erreicht hätte und die Alphaprüfung erfolgreich absolviert hätte.
Das Erwachsenenalter war nur eine Frage der Zeit, aber die Alphaprüfung zu bestehen, war alles andere als einfach. Ein Teil dieser Prüfung war es, meine Gefährtin zu finden, und dann durfte ich in den dunklen Wald ziehen, um meine Macht zu beweisen und die Prüfung zu bestehen. Aber die Mondgöttin hörte nicht auf, mich zu verspotten. Mit 18 gelang es mir zwar, die Verbindung zu meinem Wolf herzustellen, doch ich konnte den Duft keiner Wölfin wahrnehmen, nicht die kleinste Spur.
Ich war nicht fehlerhaft. Mein Wolf war stark, ich war nahezu einwandfrei, abgesehen von meiner Unfähigkeit, den Duft einer Wölfin aufzunehmen.
Das war mein Untergang. Es bedeutete, ich konnte meine Gefährtin nicht finden.
Das war nicht normal. Ich vermutete, jemand hatte mich heimlich vergiftet, um mich um mein Erbe als Alpha zu bringen.
Doch ich gab nicht klein bei, und so kämpfte ich im Alter von 18 Jahren mit zusammengebissenen Zähnen. Ich konnte auf eine Gefährtin verzichten. Es war nicht so wichtig. Ich würde der größte Alpha werden, alles zurückerlangen, was ich verloren hatte.
So gab ich den Gedanken, eine Gefährtin zu finden, ganz auf. Der Kontakt zu Frauen sagte mir ohnehin nicht zu, und nun konnte ich mich voll und ganz auf Wichtigeres konzentrieren. Für mich bedeuteten Frauen nur Ärger. Liebe ist die Schwäche eines starken Mannes. Ich brauchte keine Liebe und wollte keine Schwachstelle sein.
Immer mehr Frauen mieden mich wegen meiner Haltung, genauso, wie ich es wollte. Doch dann platzte Kayla Reeves, ein 18-jähriges Mädchen, in mein Leben.
Ich erinnere mich, es war ein Herbstnachmittag. Ich wurde eingeladen, als Abschlussredner an meiner Highschool zu sprechen. Bevor die Rede begann, saß ich im Loungebereich, die Augen halb geschlossen und genoss einen seltenen Moment der Ruhe.
"Ist da jemand? Oh, du bist es!" Ein Mädchen betrat den Pausenraum.
Ich erinnere mich noch genau an ihr Aussehen an jenem Tag. Sie trug ein entzückendes Kleid, das an eine Barbiepuppe erinnerte, ihre Wangen rosa gefärbt und ein Hauch von Babyspeck noch sichtbar. Sie eilte auf mich zu und rief aus: "Ich bin Kayla, und du bist mein Gefährte."
Auf ein solch kühnes Bekenntnis antwortete ich mit einem kühlen, spöttischen Lächeln und fragte mich, welchen Duft sie wahrgenommen hatte.
Dieses naive und törichte Mädchen behauptete tatsächlich: "Den Geruch von Gänseblümchen. Ich habe deinen Duft eingefangen. Du bist mein Gefährte! Ab heute bin ich deine Freundin!"
Das war völlig absurd.
Ich wies sie sofort zurück.
"Meine Gute, Sie übersehen zwei Dinge. Erstens: Ich habe keine Gefährtin. Zweitens: Ich benötige keine Gefährtin. Verstehen Sie?"
Aber Kayla ignorierte meine Ablehnung. Ihre Augen glänzten weiterhin, und vor Aufregung schlang sie ihre Arme um mich und vergrub ihren Kopf in meiner Brust.
"Mir ist egal, wie du reagierst, denn du bist mein Gefährte. Wir sind füreinander bestimmt."
Erst als ein Geräusch von draußen meine Aufmerksamkeit erregte, wurde mir klar, dass das Mikrofon im Aufenthaltsraum nicht ausgeschaltet war. Kaylas Geständnis war auf dem gesamten Campus zu hören.Aber in diesem Moment waren meine Gedanken nicht vom wachsenden Trubel draußen beansprucht, sondern von der Empfindung ihrer vollen Brüste, die sich gegen meinen Körper drückten.
Es fühlte sich wie ein elektrischer Schock an, der zugleich kitzelte und betäubte. Das ist Folter für mich!
Ich hatte keine Ahnung, woher Kayla ihren Mut schöpfte. Ich konnte keinen Geruch einer Wölfin wahrnehmen, was es mir unmöglich machte, ihre Worte zu bestätigen. Dennoch verkündete Kayla von diesem Tag an kühn vor allen, dass ich ihr Freund sei. Sie schwirrte um mich herum wie ein begeisterter Schmetterling. Selbst Peter konnte nicht umhin zu bemerken, dass er noch nie eine so überschwängliche junge Wölfin gesehen hatte.
Meine Gefühle genau zu beschreiben, ist schwierig. Von Anfang an empfand ich sie als störend. Doch in ihrer Abwesenheit fühlte ich eine Leere, als ob ein Stück von mir fehlte und ich orientierungslos war.
Schließlich gab ich mich der Vorstellung hin, dass Kayla und ich ein Paar sein könnten.
Angesichts meiner Unfähigkeit, ihre Worte zu überprüfen, warum sollte ich nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie wahr sein könnten?
Wenn sie tatsächlich meine Gefährtin wäre, könnten viele meiner Probleme gelöst werden. Ich könnte schnell heiraten, die Alpha-Prüfung durchlaufen und die Führung meines Rudels übernehmen.
Alles verlief reibungslos. Ich gewöhnte mich an ihre Anwesenheit und unsere Gefühle vertieften sich. Gerade als ich dachte, das Glück sei zum Greifen nah, verschwand Kayla über Nacht.
Ich werde sie anrufen.
Ich kontaktierte sie auf all ihren sozialen Netzwerken.
Ich fragte alle ihre Freunde.
Ich ging zu ihrem Rudel, um sie zu suchen.
Ich war überall, wo sie sein könnte.
Sie hinterließ keine Nachricht. Sie verschwand einfach wie eine Seifenblase.
...
Ich hatte längst vergessen, wie rücksichtslos ich mich auf die Suche nach ihr gemacht hatte.
Ich erinnere mich nur noch an eine Nacht mit strömendem Regen, als mein Versuch, Kayla zu finden, wieder einmal scheiterte. Bei meiner Rückkehr begegneten mir viele feindselige Blicke. Sie sagten mir, dass die Alpha-Prüfung beendet sei und ich sie nicht bestanden hätte. Ich hatte mich nicht als Alpha qualifiziert.
Was tat ich in diesem Moment?
Ich starrte auf den Kristalllüster an der Decke und versuchte, mich an die Szene aus jener stürmischen Nacht zu erinnern.
Oh, jetzt erinnere ich mich —
Mit blitzartiger Schnelligkeit und Stärke tötete ich den Anführer des Ältestenrats.
Danach stand ich im strömenden Regen, den alten Schädel in der Hand, und verkündete meine erste Erklärung.
"Von diesem Moment an bin ich euer Alpha. Ein wahrer Alpha bedarf keiner Bestätigung von irgendjemandem."