Mallory wollte weder einem Fremden in sein Haus folgen, noch für ein Wesen arbeiten, das eigentlich tot war. Sie war sich zwar bewusst, dass ihre aktuelle Situation besser war als die, in der sie noch vor einigen Stunden fast gewesen wäre, aber das bedeutete nicht, dass es wirklich gut war. Wer bei klarem Verstand würde sich darauf einlassen, der Diener einer Person zu sein, die gerade erst aus ihrem Sarg gestiegen war? Sie mit Sicherheit nicht!
Doch nun stand Mallory da, vor der Taverne, neben dem Mann, der behauptete, ihr Arbeitgeber zu sein.
Widerstrebend zu handeln, fiel ihr schwer, besonders nachdem sie ihn Menschen töten sah. Und dann war da noch die Vorstellung, das Amulett, das sie trug, wäre mit ihm verbunden. Vielleicht sollte sie es jemandem andergeben, der begierig auf eine Beförderung aus war. Oder wäre es in diesem Fall eine Degradierung?
"Es scheint, wir benötigen ein Transportmittel. Du kannst mich wohl kaum tragen", sinnierte Hadeon und musterte sie, bevor er einen prüfenden Blick auf die leere Straße warf.
Sie würde ihn zurück zum Reavermoure-Friedhof tragen wollen! dachte Mallory, bevor sie fragte: „Du hast eine Kutsche...?" Wahrscheinlich war das der Grund, warum er ihr zuerst in der Taverne zuvorgekommen war. Aber nirgends war eine zu sehen. "Wie lange hast du geschlafen?" Er kannte weder ihre Großmutter noch die Großmutter ihrer Großmutter. Das war wirklich lange...
"Ein paar Jahre", antwortete Hadeon vage und pfiff dann.
Mallory, die einen Schritt hinter ihm stand, betrachtete seine blasse, glatte Haut und sein glänzendes, dunkles Haar. Vorsichtig fragte sie ihn: "Wie kannst du so jung aussehen? Ich meine, du wirkst überhaupt nicht alt." Es war unmöglich, so lange im Sarg zu liegen und eine solche Haut zu bewahren.
Hadeon drehte sich ihr zu, blickte ihr in die Augen und erwiderte: "Das ist das Ergebnis guter Haut- und Haarpflege. Etwas, was du vielleicht auch anfangen solltest. Ich sehe schon Sorgenfalten", sagte er und deutete auf ihre Stirn. „Du willst sicher nicht, dass dein Geist das im Jenseits mit sich herumträgt. Mach dir keine Sorgen, auf dem Anwesen gibt es genug Aloe Vera."
Mallory hätte ihm am liebsten eins übergezogen, und ihre Hände ballten sich sogar zu Fäusten. Dann grummelte jedoch ihr Magen wegen des fehlenden Essens.
"Klingt, als hätten wir einen Troll in der Nähe", bemerkte Hadeon locker. Er fragte dann: "Warum hast du nichts gegessen?"
Mallory starrte ihn an. Sie würde ja so gerne testen, ob man ihm im Schlaf ein Kissen übers Gesicht stülpen könnte. Der Gedanke daran war verführerisch, doch dann musste sie sich daran erinnern, dass man Tote nicht töten kann.
Sie bemerkte, wie er in den Himmel schaute, als eine Krähe angeflogen kam.
"Herr!", krächzte die Krähe, während sie mit ihren Flügeln wild schlug, um sich in der Luft zu halten.
Mallorys Kinnlade klappte herunter. Sprechende Krähen konnte sie kaum glauben!
"Wo bleibt die Kutsche, Cawlin?" Hadeons Tonfall war trocken, sein Gesichtsausdruck ungerührt.
"Sie sollte bald eintreffen! Ich habe Barnby direkt Bescheid gegeben, aber es scheint, als hätte er Schwierigkeiten, die Pferde zu stehlen", antwortete die Krähe.
"Pferde stehlen?" Mallory runzelte die Stirn.
"Doch nicht etwa, dass du glaubst, nach so vielen Jahren wären die Pferde noch lebendig in meinen Ställen?" erkundigte Hadeon. "Ich hätte gedacht, deine Hände seien nicht so rein, wie du vorgibst", sagte er, während sich ein Lächeln auf seinen Lippen abzeichnete.
Mallory presste ihre Lippen aufeinander und wechselte das Thema: "Und wer lenkt dann die Kutsche? Eine andere Krähe?", fragte sie, unsicher, was sie noch von dieser Nacht zu erwarten hatte.
"Sei nicht albern. Jeder weiß, dass Krähen nicht das Feingefühl zum Kutschefahren haben. Sie kennen sich auch nicht mit Richtungen aus", entgegnete Hadeon kopfschüttelnd auf ihre Frage.
Es dauerte nicht lange, bis sie das unverkennbare Geräusch von Kutschenrädern vernahmen, das mit jedem Augenblick lauter wurde. Schließlich kam sie in Sicht.
Die Kutsche wirkte im Dunkeln fast schwarz, aber als sie an einem leuchtenden Laternenpfahl vorbeifuhr, konnte Mallory die glänzende, tiefe Lila- und Blaufärbung erkennen. Verschwungene, gewundene Eiserne Ranken zierten sie. Sie hatte schmale, lange Fenster und auf dem Dach waren feine, spitz zulaufende Türmchen. Die Räder schimmerten golden, und an der Front hing eine Laterne. Ein hagerer Mann, der Ende Dreißig zu sein schien, saß auf dem Kutschbock.
Die Kutsche ruckte zum Stehen, als die Zügel der vier Pferde gezogen wurden. Das Gesicht des Kutschers hellte sich auf bei der Sicht auf Hadeon, und er sprang von seinem Platz herunter und verneigte sich eilig.
"Entschuldigen Sie vielmals, mein Herr!", bat der Kutscher um Vergebung und fügte dann aufgeregt hinzu: "Willkommen zurück unter den Lebenden, Lord Hadeon!" Hatte sie den Namen richtig verstanden? fragte sich Mallory.Hadeon lächelte spöttisch. "Nun, schau dich an, Barnby. Noch nicht verwelkt und von Insekten zerfressen", seine Stimme triefte vor makabrem Amüsement. Seine Worte brachten den Kutscher zum Lächeln, was Mallory glaubte, dass es sich während der Hallowzeit als besonders passend erweisen würde.
"Danke, Mylord", sagte Barnby und fühlte sich geschmeichelt. Sein Blick fiel auf die Frau hinter seinem Herrn und sein Lächeln wurde schwächer. "Ist sie etwa die Mahlzeit?" fragte er.
"Wen nennst du hier Mahlzeit?", fauchte Mallory den Kutscher an. Erst Dienerin und jetzt Mahlzeit? Sie machte einen Schritt nach vorne, wollte zuschlagen. Doch sie spürte, wie Hadeon sie zurückhielt und ihr einen strengen Blick zuwarf, woraufhin sie sich hastig von ihm entfernte.
"Sie ist eine Serphantin", erwiderte Hadeon.
"Ich bin ein Mensch, keine Schlange", murmelte Mallory.
"Keine Schlange, sondern S.e.r.p.h.a.n.t. – das ist deine Abstammung", erklärte Hadeon und fügte hinzu: "Du bist langsam. Du musst dich beeilen. Hopp, hopp."
Barnby wirkte überrascht, als er die Frau anstarrte. Dann öffnete er schnell die Kutschentüren, bevor Hadeon einstieg und eine komfortable Position einnahm. Als er sah, dass Mallory zögerte einzusteigen, fragte Hadeon:
"Planst du etwa, mit Barnby auf dem Kutschbock zu fahren oder im Gepäckraum? Keine Sorge, ich werde nicht beißen." Ein verschmitztes Grinsen erschien auf seinen Lippen. "Zumindest noch nicht."
Mallory wägte ihre Optionen ab. Für die Nacht benötigte sie einen Unterschlupf und sie konnte sicherlich von der angebotenen Unterkunft profitieren. Zudem war sie erschöpft und benötigte eine Pause. Sobald sie wieder bei Kräften war, würde sie sich auf die Suche nach Hattie machen, um sich um ihre Sicherheit zu kümmern.
Sie sah, wie die Krähe namens Cawlin in die Richtung flog, von der sie annahm, dass sich dort das Haus dieser Person befand. Sie würde in der Kutsche mit einer Leiche fahren, denn es war unmöglich, dass ein lebender Mensch Jahre in einem Sarg verbringen konnte, der in der Erde vergraben lag.
"Was ist mit dem toten Mann? Die Leute werden seinen Körper dort finden", wies Mallory hin.
"Na und?", zog Hadeon seine Stimme in die Länge und kreuzte lässig die Beine, und Mallory versuchte, ihre Missbilligung zurückzuhalten.
"Du kannst ihn also nicht einfach dort liegen lassen", erklärte sie.
"Willst du mir etwa sagen, dass du ein Grab für ihn ausheben möchtest? Deine Leidenschaft für Gräber scheint ja ziemlich groß zu sein, hm", brummte Hadeon, seine Stimme samtig und weich in der leichten Dunkelheit der Kutsche.
"Ha ha, sehr witzig", kommentierte Mallory sarkastisch, bevor sie fortfuhr: "Ich habe ihn nicht getötet. Das warst du."
"Und es ist mir gleichgültig, ob die Leiche kalt auf dem Boden liegt. Ich beschere den Stadtbewohnern das Geschenk des Klatsches für den morgigen Morgen", erklärte Hadeon in einem gelassenen Ton, der Mallory zu einem ungläubigen Zwinkern veranlasste. Er zeigte nicht den geringsten Anflug von Reue für seine Tat! Sie sah, wie seine Miene sich verdunkelte, als er in drohendem Tonfall sagte: "Jetzt geh schon hinein, es sei denn, du möchtest ihm Gesellschaft leisten."
Bevor seine Geduld zu Ende ging, stieg Mallory in die Kutsche, und der Kutscher schloss die Tür hinter ihr. Ihr Herz raste, als die Räder der Kutsche sich in Bewegung setzten. Sie hatte so etwas noch nie zuvor getan, war aber auch noch nie in einer solchen Lage gewesen.
Während der Reise gab es Momente, in denen Mallory das Gefühl hatte, ständig von ihrem Arbeitgeber beobachtet zu werden. Doch sobald sich ihr Blick ihm zuwandte, sah sie, dass seine Augen geschlossen waren. Nachdem sie bereits Zeuge seiner Fähigkeiten geworden war, verkrampften sich ihre Hände in ihrem Schoß, und ein Gefühl der Unsicherheit legte sich über sie.
"Brauchst du etwas?", hörte sie seine Frage, als sie wieder zu ihm sah, dieses Mal jedoch trafen ihre Blicke auf seine goldenen Augen, deren Leuchten einem Raubtier im Wald glich. Sie gestand: "Ich hatte gedacht, du wärest jemand mit einem höheren Adelsstand."
Ein Glucksen entkam ihm. Er sinnierte: "Titel sind bloß menschliche Konstrukte, wenig mehr als schmückende Etiketten für die Lebenden. Mein Status", er hielt inne, "existiert in Sphären, die weit über solch weltliche Angelegenheiten hinausgehen."
Gott? Seine Gedanken waren ganz bestimmt nicht am richtigen Platz, dachte Mallory bei sich. Bei einer Erinnerung sagte sie: "Ich kenne deinen Namen nicht."
Daraufhin bemerkte das unsterbliche Wesen: "Mein Name ist Hadeon Van Doren, und für manche bin ich einfach als Hades bekannt. Für dich wird es Meister Hades sein."