Kapitel 2: Der Ort, wo alles begann
„Hallo Lori! Schau dich nur an. Du bist jetzt eine erwachsene Frau! Wie ich erwartet habe, bist du genauso hübsch wie deine Oma", sagte der Mann mit einem strahlenden Lächeln.
Lori war ihr Spitzname!
'Warte! Diese Stimme...'
Loreen betrachtete ihn genauer. Obwohl er gut gekleidet war und gepflegt aussah, waren viele seiner Haare ergraut und es gab hier und da Falten.
Sein Aussehen hatte sich im Lauf der Jahre aufgrund des Alterns stark verändert, aber er war definitiv jemand, den sie kannte. Er sah genauso freundlich und sanftmütig aus, wie in der Vergangenheit.
„Ich hab's gewusst! Onkel Chester, du bist es!", keuchte sie und hielt sich ungläubig den Mund zu, als sie ihn schließlich erkannte.
Onkel Chester war der beste Freund ihres verstorbenen Großvaters und schon seit ihrer Kindheit Seras Chauffeur.
„Wie geht es dir, Onkel? Ich habe über 10 Jahre nichts von dir gehört! Tut mir leid, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. Mein Kopf ist voll von anderen Dingen."
Loreen entschuldigte sich schnell. Onkel Chester war immer nett zu ihr gewesen und es war unhöflich von ihr, ihn nicht sofort zu erkennen.
„Macht nichts", lächelte Onkel Chester. „Wie dem auch sei, wir sollten los. Lass uns im Auto weiterplaudern. Die junge Dame wartet sicherlich schon auf dich."
Es freute Loreen sehr, ihren Onkel Chester nach so langer Zeit wiederzusehen.
Beim kurzen Austausch über seine Familie und ihren Aufenthalt in Australien erfuhr sie, dass all seine Kinder erfolgreich ihr Studium beendet hatten und bereits arbeiteten. Sie freute sich für ihn. Alle seine Kinder hatten auf seine klugen Ratschläge gehört und waren gut herangewachsen.
„Wie geht es Sera jetzt?", erkundigte sich Loreen, da Onkel Chester Seras letzte Jahre miterlebt hatte.
„Immer das Gleiche. Nichts hat sich geändert", seufzte Onkel Chester tief und Loreen erstarrte bei dem hilflosen Ausdruck in seinem Gesicht.
'Nichts hat sich verändert?!' Plötzlich beschlich sie ein ungutes Gefühl bezüglich ihres Treffens. Vielleicht sollte sie umkehren, bevor sie am Treffpunkt ankamen.
Die Erinnerungen an Seras früheres Verhalten kamen in Loreen hoch.
'Ich hätte nicht zustimmen dürfen, sie zu treffen. Ich dachte, sie hätte sich über die Jahre verändert, daher wollte ich sie sehen. Doch wenn das nicht stimmt, was wird dann passieren?'
Loreens Gesicht wurde leer. Sie fühlte sich erneut verraten.
Sie musste vorsichtig sein, denn Sera besaß einige Eigenschaften, die dazu geführt hatten, dass sie sich lange Zeit voneinander entfremdet hatten.
Sera war nicht ihre Kindheitsfreundin, sondern ihre einstige Peinigerin.
Da sie nun beide erwachsen waren, dachte Loreen, Sera müsste sich verändert haben, sonst hätte sie sie schließlich nicht kontaktiert.
'Was soll ich tun?'
Aber ein Rückzug kam für Loreen nicht in Frage. Falls ihre ehemaligen Mitschülerinnen hinzukämen, könnte Sera sie als Feigling oder unzuverlässig darstellen, wenn sie nicht erschien.
Außerdem waren mehr als zehn Jahre vergangen. Wer weiß, vielleicht hatte sich Sera doch etwas geändert und Onkel Chester hatte es bloß nicht bemerkt.
Onkel Chester bemerkte die Veränderung in ihrer Ausstrahlung, konnte jedoch nicht fragen, denn sie waren bereits angekommen.
Sie hielten vor dem exklusivsten 5-Sterne-Hotel der Stadt, dem Exclusive, bekannt für seine besondere Bar für wohlhabende Menschen.
Loreen hatte sich zuvor kaum um dessen Existenz gekümmert, da sie mit ihrer Arbeit und dem Studium sehr beschäftigt gewesen war. Vielleicht würde sie nicht einmal Eintritt erhalten.
Sie öffnete schnell die Tür, noch bevor Onkel Chester es tun konnte. Sie war es nicht gewohnt, dass andere ihr die Tür öffneten. Er lachte und winkte zum Abschied.
„Sera", identifizierte Loreen sofort die Auffällige in ihrem herausragenden und gewagten Kleid.
„Loreen! Endlich, los komm. Wir gehen", Sera umarmte sie und Loreen erwiderte die Umarmung.
Sera zeigte eine Mitgliedskarte vor und sie wurden vom Personal zu einem riesigen Pavillon geführt.
Loreen war überwältigt. Der Ort war wahrhaftig exklusiv. Alles war prachtvoll.
Es strahlte Klasse und Reichtum aus. Überall, wo sie hinsah, wirkte alles teuer und glamourös. Und ja, auch die Menschen darin.
'Was mache ich eigentlich hier?' fragte sie sich unweigerlich.Loreen fühlte sich fehl am Platz und realisierte nur umso mehr ihre eigenen finanziellen Grenzen.
Sie schien die Einzige zu sein, die nicht wohlhabend und elegant aussah. Alle anderen waren so schick gekleidet.
Ihr Kleid hatte sie vor Jahren in einem Secondhand-Laden gekauft. Es war alles andere als glamourös oder modisch. Es war veraltet und sichtlich abgetragen.
Hätte sie gewusst, was sie erwarten würde, hätte sie niemals zugestimmt, hierher zu kommen.
Loreen wünschte sich, der Boden würde sich auftun und sie verschlingen. Oder dass sie einfach unsichtbar werden könnte, bevor jemand ihre Fehlplatzierung bemerkte und sie zum Gespött aller machte.
Sera nahm ihre Verwirrung wahr. Schnell zog sie sie an ihren Tisch, an dem sich eine Auswahl teurer Getränke erstreckte.
"Nimm einen Drink. Das wird dir helfen, dich zu beruhigen. Ich wusste, dass du so reagieren würdest", sagte Sera und reichte ihr ein Glas. Sie wirkte selbstverständlich an einem solchen Ort. Sie war daran gewöhnt.
"Vielleicht hätten wir uns wirklich besser in einem Café getroffen", seufzte Loreen niedergeschlagen, woraufhin Sera lachte.
"Entspann dich. Ein paar Drinks und es wird alles besser. Prost auf deine ersten Male!"
'Erste Male?'
"Prost!" Loreen hob ihr Glas und stieß sanft mit Sera an, zweifelte aber immer noch, ob sie hier wirklich trinken sollte.
Sie kostete einen Schluck aus ihrem Glas und erstarrte ob des leicht bitteren, scharfen Geschmacks des Schnapses. Ihm war jedoch auch eine süße Note beigefügt, die es erträglicher machte.
"Man merkt, dass du nicht oft ausgehst", kicherte Sera und leerte ihr Glas mühelos.
"Ja, das stimmt", gab Loreen zu.
In der Regel würde sie niemals alleine Orte wie diesen aufsuchen. Sie hatte kaum Zeit oder Gelegenheit für solch gesellschaftliche Ereignisse.
"Wo sind die anderen?" Loreen sah sich um, jedoch ohne ihre ehemaligen Klassenkameraden zu entdecken.
"Sie stecken im Verkehr fest. Wir genießen erst mal unser Getränk, bis sie ankommen. Es könnte eine Weile dauern", Sera warf einen Blick auf ihr Handy.
"Verstehe", stimmte Loreen zu, da sie wusste, wie schlecht der Verkehr sein konnte.
"Und wie geht es dir? Ich habe gehört, du bist eine anerkannte Sozialarbeiterin. Verdienst du jetzt viel Geld damit?" fragte Sera.
"Nicht wirklich. Es reicht zum Leben, aber ich liebe meine Arbeit. Das ist alles, was ich habe. Und du? Wie läuft es mit dem Modeln?"
Für Loreen war ihre Arbeit als Sozialarbeiterin nicht nur eine Frage des Verdienstes. Es waren die Erfahrungen und Lehren, die sie sammelte und die Menschen, denen sie helfen konnte.
Natürlich war auch das Gehalt wichtig. Doch sie übte diesen Beruf aus, weil es eine Leidenschaft ihrer verstorbenen Großmutter war, eine Art Berufung.
Loreen erkannte, dass es ihr auch Freude machte und sie deshalb dabei blieb.
Nicht dass sie etwa plant, ihr Leben lang in diesem Beruf zu bleiben. Es fühlte sich einfach richtig an, gerade hier zu sein.
"Ich habe das Modeln letztes Jahr an den Nagel gehängt. Ich musste mich auf unser Familienunternehmen konzentrieren. Es wächst stetig, und meine Familie hat mich gedrängt, CEO eines unserer neuesten Unternehmen zu werden. Ich hasse es, aber es scheint keine andere Wahl zu geben, denn Geld ist mein Lebenselixier. Hehe", lächelte Sera irrsinnig.
"Wow, ich gratuliere. Du bist unerreichbar weit gekommen", keuchte Loreen bewundernd.
Sie wünschte sich insgeheim, auch mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden zu sein.
Sera hatte ihre Studien nie ernst genommen und wurde dennoch so früh CEO, weil es das Unternehmen ihrer Familie war.
Loreen hingegen musste hart arbeiten, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt war. Und immer noch hatte sie zu kämpfen.
Die Welt war wirklich nicht fair.
Sera war auch dafür bekannt, viel Geld auszugeben, aber sie hatten genug, also war es kein Problem. Schon seit ihrer Jugend war sie als Verschwenderin bekannt. Viele Leute umwarben sie sogar, nur um an ihren Extravaganzen teilzuhaben.
"Danke! Und du? Warum versuchst du nicht auch, ins Geschäft einzusteigen? Bist du immer noch zufrieden damit, wie soll ich sagen, bescheiden zu sein?" Sera lachte höhnisch.
"Ja. Das ist besser, als mein Leben noch schwieriger zu machen. Ich kann es mir noch nicht leisten, geschäftlich zu expandieren", Loreen fühlte sich beleidigt und nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas.
Sie versuchte nicht, bescheiden zu sein. Ihr mangelte es einfach an Mitteln, anders als bei Sera, wo alles bereitgestellt wurde.
Loreen hatte sich nicht ausgesucht, arm geboren zu werden. Sera hatte das Glück, reich auf die Welt zu kommen und alles von ihrer Familie gestellt zu bekommen.
'Nach all den Schwierigkeiten, die ich erlebt habe, hätte ich, wenn ich wählen könnte, lieber reich geboren werden wollen. Wusste sie das nicht bereits?'