LUO YAN ließ das lange Messer, das er festhielt, mit einem kräftigen Schlag herunter und tötete damit seinen zwanzigsten Feuerbrand. Dann hörte er das vertraute, glockenähnliche Signal, welches ihm anzeigte, dass er ein Level aufgestiegen war. Sofort sprang er aus dem Gebiet, in dem er gegen die Feuerbrände gekämpft hatte. Zunächst aß er rote Beeren, um seine HP wieder aufzufüllen, und öffnete dann die Statistik-Ansicht.
Er war nun auf Level 10 angekommen. Das bedeutete, dass er 4 Statistikpunkte hatte, die er nun seinen Basiswerten hinzufügen konnte. Ohne zu zögern legte er 2 Punkte auf Stärke (STR) und jeweils 1 Punkt auf Geschicklichkeit (AGI) sowie Fingerfertigkeit (DEX).
Eine Ranke bewegte sich in seinem Blickfeld. Luo Yan reagierte blitzschnell. Sein Hieb war viel schneller als der Angriff der Ranke, sodass er sie in nur drei Zügen besiegen konnte. Das war der 21. Feuerbrand. Luo Yan lächelte und betrachtete die Ranken um sich herum.
[Nun lasst uns noch neun weitere erledigen.]
Er bewegte sich wie ein Tornado – schlagend, springend, ausweichend. Er setzte all seine Kraft in jeden seiner Angriffe. Jede seiner Bewegungen war präzise und scharf wie ein Messer. Fast so, als hätte ein Meister ihm beigebracht zu kämpfen. Aber natürlich war dies unmöglich.
Luo Yan übte keine Kampfkunst. Er hatte nicht das Geld, um dergleichen zu erlernen. All seine Bewegungen basierten auf denen, die sein Charakter im PC-Spiel Arcadia ausführte. Er musste nur daran denken und sein Körper würde entsprechend agieren. Es war wohl ein Glück, dass er ein ziemlich gutes Gedächtnis, eine Fülle an Vorstellungskraft und, man könnte hinzufügen, eine schnelle Auffassungsgabe besaß. Mit dieser Kombination konnte er sich frei bewegen und kämpfen.
Bald hatte er es geschafft, 30 Feuerbrände zu töten. Dann erschien vor ihm ein Benachrichtigungsfenster:
[Herzlichen Glückwunsch! Du hast die Aufgabe des Ältesten erfolgreich erfüllt und 30 Feuerbrände getötet. Bitte kehre ins Dorf zurück und hole dir deine Belohnung vom Ältesten.]
Natürlich würde er nicht ins Dorf zurückkehren. Er musste noch die zusätzliche Aufgabe erfüllen – die Quelle der Feuerbrände finden und vernichten. Doch wie sollte er das bewerkstelligen?
Luo Yan sprang auf den Ast des höchsten Baumes in der Nähe. Von dort aus beobachtete er die Umgebung. Es schien, als ob das Töten der 30 Feuerbrände nicht viel bewirkt hätte, denn es gab immer noch eine Menge von ihnen. Er beobachtete genau und bemerkte dann eine Auffälligkeit.
Als er die Feuerbrände anfing zu töten, bewegten sich diese monströsen Ranken nur, wenn er in ihren Angriffsbereich kam. Doch jetzt bemerkte er eine Bewegung. Ein paar Ranken begannen sich in Richtung Norden zu bewegen. Ihre Bewegungen waren langsam, kaum sichtbar, aber Luo Yan entging nichts. Er zog eine Augenbraue hoch.
Diese Monster-Ranken würden sich nicht ohne Grund bewegen. Abgesehen von ihm gab es hier niemanden, der in ihre Reichweite kommen konnte. Und da er oben auf dem Baum war und ihnen nicht nahe, gab es keinen Grund für sie, sich zu bewegen. Das Einzige, was ihm einfiel und warum sie sich nun bewegten, war, dass es mit dem Grund zusammenhing, warum sie in diesen Teil des Waldes eingedrungen waren. Sein Erfolg, die 30 Feuerbrände zu töten, hatte wahrscheinlich dieses Phänomen ausgelöst.Er lächelte und sprang von Ast zu Ast, während er den langsam kriechenden Blights folgte. Weil sie sich so langsam wie Schnecken bewegten, dauerte es ewig, bis sich überhaupt etwas tat. Als es dann endlich so weit war, bemerkte er, wie wenige Bäume es in dieser Gegend gab – die verbliebenen schienen vertrocknet oder ähnliches.
Im Gegensatz zum restlichen Wald zeugte hier nichts von Leben. Ein einziger Blick genügte, um zu erkennen, dass irgendwas nicht stimmte. Er beobachtete, wie die Blights sich weiterhin durch den Wald schlängelten, und konnte feststellen, dass sie sich in dieser Gegend schneller zu bewegen schienen. Luo Yan folgte ihnen nicht länger, sondern vermied es, sich den monströsen Ranken zu nähern.
Zehn Minuten später hielt er abrupt an und sprang rückwärts: Der Platz, auf dem er gerade noch gestanden hatte, wurde von einem riesigen Ast angegriffen. Bevor Luo Yan erkennen konnte, von welcher Art Baummonster der Angriff ausging, wurde plötzlich sein Fuß von etwas umschlungen und er wurde grob nach vorn geschleift. Die Steine kratzten über seinen Rücken, einzelne könnten sogar seine Haut durchbohrt haben. Da es sich allerdings um ein Spiel handelte, bedeutete das, dass seine HP abnahmen. Kurz darauf wurde er kopfüber in die Höhe gehoben. Nach einem Moment hängender Ungewissheit erblickte er endlich seinen Angreifer.
Es war ein riesiger Baum, dessen Rinde aussah wie vertrocknet. Er trug keine Blätter und seine Äste waren lang und dick – ein einziger Schlag davon konnte sicherlich großen Schaden anrichten. Seine Wurzeln hatten sich aus dem Boden gelöst und bewegten sich wie wilde Tentakel – eine davon hatte sich um seinen Fuß gewickelt. Aber das war noch nicht alles: Das Monster hatte auch ein Gesicht, rote Augen, die ihn wütend anstarrten, und einen zickzackförmigen Mund, der ihn zu verschlingen drohte.
Wäre Luo Yan jemand, der leicht zu erschrecken war, hätte er jetzt wahrscheinlich vor Angst in die Hose gemacht. Da er die PC-Version des Spiels gespielt hatte, wusste er, dass manche Monster in Arcadia ziemlich furchteinflößend aussehen konnten. Doch hatte er nicht erwartet, dass sie in dieser VR-Version noch unheimlicher wirken würden. Erneut wollte er das Designteam des Spiels für ihre hervorragende Arbeit loben.
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er noch höher in die Luft gehoben wurde und dann plötzlich zu Boden geschmettert wurde. In der realen Welt hätte er nun wohl das Knacken seiner Wirbelsäule gehört. So sehr schmerzte der Aufprall.
[Verdammt, das tut weh.]
Das Baummonster hob ihn erneut an und es war offensichtlich, dass es ihn wieder auf den Boden schmettern wollte. Doch Luo Yan ließ es nicht dazu kommen. Er zog sein langes Messer und schnitt damit die Wurzel durch, die seinen Fuß umklammert hielt. Sobald er frei war, rannte er zu einem Bereich, den das Monster nicht erreichen konnte.
Als er sichergehen konnte, dass es ihm nicht folgte, atmete er erleichtert auf. Er schauderte, als er bemerkte, dass seine HP auf die Hälfte gesunken waren. Schnell griff er nach einem kleinen roten Trank und trank ihn aus. Sofort spürte er, wie der Schmerz nachließ und seine HP wieder stiegen.
Luo Yan betrachtete das Baummonster in der Ferne. Er war sich absolut sicher, dass dies die Quelle der Blights sein musste. Die Ranken des Monsters kamen immer näher.
[Wie soll ich jetzt nur mit diesem unheimlichen Baum fertigwerden?]