Chi Lian war bedrückt auf ihrem Heimweg. Als Soldatin war sie darauf trainiert, ständig wachsam zu sein. Sie hörte die Schritte einer Person, die ihr folgte, noch bevor sie sie sehen konnte.
Sie drehte sich um und überblickte ihre Umgebung. Die meisten Häuser waren verschlossen. Die Bewohner des Muyu-Slums waren zu sehr vor Ärger gefürchtet, um sich um zehn Uhr abends draußen aufzuhalten. Es gab keinen Ort, an dem sie sich verstecken konnte.
Drei Schläger bahnten sich ihren Weg zu ihr. Der Anführer war der Mann mit der hässlichen Narbe auf der Wange, wie sie annahm. Chi Lian wusste, dass sie nicht vorhatten, sie so schnell gehen zu lassen. Dieser Körper war schwächer als ihr letzter, also konnte sie nicht gegen sie kämpfen. Sie müsste auf Tricks zurückgreifen, um ihnen zu entkommen.
Sie erkannte den Anführer aus ihrer Erinnerung. Es war Rong Zhi, ein lokaler Gauner, der seit dem Umzug ihrer Familie hierher versucht hatte, sie in die Finger zu bekommen. Er näherte sich ihr mit einem schmierigen Lächeln. "Was haben wir denn hier?"
Chi Lian veränderte ihre Haltung. Sie war bereit zum Angriff, falls er oder seine Männer eine unbedachte Bewegung machten. "Ich suche keinen Ärger, Rong Zhi", sagte sie.
"Warum weist du mich immer ab, Chi-Chi? Ich will dich nur beschützen. Jeder weiß, dass ich, Rong Zhi, der fähigste Mann in Muyu bin."
Chi Lian ekelte sich, als er ihren Spitznamen benutzte, den nur ihre Freunde und ihre Familie nutzen durften. "Dann such dir jemand anderen, der deinen Schutz begehrt. Ich brauche und will ihn nicht", erwiderte sie.
Rong Zhis Nasenflügel bebten. Er war wütend, denn sie hatte seine Avancen immer wieder zurückgewiesen und ihn damit gedemütigt. "Wenn du nicht friedlich mitkommen willst, habe ich keine andere Wahl, als dich mit Gewalt zu meiner Frau zu machen." Er packte sie grob an der Schulter und zog an ihr.
Chi Lian kannte seine schändlichen Absichten. Sollte er es schaffen, sie mitzunehmen, würde sie vergewaltigt, bevor der Morgen anbrach. Sie schlug ihm auf die Nase und trat ihm in die Leistengegend. Er heulte auf wie ein verletzter Wolf und fiel zu Boden.
Während er sich mühsam erhob, drehte sich Chi Lian um und rannte in Richtung ihres Hauses. Es war nur noch fünf Minuten entfernt. "Holt sie euch!", befahl Rong Zhi.
Die anderen beiden folgten ihr wie ein Rudel Hyänen, das hinter einem Reh her war. Ihre Kraft schwand rapide.
"He, Mr. Pet, deine Gastgeberin steckt in Schwierigkeiten. Ist das nicht der Augenblick, in dem das System seinem Wirt irgendwelche Kräfte oder eine Waffe zur Selbstverteidigung gibt?"
"Die einzige Waffe, die ich auf deinem Niveau im Moment freischalten kann, ist ein Schläger."
"Ich nehme ihn", keuchte Chi Lian und hielt inne. Sie war von der ganzen Rennerei erschöpft. "Was für ein schwacher Körper. So jämmerlich", sagte sie. Sie schaute auf ihren Bildschirm und tippte auf ein Symbol mit dem Schläger.
Ein langer, metallisch glänzender Schläger erschien in ihren Händen.
"Yo, T4, bist du dir sicher, dass das reicht?"
"Mein Name ist Tetris Double-Four, nicht T4. Der Schläger, den du in den Händen hältst, könnte einen gepanzerten Laster mit einem Schlag stoppen, je nach der Stärke seines Nutzers. Er ist aus der stärksten Stahllegierung des Universums gefertigt."
Chi Lian war nun besorgt. Könnte sie diese Männer etwa töten, wenn sie sie schlug? Sie wollte nicht als Mörderin im Gefängnis enden.
"Deine Kraft reicht nicht aus, sie zu töten. Aber es wird sie sicher für mindestens eine Stunde außer Gefecht setzen."
"Gut", sagte sie. In ihrem früheren Leben hatte sie Baseball gespielt. Diese Schläger hatten eine Nacht voller Schmerzen vor sich.
Als sich der erste ihr näherte, schwang sie und traf ihn in den Bauch. Sie trat gegen den zweiten und schlug ihn mit dem Schläger auf den Kopf. Sie fielen zu Boden und stöhnten.
Ein heranstürmender Rong Zhi kam gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie seine Männer am Boden lagen. "Du Miststück!", schrie er und stürzte sich auf sie. Sie schwang ihren Schläger und zielte erneut zwischen seine Beine. Offensichtlich brauchte er eine weitere Lektion. Rong Zhi fiel vor Schmerz in Ohnmacht.Sie lachte vor Freude und tat, als wäre sie auf einem Baseballfeld: „Und das ist ein Homerun, meine Damen und Herren!" Verbeugend grinste sie.
Sie streichelte das Stahlrohr und küsste es. „Ich glaube, ich werde dich ‚Zorn' nennen", sagte sie.
Schnell machte sie sich auf den Heimweg und öffnete die Tür. Ihre Angehörigen waren bereits wach und warteten auf sie.
Chi Lian war beim Anblick ihrer Eltern verblüfft. Sie glichen ihren verstorbenen Eltern von ihrer ursprünglichen Erde aufs Haar.
„Wie ist das möglich?", fragte sie.
Eine Welle schmerzhafter Emotionen überschwemmte sie. In ihrer Welt waren ihre Eltern bei einem Autounfall gestorben, als sie noch ein Kind war. Ihre Tante und ihr Onkel zogen sie groß. Sie gaben ihr die ganze Liebe, die sie geben konnten, doch fühlte sie noch immer diese Leere in ihrer Seele.
Wie jedes Kind sehnte sie sich nach der Liebe ihrer Eltern. Sie wollte sich wie ein Baby in deren Arme schmiegen. Sie wollte mit ihrer Mutter im Bett liegen und Geheimnisse über Jungs und die Liebe austauschen.
Mit ihrer Tante und ihrem Onkel konnte sie das nie. Sie versuchten es zwar, aber die Lücke blieb. Deshalb trat sie der Armee bei.
Sie war auf der Suche nach etwas, von dem sie hoffte, es würde die Leere ein Stück weit füllen. Dass der Kampf für ihr Land und die Hilfe für die Menschen in kriegsgeplagten Ländern dies leisten könnte.
Aber jetzt standen sie hier. Zwei Menschen, die ihren Eltern ähnelten.
„Chi-Chi, wo warst du nur? Wir haben uns solche Sorgen gemacht." Besorgt blickte ihre Mutter sie an. „Warum ist dein Hemd voller Blut?"
Chi-Chi schwieg und Tränen flossen über ihre Wangen.
„Was ist los, Chi-Chi? Sag was. Wurdest du gemobbt?", fragte ihr ältester Bruder Chi Wei.
Er war bereit, demjenigen, der seiner Schwester Leid zugefügt hatte, einen Denkzettel zu verpassen.
„Boo-hooo…" Chi-Chi schluchzte plötzlich so laut, dass die ganze Familie schockiert war.
„Mutter, Chi-Chi hat dich so sehr vermisst." Sie fiel ihrer Mutter in die Arme.
Ihre Mutter hielt sie fest und strich ihr über den Rücken.
Ihr hinkender Vater schloss sich ihnen an und umarmte beide. Die Schluchzer seiner Tochter waren herzzerreißend und schmerzhaft. Er machte sich Vorwürfe für ihren Schmerz.
„Es tut mir leid, Chi-Chi. Hätte mich Zhi Hai nicht übers Ohr gehauen, wir würden jetzt nicht so leben. Du müsstest nicht um Geld kämpfen."
Nachdem sie sich ausgeweint hatte, löste Chi-Chi sich aus der Umarmung ihrer Mutter und sah sich ihr Haus an. Es war so heruntergekommen und alt, dass selbst Mäuse es wohl nicht bewohnen wollten. Es war winzig, und ihre drei Brüder teilten sich ein Zimmer. Nur sie hatte ein eigenes Zimmer.
„Ich werde wieder einen Weg finden, Geld zu verdienen. Geh nachts nicht mehr hinaus." Ihr Vater wirkte entschlossen.
„Ich habe bereits einen Weg gefunden. Mach dir keine Sorgen, Papa. Wir werden uns wieder aufrappeln." Sie versicherte ihm.
Ihre Familie war verwirrt. Chi-Chi hatte keine wirkliche Lebenserfahrung. Sie hatte gerade erst die Schule abgeschlossen. Viel der oberen Gesellschaft isolierte ihre Familie. Selbst ihre beiden Brüder waren gescheitert, gute Jobs zu finden. Woher nahm sie also diese Zuversicht?
Chi Lian bemerkte die Verwirrung in ihren Gesichtern.
„Ich habe einen Freund, der als Paparazzo arbeitet. Er verdient über zwanzigtausend Yuan im Monat. Und wenn er ein pikantes Foto macht, verkauft er es für so viel Geld wie möglich an das Unterhaltungsunternehmen oder an den Prominenten. Daher habe ich beschlossen, ebenfalls Paparazza zu werden."
„Eh." Ihr ältester Bruder Chi Weis Kinnlade klappte beinahe herunter. „Früher hast du sie verachtet, als wir noch wohlhabend waren."
„Und jetzt brauchen wir Geld. Ich werde unsere Familie wieder an die Spitze bringen. Tatsächlich brauchen sich der älteste und der zweite Bruder keine allzugroßen Sorgen um ihre Jobs zu machen. In nur einem Monat werden wir unsere eigene Internet-Nachrichtenwebsite eröffnen. Dann ein Medienhaus. Und ein Unterhaltungsunternehmen."
„Sie träumt", sagte ihr jüngster Bruder Chi Zimo.
„Du kleiner Frechdachs", sagte sie und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
„Au! Mama, sie hat mich geschlagen", wandte er sich beschwerend an seine Mutter.
„Deine Schwester sollte dich noch öfter schlagen. Warum machst du ihre Ambitionen nieder?" Ihre Mutter sah ihre Tochter an, die zum ersten Mal in ihrem Leben ein Ziel und Ehrgeiz zeigte: „Ich unterstütze dich. Sag mir, wenn du etwas brauchst."
Chi Lian blickte nun voller Entschlossenheit nach vorne. Anfangs dachte sie, sie würde keine Bindung zu dieser fremden Familie empfinden. Aber nun spürte sie eine Verbindung zu ihnen. Sie waren ihr Volk. Sie würde nicht zulassen, dass das Elend Teil ihres Lebens würde.