Ein toter Mann schritt dahin, lebendig, mit einem Schwert, das bis zu seinem Knöchel reichte.
Ophelia traute ihren Augen nicht. Sie hielt sie für verräterisch. Eine Halluzination vielleicht. Hatte Neil sie etwa getötet, und sie hatte es nicht einmal bemerkt? Aber Neil war tot, nichts als ein in Blut getränkter, zusammengesunkener Körper auf dem Zeltboden.
Ophelia gab einen keuchenden Laut von sich, unfähig, ein Wort herauszubringen, während sie auf Neils leblosen Körper starrte. Schließlich wandte sie ihren Blick ab, das Herz erkaltet in der Furcht vor dem, was noch kommen mochte.
"I-Ich äh…" Ihre Stimme blieb im Halse stecken.
Killorn war viel stämmiger und eindrucksvoller, als sie ihn in Erinnerung hatte. Er trug Kleidung, die keineswegs die eines heimkehrenden Kriegers war. Seine sauber gebügelte, schwarze Tunika ließ ihn noch bedrohlicher erscheinen. Mit kühlen, lauernden Blicken musterte er sie von Kopf bis Fuß. Seine behandschuhten Hände umklammerten fest das Schwert.
"Ich hätte ihm das Herz mit meinen beiden Händen herausreißen sollen", sagte Killorn zu ihr.
"P-Papa hat mir erzählt, du wärst tot", rang Ophelia hervor.
Killorns Augen blitzten warnend auf, silberne Flammen flackerten darin. "Hattest du vor, am Tag meines angeblichen Todes als Kandidatin bei der Zeremonie teilzunehmen?"
Ophelia versteifte sich. Seine Stimme war ein dunkles, raues Knurren, wie das Streichen über Baumrinde. Sie erkannte ihn sofort als den Mann, der sie zuvor vor Neil gerettet hatte. Er war diese Präsenz hinter ihr gewesen. Wie konnte sie nur nicht merken, dass es ihr Ehemann war?
"Ich habe keine warmen Wünsche erwartet, aber dass du hier bist ohne meinen toten Leib gesehen zu haben..." Sein ernster Tonfall ließ ihr Herz in den Magen sinken.
Ihr Ehemann war gerade aus dem Kampf zurückgekehrt. Die Chancen standen gegen ihn, er war ein Mensch und doch hatte er es lebend geschafft. Aber hier lag Ophelia, im Bett mit einem anderen Mann, ganz zu schweigen davon, dass sie als Kandidatin bei der Zeremonie zur Jahrzehntwürdigung vorgesehen war.
"M-Mavez Werwölfe", brachte Ophelia ungläubig hervor, das Herz stockte bei der Einsicht. "P-Papa sagte, du wärst ein Mensch."
"Ich habe nie behauptet, dass ich es bin", entgegnete Killorn sachlich. "Er ging einfach davon aus, als ich auftauchte."
Ophelia konnte sich nicht vorstellen, was in ihm vorging. Was hätte sie ihm sagen können? Wie sollte sie ihre missliche Lage erklären?
"D-du lebst auch", fuhr Ophelia fort, zu seiner offensichtlichen Verärgerung. Sie hatte noch nie zuvor die Gelegenheit gehabt, so ausführlich zu sprechen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich seines Titels nicht sicher war, was sie verunsicherte. Wie sollte sie ihn anreden? Mein Herzog? Er war der Sohn des Herzogs, als sie geheiratet hatten.
"Offensichtlich."
Ophelia zuckte zusammen bei seiner irritierten Stimme.
Sein durchdringender Blick begann, sie zu beunruhigen. Killorn wirkte, als könne er sie durchschauen, bis in die Tiefen ihrer Seele. Ophelia überlegte fieberhaft, was sie noch sagen konnte. Bei einem so intelligenten Mann wie ihm wusste sie nicht, wie sie ihn beruhigen sollte.
Ophelia hoffte, dass niemand auf der Welt die Gabe besaß, Gedanken zu lesen. Sie hatte von Magiern gehört, die die Elemente beherrschen konnten, doch keiner las Gedanken.
"Willst du nichts sagen?", fragte er mit einem Anflug von Spott.
Ophelia senkte den Kopf in einer zittrigen Geste, obwohl sie auf dem Bett saß, ihre Hände hinter sich abgestützt und die Knie in einer rückwärtigen Krabbenbewegung abgewinkelt. Sie krabbelte von ihm weg und verharrte in dieser Position.
Ophelia leckte sich über die Lippen. Sein sich verdüsternder Blick überlagerte seinen unnahbaren Ausdruck, doch trotz seiner Erregung blieb er ruhig und gefasst.
Innerhalb von Sekunden ihres Wiedersehens fühlte sich Ophelia wie die schlimmste Ehefrau, die es gab. Zählte dies überhaupt als Ehebruch? Sie hatte nicht nur einen anderen Mann geheiratet, sie waren dabei, die Ehe in genau demselben Bett zu vollziehen, in dem sie einst intim mit Killorn gewesen war.
Killorn hatte nun ihren neuen Ehemann direkt vor ihren Augen ermordet.
Schließlich bemerkte Ophelia das Blut, das die Enden ihres Kleides besprenkelte. Der Gestank der freiliegenden Organe ließ sie fast in Ohnmacht fallen. Neils Herz auf dem Boden pochte ein letztes Mal."Es herrschte Stille. Schließlich wurde ihr bewusst, dass Killorn darauf wartete, dass sie sprach.
„M-Mein Herr...", flüsterte Ophelia, ihre Stimme war so schwach wie das erste Krächzen eines Vogeljungen.
„Mein Herr?", wiederholte er scharf, seine Stimme war tiefer und verärgert. „Bin ich euch schon so fremd geworden?"
Ophelia war wie versteinert. Hastig schüttelte sie den Kopf von links nach rechts. Sein Blick verdüsterte sich, und sie fühlte, wie ihr Schwarz vor Augen wurde. Sie fürchtete, ihn enttäuscht zu haben.
„Nein...", piepste Ophelia mit einer Stimme, die an die einer Maus erinnerte.
„Nein?", echote er.
Killorn fixierte sie mit durchdringendem Blick. Seine Anwesenheit erfüllte den Raum mit Druck. Es gab kein Entrinnen.
"Willst du mir sagen, dass meine Frau ihrem Mann freiwillig untreu war?"
„Nein!", rief Ophelia, ihr Herz schlug bis zum Hals.
Killorn trat näher, das Schwert in der Hand, und richtete es direkt auf sie.
„Was machst du da?", stammelte Ophelia, ihre Kehle trocken vor Furcht.
Ophelia starrte das Schwert an, dessen Spitze noch immer das Blut ihres zweiten Mannes trug.
Mit einem schnellen Ruck zerschnitt er ihr Kleid von der Brust bis zur Taille. Es zerfiel augenblicklich und enthüllte ihre Unterkleidung sowie ihre Atem ringenden Brüste. Ihr wurde fast schwindlig vor Ohnmacht.
Trotz des zerrissenen Kleides hielt Killorn ihren Blick mit seinem feurigen fest. Für einen Sekundenbruchteil sah Ophelia einen goldenen Schimmer, den nur Alphatiere hatten. Dann blinzelte er, und er war verschwunden.
„Silberne Ohrringe", murmelte Killorn.
Ophelia lag entblößt vor ihm, ihre Schönheit umwerfend und strahlend. Er war rücksichtslos in seinen Bewegungen, seine Lippen pressten sich zusammen bei ihrem gequälten Blick.
„Mein Herr..."
Im Bann der Kälte und einnehmender Verzweiflung wurde Ophelia schwindelig.
„Die Scheidungspapiere sind noch nicht einmal entworfen, da bezeichnest du mich schon als Fremden", seine Stimme wurde kühler und bedrohlicher.
„Nein", hauchte Ophelia. „Du bist nicht... ich-ich meine...", ihre Stimme verklang.
Killorn ergriff ihren Knöchel, seine langen Finger schlossen sich mühelos um ihren zierlichen Körper. Er zog sie unter sich und presste sie auf die Matratze. Ihr Haar breitete sich um sie herum aus und offenbarte ihren funkelnden Blick, gefüllt mit zögernder Intimität.
Ophelia erstarrte. Sie starrte das Schwert an, das er in der anderen Hand hielt. Ungläubig sah sie zu ihm auf. Würde er... wollte er sie tatsächlich in demselben Schlafzimmer schänden, in dem er ihren neuen Ehemann getötet hatte?
Ophelias Blick wanderte zu dem großen Zelt in seiner Hose. Es war immer noch da, hart und schwer. Sie wusste genau, was er wollte. Und er würde es bekommen – freiwillig.
Zwei lange Jahre im Krieg hätten jeden Mann irre gemacht und verrückt nach einer Frau werden lassen.
In der Nacht ihrer Hochzeit war es Ophelias Amme, die sie zu ihrem Schlafgemach führte. Während der ganzen Hochzeit hatte er sie ignoriert, als wäre sie ein weiterer Kieselstein in der Mauer. Diese Nacht wies die Amme Ophelia an, ihrem Mann in allem zu gehorchen, ganz gleich, was er verlangen würde.
„Ich-ich, ähm", Ophelia konnte nicht einmal vernünftig denken."„Bist du mir bereits untreu geworden?", stieß Killorn ungeduldig aus. Sein durchdringender Blick war so feurig wie in ihrer Erinnerung, wie eine wunderschöne silberne Flamme, die sie so sehr berühren wollte.
Ophelia krallte ihre Finger an ihre Brust. Sie schüttelte heftig den Kopf. Jeder Nerv in ihrem Körper war auf Alarmbereitschaft. Sie konnte nicht einmal atmen.
Ihr schwindelte inzwischen, weil sie so vieles in sich hineingefressen hatte, und ihre Angst begann, sie zu verzehren. Ihr Puls beschleunigte sich. Er bemerkte es.
Killorns Augen blitzten auf, entschlossen, die Wahrheit aus ihr herauszukitzeln. Er war beeindruckend; sein männlicher Duft umhüllte sie sofort.
„Ophelia", knurrte er, gnadenlos in seinem Bestreben, eine Antwort zu erhalten. „Hast. Du. Dich. Verirrt?"
Ophelia konnte nicht klar denken. Ihre Sinne waren am Limit. Sie war Sekunden davor, auf dem Bett in Ohnmacht zu fallen, anstatt ihren Mann zu umsorgen.
„D-du bist immer noch m-mein Mann...", schluchzte Ophelia.
„Du hast jedes Wort in diesem Satz gestottert."
Ophelia blinzelte einmal, dann brach der Damm. Tränen liefen ihr ungehindert über die Wangen.
All ihr aufgestauter Stress brach hervor. Die Herzensbrecher-Nachricht seines Todes heute Morgen, die Hochzeit, die sie den ganzen Nachmittag über erdulden musste, die beinahe Übergriff im Bett, und eine Allianz mit Neil, der sie wie eine Melkkuh behandeln würde.
Ophelia stieß ein Schluckauf aus und begann zu schluchzen, unfähig, sich zu kontrollieren.
Sie weinte so heftig, dass sie ihre eigenen Hände vor sich nicht mehr erkennen konnte. Ihre Sicht war verschwommen, und sie verbarg ihr Gesicht in ihren Handflächen.
Killorn muss sie hassen. Oh Gott, er würde sie als Hure beschimpfen. Ophelia würde es ihm nicht einmal verübeln.
„Verdammt."
In weniger als zehn Minuten seit ihrer Begegnung fluchte er bereits.
Ophelia hörte das Rascheln von Leder und das laute Aufschlagen seines Handschuhs auf dem Boden. Er warf ihn achtlos weg.
Plötzlich spürte Ophelia, wie eine große Hand ihre Schulter packte. Sie erstarrte wie ein Baum. Er zog sie in eine sitzende Position und kniete sich vor sie. Wärme zog ihren unteren Rücken hinunter.
Killorn streichelte sie, Wärme strömte von seinem großen Körper aus.
Killorns Berührung war so brennend wie der Tag, an dem er sie durchwühlt hatte, urtümlich und hartnäckig, alles beanspruchend, was ihm gehörte. Jetzt tröstete sie genau der Mann, der sie hätte feuern sollen wegen Ehebruchs.
Als Matriarchin Eves sie einmal so hart schlug, fiel Ophelia zu Boden.
Killorn war der Größte in der Armee des Reiches. Ein einziger Schlag von ihm... würde Ophelia das überhaupt überleben?
„Ich habe nicht einmal eine Begrüßung für unser Wiedersehen erwartet, und schon weinst du vor mir."
„A-ah...n-ngh-I-I...", versuchte Ophelia zu sprechen, ihre Gedanken auszudrücken, doch ihre Kehle war dick vor Emotionen. Er überwältigte sie.
„Sei still."
Ophelia klappte den Mund zu. Sie schluckte. Dann noch einer. Bis sie bald wieder schluchzte. Jede unterdrückte Emotion sprudelte an die Oberfläche.
„Habe ich dich eingeschüchtert?", murmelte Killorn, seine Stimme tief und sanft, was ihn selbst überraschte.'"Nein..." Ophelia würgte. "Nein..."
"Sieh mich an." Seine plötzliche Kälte war das, was er früher erwartet hatte. Doch für den Bruchteil einer Sekunde schwankte er.
Ophelia wollte wie ein Kind den Kopf schütteln. Nie im Leben hatte sie einen Wutanfall gehabt. Als Kind hatte sie gelernt, dass Weinen nur zu mehr Strafen und Schlägen führte. Sollte sie es wagen, vor ihrem Ehemann einen Anfall zu bekommen, wie entsetzlich wären dann seine Schläge?
"Ich kann nicht."
"Warum?"
Killorn füllte augenblicklich ihr Sichtfeld aus. Sein Körper war groß und stark. Seine Stimme kälter als der Tod. Er sah ihr direkt in die wässrigen Augen. Sie war wunderschön.
"Du zuckst zurück in meiner Gegenwart, als wärst du lieber bei dem Greis dort auf dem Boden," stellte Killorn fest.
"D-das war nicht, was ich m-meinte..."
Killorn ragte über ihr auf, selbst im Sitzen. Er kniete nicht mehr, sondern hatte seine kräftigen Schenkel auf dem Bett überschlagen.
Killorn beobachtete sie aufmerksam. Seine Frau war in Tränen und er hatte nicht einmal ein Taschentuch, das er ihr anbieten konnte. Er ballte die Finger zur Faust. Hätte er doch nur eines.
"B-bitte... k-können wir r-reden?" Ophelia rang mit den Worten, obwohl ihr der Atem stockte.
Ophelia sah seine zu Fäusten geballten Hände und wusste, er würde sie schlagen. Sie hoffte nur, dass es nicht der Bauch sein würde. Sie fürchtete, er würde sie nur quälen, wenn sie unfruchtbar wäre.
Vielleicht wäre das Gesicht besser... oder die Beine... Ja, die Beine wären am besten. Im schlimmsten Fall wäre sie bettlägerig. Das müsste doch in Ordnung sein, nicht wahr?
Killorn streckte die Hand nach ihr aus. Sie wich zurück. Er hielt inne. Sofort fühlte er sich beleidigt.
"Du denkst, ich würde es wagen, meine Frau zu schlagen?" Seine Stimme blieb tödlich.
Killorn knirschte mit den Zähnen. Seine Augen brannten, sein Kiefer war so fest zusammengebissen, dass er messerscharf wirkte. Sein Mund bildete eine feste Linie, die sie die Tränen vergessen ließ, die auf ihrem Gesicht getrocknet waren.
"Du glaubst, ich hätte die Frechheit, eine Frau zu schlagen, wenn ich einem meiner Männer dafür die Hand abhacken würde?" Jedes Wort von Killorn war leise gesprochen, trotz seines warnenden Tons.
Ophelia war ihm ausgeliefert. Sie war immer noch sein Besitz, sein Eigentum. Sie gehörte zu ihm. Er konnte mit ihr anstellen, was er wollte. In dieser Zeit störte es niemanden, wenn Männer ihre Frauen auf die grausamste Weise zurechtwiesen.
"Wenn du meine Fragen nicht beantworten willst, dann erfülle deine Pflichten."
Ophelia blinzelte. Welche Pflichten? Sie drehte den Kopf und blickte sich im Zelt um. Hier? Sie wäre fast aufgeschrien, als sie Neils Kopf aus dem Ende ihres Bettes herausragen sah. Es war wie ein grausames Kinderspiel.
Ophelia suchte nach einem Besen. Oder einem Wischmopp aus strapazierter Baumwolle. Sollte sie das Chaos aufräumen, das er angerichtet hatte? Sollte sie das Blut wegwischen?
"Nach wem suchst du? Neil, damit er dir zur Flucht verhilft? Er ist bereits tot."
"Ich hatte nicht vor, vor meinem eigenen Mann zu fliehen!"
Es war das erste Mal, dass Ophelia nicht stotterte, als sie mit einem Mann sprach. Killorn schien nicht einmal beeindruckt zu sein.
"Dann zieh dich aus."