Der frühe Abend lag still über dem Zirkuslager, und die letzten Sonnenstrahlen tauchten die Wiesen in goldenes Licht. Thalor saß am Rand seines Stalls und beobachtete, wie sich die Tiere für die Nacht niederließen. Es war ruhig, fast friedlich, doch in seinem Inneren brodelten unausgesprochene Gedanken. Elara trat an seine Seite, ihr Gesicht war besorgt, aber zugleich neugierig.
„Thalor," begann sie sanft und setzte sich neben ihn. „Ich habe dich nie wirklich gefragt ... Wie war die Krönung? Wie war es, deine Mutter als Königin zu sehen? Und wie fühlt es sich an, ein Prinz zu sein?"
Thalor sah auf, seine bernsteinfarbenen Augen trafen die ihren, und für einen Moment zögerte er. Er hatte diese Fragen erwartet, doch bisher hatte er es vermieden, darüber zu sprechen. Doch nun, in der Stille des Abends, schien es unausweichlich.
„Es fühlt sich ... seltsam an," antwortete er schließlich und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. „Es ist schon Monate her, aber es fühlt sich an, als wäre es gestern gewesen."
Er schloss kurz die Augen und ließ die Erinnerungen an den Tag der Krönung zurückkehren.
Es war ein Tag, den niemand in der Drachenstadt jemals vergessen würde. Der Himmel war klar, und die Luft war erfüllt von einem Hauch Magie, als Elowen, seine Mutter, den Thron bestieg. Ihre schimmernden Schuppen funkelten im Sonnenlicht in den sanften Blau- und Grüntönen, die sie auszeichneten, und ihre mächtigen Flügel waren weit ausgebreitet, als sie durch die Reihen der versammelten Drachen schritt.
Die Drachenstadt war ein majestätischer Ort, tief in den Bergen versteckt, ein Land der uralten Magie und Tradition. An jenem Tag waren die Straßen mit goldenen Bannern geschmückt, und überall, wohin Thalor blickte, waren Drachen aus allen Teilen des Landes versammelt, um die neue Königin zu sehen.
Elowen, seine Mutter, war durch das Feuer des Krieges gegangen. Sie hatte schwere Entscheidungen treffen müssen – eine davon war, Thalor einst zu verlassen, als er noch ein Junges war. Doch an diesem Tag schien sie ihre ganze Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ihr Kopf war hoch erhoben, und ihre Augen leuchteten stolz, als sie auf den Thron zuging.
Thalor stand an ihrer Seite, unsicher und doch voller Ehrfurcht. Die Wucht dieses Augenblicks war schwer zu fassen – seine Mutter, die Drachenkönigin, und er, der Prinz. Aber er fühlte sich fehl am Platz. Er war der Drache des Zirkus, kein Prinz, der in einer goldenen Stadt herrschte.
Als die Krönungszeremonie begann, hob Elowen eine mächtige Krone aus reinem Silber, die mit leuchtenden Edelsteinen verziert war, die das Licht der Sonne einfingen und es in funkelnden Strahlen auf die versammelte Menge warfen. Mit jedem Schritt, den sie auf den Thron zuging, fühlte Thalor die Schwere seiner neuen Rolle stärker werden.
„Mit dieser Krone nehme ich die Verantwortung über alle Drachen auf mich," hatte Elowen mit klarer, fester Stimme verkündet, als sie die Krone auf ihr Haupt setzte. „Ich werde unsere Stadt führen, unsere Heimat schützen, und das Erbe der Drachen weitertragen."
Die Drachen um sie herum hatten vor Ehrfurcht gebebt, und Thalor hatte gespürt, wie eine Flut von Emotionen durch ihn strömte – Stolz, Unsicherheit und vielleicht sogar ein Funken Angst. Denn in diesem Moment wusste er, dass er in dieser Welt, in der seine Mutter nun Königin war, nie wirklich zu Hause sein würde.
Er liebte seine Mutter, und der Moment ihrer Krönung war einer der stolzesten in seinem Leben. Doch zugleich spürte er die Kluft, die zwischen ihnen entstanden war, die Welt, die ihn fortzog, zurück in den Zirkus, zurück zu den Menschen, die ihn als das akzeptierten, was er war – ein Drachenwesen, das mit Magie die Herzen der Menschen berührte.
Zurück in der Gegenwart öffnete Thalor die Augen, und ein leises Seufzen entwich ihm. Elara beobachtete ihn aufmerksam, ihre Augen voller Verständnis.
„Es war ein wundervoller Tag," sagte er schließlich. „Meine Mutter, sie strahlte wie nie zuvor. Sie war stark und stolz, und ich weiß, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Aber ..."
„Aber?", fragte Elara sanft, während sie ihm einen beruhigenden Blick zuwarf.
„Aber ich bin kein Prinz, Elara. Zumindest fühle ich mich nicht so. Ich gehöre nicht in diese Welt der Krone und des Thrones. Ich bin hier, im Zirkus, bei dir und den anderen, wo ich wirklich sein kann, wer ich bin. Ein Drache, ja, aber auch ein Teil dieser Familie, ein Teil dieser Welt."
Elara legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte. „Und das ist völlig in Ordnung, Thalor. Du musst nicht in die Rolle eines Prinzen passen, wenn es nicht das ist, was du willst. Du bist hier zu Hause. Und egal, was die Welt da draußen von dir erwartet, wir nehmen dich so, wie du bist."
Thalor nickte und fühlte, wie sich eine Last von seinen Schultern hob. „Danke, Elara. Das bedeutet mir viel."
„Du bist ein Prinz, ja. Aber hier im Zirkus bist du einfach Thalor. Und genau das macht dich so besonders."
Mit einem warmen Lächeln blickten sie gemeinsam in die untergehende Sonne, während Thalor spürte, dass er in dieser Welt seinen Platz gefunden hatte – fernab der Krone, aber nicht weniger wertvoll.