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Die Nacht war still. Der Zirkus hatte sich nach einem langen Tag zur Ruhe gelegt. Thalor, der mittlerweile ein imposanter Drache mit prächtigem grünlich-schillerndem Schuppenkleid war, lag in seinem geräumigen Stall. Die Pflanzen, die seinen Lebensraum umgaben, wiegten sich sanft im Wind, und das Mondlicht strahlte durch das Dachfenster, das Thalor oft nutzte, um die Sterne zu betrachten. Doch in dieser Nacht war etwas anders. Unruhe lag in der Luft.
Thalor, der tief und fest eingeschlafen war, begann plötzlich unruhig zu zucken. Seine Klauen krallten sich in den Boden, und er atmete schwerer. Ein Albtraum ergriff Besitz von ihm – ein Gefühl, das er bisher nie erlebt hatte.
Thalor fand sich in einer düsteren Landschaft wieder, umgeben von toten Bäumen und einem finsteren, bedrohlichen Himmel. Plötzlich tauchte seine Mutter, Elowen, vor ihm auf. Doch statt der reumütigen Gestalt, die er zuletzt gesehen hatte, wirkte sie kalt und abweisend.
„Warum bist du so schwach, Thalor?" hallte ihre Stimme in seinem Kopf. „Du warst immer eine Enttäuschung."
Thalor wollte schreien, wollte sich verteidigen, doch aus seiner Kehle kam kein Laut. Stattdessen umklammerten ihn dornige Ranken, die sich immer fester zogen. Er kämpfte, doch je mehr er sich bewegte, desto enger wurden die Dornen.
„Du wirst nie frei sein," flüsterte die Stimme seiner Mutter, die nun zu einem gewaltigen Schatten geworden war, „nie gut genug."
Plötzlich sah er den Zirkus. Doch statt der fröhlichen Farben und der lebhaften Menschen war er verlassen und zerstört. Elara lag bewusstlos am Boden, umgeben von den Trümmern des großen Zeltes. In diesem Moment durchfuhr ihn eine Welle aus Schmerz und Wut. Er brüllte – ein tiefes, markerschütterndes Brüllen, das die Erde zum Beben brachte.
Im Stall begann Thalor im Schlaf zu reagieren. Ohne es zu wissen, setzte er seine Kraft ein. Pflanzen, die seinen Stall umgaben, begannen zu wuchern und sich unkontrolliert auszubreiten. Die Erde unter ihm bebte leicht, und seine Flügel schlugen unwillkürlich um sich, wobei sie einige Gegenstände zerstörten. Er brüllte laut, sodass der gesamte Zirkus davon erwachte.
Elara, die sofort das Unheil spürte, rannte mit den anderen Zirkusmitarbeitern zum Stall. „Was ist los?", rief Joran, der Trainer, der bereits alarmiert war.
„Ich weiß es nicht!" Elara rief in die Dunkelheit des Stalls: „Thalor! Was ist passiert?"
Doch statt einer Antwort hörten sie nur noch ein weiteres, wilderes Brüllen. Thalor schlief noch, war jedoch im Bann des Albtraums. Seine Augen flackerten, während er in die Nacht hinaus stolperte und unkontrolliert mit seinen Flügeln und Klauen um sich schlug. Die Pflanzen um ihn wuchsen schneller, unaufhaltsam, und banden sich um die Zirkuswägen.
„Er ist nicht bei Bewusstsein!", rief Mara, die Tierpflegerin, während sie versuchte, sich den wuchernden Pflanzen zu entziehen.
Thalor bewegte sich auf Elara zu, doch seine Augen sahen sie nicht – er war noch immer gefangen in seinem Traum. Im Albtraum sah er, wie der Schatten seiner Mutter nun Elara angriff. Er wollte sie beschützen, doch im echten Leben griff er sie an, ohne es zu merken. Seine gewaltige Klaue schlug in ihre Richtung, und sie wich gerade noch rechtzeitig aus. Doch einige andere Zirkusmitarbeiter wurden durch den Sturm der Pflanzen verwundet, als Thalor sie wild um sich schleuderte.
„Thalor, wach auf!" schrie Elara verzweifelt, während sie sich ihm näherte. „Das bin ich, Elara! Du musst aufwachen!"
Schließlich, nach einem weiteren ohrenbetäubenden Brüllen, fiel Thalor erschöpft zu Boden. Der Albtraum ließ ihn los, und er öffnete langsam die Augen. Vor ihm stand Elara, mit Sorge im Blick und Verletzungen an den Armen. Um ihn herum lagen verletzte und verängstigte Mitarbeiter. Die Wunden und das Chaos waren überall sichtbar.
„Was… was ist passiert?" Thalors Stimme war tief und voller Verwirrung. „Ich… habe ich das getan?"
Elara kniete sich neben ihn. „Ja, Thalor. Du hast geschlafwandelt… du hast einen Albtraum gehabt und uns alle angegriffen."
Thalor, der sich noch immer schwer atmete, blickte auf die Verwüstung um sich. „Ich… ich habe das nicht gewollt." Seine Augen füllten sich mit Reue. „Ich wollte euch nie verletzen."
Joran trat vor und legte eine Hand auf Thalors Schulter. „Es war nicht deine Schuld. Du hast etwas geträumt, etwas Dunkles, das dich übernommen hat."
Thalor senkte seinen Kopf, seine Schuppen glänzten im Mondlicht, das durch das offene Dachfenster fiel. „Ich hatte nie Albträume. Ich verstehe nicht, wo das herkommt. Es fühlte sich so real an."
Elara versuchte, ihre eigenen Schmerzen zu ignorieren, während sie sanft seinen Kopf streichelte. „Du bist stark, Thalor. Aber auch die Stärksten haben manchmal Albträume. Es könnte der Stress sein, der durch das Treffen mit deiner Mutter ausgelöst wurde."
Am nächsten Morgen setzte sich Elara mit der Crew zusammen. „Wir müssen Vorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass so etwas nicht noch einmal passiert." Es wurde beschlossen, dass Thalors Stall künftig mit einem sanften Schutzzauber umgeben wird, der ihn daran hindert, in schlafwandelnden Zuständen zu agieren. Zusätzlich würde Mara regelmäßig Pflanzen um seinen Stall platzieren, die beruhigende Effekte auf ihn haben.
„Und ich werde in den nächsten Nächten bei ihm bleiben," sagte Elara entschlossen. „Falls er noch einmal träumt, will ich sicherstellen, dass er nicht allein ist."
Thalor fühlte sich von dieser Entscheidung erleichtert, auch wenn er sich schuldig fühlte. „Danke… dass ihr mich nicht verurteilt. Ich werde besser aufpassen."
Elara lächelte sanft. „Wir sind eine Familie, Thalor. Und Familien passen aufeinander auf. Egal, was passiert."