Die Nacht war kühl und klar, der Mond leuchtete hell am wolkenlosen Himmel. Über den Gipfeln der fernen Berge tobte ein heftiger Sturm. Blitze zuckten durch die Wolken, doch es war kein gewöhnliches Gewitter. Inmitten der dunklen Felsen ertönte ein gewaltiges Brüllen, das die Erde erschütterte und die Luft erzittern ließ. Der Klang war voller Zorn und Verachtung. In einer tief in den Felsen gehauenen Höhle fand ein einsamer Drache seinen ersten Kampf um Leben und Tod – nicht gegen einen äußeren Feind, sondern gegen seine eigene Mutter.
Thalor, ein junges Drachenjunges mit matten grünen Schuppen, zitterte am Boden. Seine großen Augen waren voller Verwirrung und Angst. Er hatte die Wärme und Sicherheit seiner Mutter gesucht, doch stattdessen war er auf die Kälte ihrer Verachtung gestoßen. Sein ganzer Körper schmerzte von den Schlägen, die sie ihm zugefügt hatte, als er sich ihr zu nahe gekommen war. Ihre Augen hatten ihn kalt und unbarmherzig angestarrt.
"Du bist schwach," zischte sie mit grollender Stimme. "Ein solches Wesen wie du hat keinen Platz in meinem Nest."
Der junge Drache verstand nicht, was er falsch gemacht hatte. Er hatte sich stets bemüht, zu gefallen, stark zu sein, zu lernen. Doch es war nie genug gewesen. Für seine Mutter, eine mächtige Drachenkriegerin des Nordens, war Schwäche das größte Verbrechen, und Thalor, mit seinen noch unkontrollierten Fähigkeiten, war für sie nichts weiter als ein Makel.
„Verschwinde," fauchte sie. „Du bist es nicht wert, mein Blut in deinen Adern zu tragen."
Mit einem letzten schmerzhaften Schlag wurde er aus der Höhle gestoßen, die er sein Zuhause genannt hatte. Die Kälte des Berges biss in seine Haut, während er ziellos durch die Dunkelheit wanderte. Er war verstoßen, allein, und die Welt erschien ihm plötzlich viel feindseliger als zuvor.
Tage vergingen. Thalor wusste nicht, wie lange er umherirrte. Hunger nagte an ihm, und seine Magie, die er noch nicht zu verstehen wusste, war zu schwach, um ihn zu schützen. Er fand Schutz in Wäldern, trank aus Bächen und hielt sich vor den Blicken anderer Wesen verborgen. Jeder Tag war ein Kampf ums Überleben, und in jeder Nacht kroch die Kälte tiefer in seine Seele.
Eines Tages hatte er sich unter einem Baum zusammengerollt, als ein seltsamer Duft seine Nase erreichte. Es roch süß nach Feuer und warmen Gewürzen – etwas, das er noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Seine Neugier, die ihn trotz all seiner Angst nie verlassen hatte, trieb ihn dazu, dem Duft zu folgen. Er schlich vorsichtig durch das dichte Unterholz und stieß auf eine kleine Lichtung.
Bald erblickte er Lichter. Vor ihm lag ein großes Zirkuszelt, hell erleuchtet und erfüllt von Leben. Lachen, Musik und fremde Gerüche drangen zu ihm. Menschen liefen hin und her, Tiere in bunten Käfigen brüllten und grunzten. Der Zirkus war wie eine andere Welt, eine, die Thalor in ihrer Wärme und ihrem Leben magisch anzog.
Mit Vorsicht schlich er sich näher heran, unsicher, was er von all dem halten sollte. Seine grünen Schuppen glitzerten im Schein der Fackeln, doch er versuchte, sich im Schatten zu halten. Er wollte nicht entdeckt werden – zumindest nicht sofort. Er wusste nicht, ob diese Menschen freundlich waren oder ob sie ihn genauso verstoßen würden wie seine eigene Mutter.
Seine grüne Haut schimmerte im schwachen Licht der Laternen, als er sich vorsichtig an den Zelten vorbeimovierte. Der Drache, hungrig und erschöpft, schlich sich durch einen kleinen Spalt in das Zelt, angelockt von dem verführerischen Geruch des Essens.
Elara, die Zirkusleiterin, war gerade dabei, in der Küche des großen Zirkuszelt eine letzte Mahlzeit vorzubereiten. Als sie fertig war, setzte sie sich an einen Tisch und begann zu essen.
Gerade als Thalor sich dem Tisch näherte, um einen Blick auf die köstlichen Speisen zu erhaschen, stand Elara auf und bemerkte die Bewegung in ihrem Zelt. Als sie Thalor sah, erstarrte sie für einen Moment. Der kleine Drache, verängstigt und misstrauisch, knurrte leise, während er sich in einer Ecke versteckte.
Elara stand dort, eine freundliche, jedoch bestimmte Erscheinung. Ihre Augen, die den Glanz der Nacht widerspiegelten, suchten den Drachen aus, der sich ängstlich in der Ecke versteckte. „Wer bist denn du?" fragte sie mit sanfter Stimme, die jedoch Autorität ausstrahlte. Thalor, von Angst erfüllt, knurrte leise, als er die Frage hörte. Er hatte nie zuvor jemanden gesehen, der ihm so unerschütterlich gegenüberstand.
„Oh, du brauchst dich nicht zu fürchten," sprach Elara weiter, während sie sich langsam dem Drachen näherte. „Ich tue dir nichts." Ihre Stimme war sanft und beruhigend, und in ihrem Blick lag tiefes Mitgefühl.
Elara lächelte sanft, als sie die Verwundbarkeit in den Augen des kleinen Drachen sah. Ihre Stimme war ruhig und einladend. „Komm her, kleiner Freund."
Thalor zog sich weiter zurück, doch Elara ging langsam auf ihn zu, ohne ihn zu bedrängen. „Du musst hungrig sein. Lass uns sehen, ob wir dir etwas zu essen geben können."
Thalor beobachtete die Zirkusleiterin misstrauisch, doch sein Magen knurrte laut und verriet sein Bedürfnis nach Nahrung. Elara bereitete ein kleines Mahl vor und setzte es vorsichtig auf den Boden, weit genug von ihr entfernt, um Thalor nicht zu beunruhigen.
Langsam kam Thalor aus seiner Deckung und begann, das Essen zu probieren. Seine anfängliche Skepsis verwandelte sich allmählich in Vertrauen, während er den köstlichen Geschmack entdeckte. Elara, die sich weiterhin geduldig verhielt, setzte sich sanft neben ihn, ohne ihn zu bedrängen.
Während Thalor aß, streckte Elara ihre Hand aus und begann vorsichtig, den kleinen Drachen zu streicheln. Die sanften Berührungen ließen Thalors Misstrauen schmelzen, und er begann, sich etwas wohler zu fühlen. Elara hob ihn sanft von seinem Platz auf, als er fertig war, und setzte ihn auf ihren Arm.
Elara brachte Thalor in ihr Büro und legte ihn behutsam auf ein kleines rundes Hundebett. Als der Drache sich darauf niederließ und die Augen schwer wurden, als ob die Welt um ihn herum verschwomm. Er schloss die Augen und schlief tief und fest ein, während Elara ihm eine weiche Decke über den kleinen Drachenkörper legte. Während Thalor schlief, spürte er im Unterbewusstsein die sanfte Hand von Elara, die ihn beruhigend streichelte.
Am nächsten Morgen wachte Elara Thalor sanft auf. Der kleine Drache, nun etwas sauberer durch die nahrhafte Mahlzeit der Nacht, streckte sich und öffnete langsam die Augen. Doch er hatte das Gefühl, dass sich das Bett verkleinert hatte. Als Elara ihn ansprach, geschah etwas Unglaubliches.
„Ich will noch schlafen," dachte Thalor, was Elara überraschte und erstaunte. Er sprach seine Gedanken laut aus, und seine Worte machten Elara klar, dass dieser Drache nicht nur ein gewöhnliches Tier war, sondern ein Wesen mit eigenen Gefühlen und Gedanken.
Elara war überrascht und schaute den Drachen erstaunt an. „Du kannst sprechen?"
Thalor, der ebenfalls von dieser plötzlichen Fähigkeit schockiert war, sprach weiter: „Nein... ich… ich... weiß... nicht, wie... das passiert ist."
„Du bist gewachsen," bemerkte Elara erstaunt nach einer Weile, „und du scheinst mehr zu verstehen, als ich dachte. Was ist passiert?"
Mit einer Mischung aus Schüchternheit und Entschlossenheit begann Thalor, seine traurige Geschichte zu erzählen: „Meine Mutter... ich wurde verstoßen... sie hielt mich für zu schwach... ich wollte nur... dazugehören."
Elara hörte aufmerksam zu, ihr Herz war schwer von Mitgefühl. „Du bist jetzt ein Teil unserer Familie, wenn du willst," sagte sie sanft. „Hier wirst du nicht mehr allein sein."
Thalor, dessen Herz noch immer von Schmerz erfüllt war, fand Trost in Elaras Angebot. Da er nirgendwo anders hin konnte, nahm er dankbar die Einladung an. So begann eine neue Reise für Thalor, als er in die Zirkusfamilie aufgenommen wurde und sein neues Leben unter der warmen und schützenden Hand von Elara begann – eine Frau, die ihn wie ihren eigenen Sohn behandelte und aufzog.