Geleitet von Erinnerungen fand Shen Mianmian ihr Klassenzimmer. Als sie die jugendlichen und unreifen Gesichter sah, empfand sie eine komplizierte Mischung von Gefühlen. Zhou Siyu war bereits im Klassenzimmer, saß an ihrem Schreibtisch und starrte Shen Mianmian mit gelassener Erwartung an, als wartete sie auf den Beginn einer Vorstellung.
Aufgrund ihrer geringen Körpergröße befand sich Shen Mianmians Tisch in der ersten Reihe in der Mitte. Der hölzerne Tisch, dessen rote Farbe abblätterte, war durch eine Linie gekennzeichnet, welche eine ungerechte Grenze darstellte, gezogen von Su Xiaohong. Jedes noch so kleine Übertreten dieser Grenze durch Shen Mianmian würde sofort zurückgewiesen.
Als Shen Mianmian an ihrem Platz ankam und ihre Schultasche abstellte, sagte ihre Tischnachbarin Su Xiaohong kalt: "Das ist nicht mehr dein Platz, setz dich nicht hierhin."
"Und wo soll ich mich dann setzen?" Shen Mianmians erster Gedanke war, dass sie sich irrtümlich den falschen Platz gemerkt hatte, was nach mehr als zwanzig Jahren durchaus plausibel war.
Mit einem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck erklärte Su Xiaohong: "Seit zwei Tagen bist du nicht gekommen. Deine Schwester sagte, du kommst nicht zurück. Deshalb hat die Lehrkraft Chen Juan hierher umgesetzt."
Chen Juan, ebenso wie Shen Mianmian eine kleine Person, nur etwas größer, hatte bisher hinter ihr gesessen.
"Es war deine Tante, die gesagt hat, dass du nicht mehr kommen darfst", klärte Zhou Siyu umgehend und wies damit von sich, das Gerücht verbreitet zu haben.
Zhou Siyu genoss in der Klasse Beliebtheit und war zudem Gruppenführerin. Da sie in den akademischen Fächern gut war und oft Schülern, die Schwierigkeiten hatten, erlaubte, ihre Hausaufgaben abzuschreiben, hatte sie viele für sich gewonnen.
Im Gegensatz dazu wurde Shen Mianmian, die weder geschickt im Umgang mit Worten noch eine dominante Persönlichkeit war, ausgegrenzt. Gegen Ende ihrer drei Jahre auf der Mittelschule blieb sie isoliert.
Nachdem sie einen Blick auf sie geworfen hatte, sagte Shen Mianmian kein Wort.
Chen Juan betrat das Klassenzimmer und war sichtlich überrascht, Shen Mianmian zu sehen. Sofort ging Su Xiaohong hinüber, nahm Chen Juans Schultasche, steckte sie in die Schublade und drängte sie, sich hinzusetzen.
"Chen Juan, bleib ruhig hier sitzen. Die Lehrkraft hat dich hierher gesetzt, und niemand wird dir den Platz streitig machen."
Chen Juan hatte einen geradlinigen Charakter, stammte aber aus dem gleichen Dorf wie Su Xiaohong und war auch eine fleißige Schülerin. Die zwei hatten ein gutes Verhältnis zueinander und wollten schon lange nebeneinander sitzen.
Für Shen Mianmian war es, als wäre plötzlich Cheng Yaojin aufgetaucht – sie war klein und man nahm ihr den Platz weg.
In Wirklichkeit machte es kaum einen Unterschied, ob man in der ersten oder zweiten Reihe saß. Shen Mianmian richtete ihre Aufmerksamkeit auf Chen Juans vorherigen Platz. Dort saß ein Mädchen, das wachsam darauf bedacht schien, ihr Territorium zu verteidigen und sich sofort über ihren Schreibtisch beugte.
"Hier sitze ich jetzt. Niemand kann mir den Platz wegnehmen."
Lu Siyuan, der gerade sein Fahrrad abgestellt hatte, betrat das Klassenzimmer und warf nur einen kurzen Blick über den Raum, bevor er sich wieder auf seinen eigenen Platz setzte, ohne sich weiter darum zu kümmern.
Die Glocke läutete, und Shen Mianmian stand einfach an der Spitze des Klassenzimmers. Alle Augen waren auf sie gerichtet, außer denen von Lu Siyuan, der zusammen mit den anderen mit der gespannten Erwartung von Zuschauern bei einem Schauspiel zusah.
Wäre es jemand anders gewesen, er wäre vielleicht jetzt schon eingeschüchtert gewesen, aber Shen Mianmian, die bereits einmal dem Tod ins Auge geblickt hatte, sollte sie Angst vor den Blicken einiger Teenager haben?