Chapter 6 - Schleier

Der Wind pfiff durch die Äste, während Tobias und ich uns tiefer ins Unterholz vorarbeiteten. Der Regen fiel stetig und verwandelte den Waldboden in eine glitschige, unberechenbare Oberfläche. Meine Pfoten glitten hin und wieder über die nassen Blätter, doch ich hielt das Gleichgewicht. Tobias, mit seinen schweren Stiefeln, schien es leichter zu haben, obwohl er sich ebenfalls vorsichtig bewegte.

Die Luft war schwer, der Geruch von Moder und feuchter Erde drang mir in die Nase, vermischt mit etwas anderem – einem fernen, beißenden Gestank, der nach Stadt roch. Eine Mischung aus Abfall, Rauch und Benzin. Es ließ meine Nackenhaare aufstellen.

„Wie weit ist es noch?" fragte Tobias erneut, dieses Mal ein wenig ungeduldig. Seine Stimme war gedämpft, aber ich hörte die Anspannung darin.

„Nicht mehr weit," antwortete ich, ohne stehen zu bleiben. „Die Lichter von Newhurst sollten bald zu sehen sein. Aber Tobias… ab hier wird es gefährlich."

Er zog die Kapuze enger um seinen Kopf und nickte, ohne mich anzusehen. „Ich weiß. Aber wenn du denkst, dass ich mich verstecke oder umdrehe, dann kennst du mich nicht."

Ich blieb stehen, um ihn anzusehen. Sein Gesicht war vom Regen gezeichnet, seine Augen jedoch entschlossen. Er war kein Wolf, aber etwas an ihm hatte die Härte eines Raubtiers. Vater hatte ihn als Kind in unser Rudel aufgenommen, aber Tobias war kein hilfloses Kind mehr. Dennoch fühlte ich die Verantwortung schwer auf mir lasten. Wenn ihm etwas passierte… es würde nicht nur Seliniea sein, die mir das niemals verzeihen würde.

„Bleib wachsam," sagte ich schließlich. „Wenn du etwas Seltsames siehst, hörst oder riechst, sag es mir sofort."

„Verstanden," sagte er nur. Sein Tonfall war fest, beinahe herausfordernd.

Wir gingen weiter, und bald lichtete sich der Wald. Die Geräusche der Tiere verstummten, als ob selbst die Natur wusste, dass wir uns einem Ort näherten, der nicht mehr ihr gehörte. Vor uns breitete sich eine kleine Kießstraße aus, gesäumt von verkümmerten Büschen und hohen Gräsern. Die Dunkelheit verschluckte den Horizont, doch in der Ferne waren die flimmernden Lichter von Newhurst zu sehen – kalt, künstlich und einladend wie eine Falle.

Ich blieb stehen und hob den Kopf, um die Luft zu wittern. Der Gestank der Stadt war jetzt deutlicher. Aber etwas anderes lag in der Luft, ein metallischer Hauch, der mir nicht gefiel.

„Da ist sie," sagte Tobias leise und blickte zur Stadt.

Ich nickte, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. „Wir müssen uns trennen."

„Was?" Tobias klang überrascht. „Warum?"

„Weil ich keine andere Wahl habe," erklärte ich ruhig. „Du bist ein Mensch. Du kannst dich in der Stadt bewegen, ohne dass sie dich sofort angreifen. Ich hingegen werde gejagt, sobald sie mich sehen. Meine Anwesenheit könnte Emmy in noch größere Gefahr bringen."

Er zögerte, die Augen auf die dunkle Stadt gerichtet. „Und was genau soll ich tun?"

„Finde heraus, wo sie Emmy festhalten," sagte ich. „Hör dich um, beobachte. Du weißt, wie man unauffällig bleibt. Wenn du die Informationen hast, komm zurück hierher. Ich werde in der Nähe der Stadtgrenze bleiben und auf dich warten."

Tobias runzelte die Stirn, aber er nickte schließlich. „In Ordnung. Aber du solltest auch vorsichtig sein. Menschen sind unberechenbar, besonders die, die in einer Stadt wie dieser leben."

Ich lächelte schwach, ein bloßes Heben der Lefzen. „Das weiß ich. Ich bin es, der gejagt wird, erinnerst du dich?"

Tobias grinste kurz, dann zog er die Schultern hoch und machte sich bereit. „Also gut. Wir sehen uns hier wieder."

„Pass auf dich auf," sagte ich. Meine Stimme klang ruhiger, als ich mich fühlte. Ich konnte nur hoffen, dass er wusste, worauf er sich einließ.

Ich wartete, bis Tobias auf der Straße verschwunden war, dann wandte ich mich zurück ins Unterholz. Der Schutz des Waldes war dünn, aber immer noch besser als nichts. Meine Sinne waren angespannt, meine Ohren zuckten bei jedem Geräusch. Ich wusste, dass wir beobachtet werden konnten – von Jägern, vielleicht sogar von Maschinen, die in den Städten stationiert waren.

Die Zeit verging langsam, während ich mich an den Rand der Stadt heranschlich. Die Lichter wurden heller, der Gestank stärker. Ich konnte jetzt den Lärm der Stadt hören: dumpfes Hämmern, das Brummen von Maschinen, gelegentliches Geschrei. Es war chaotisch, unnatürlich, und es machte mich nervös.

Ich hielt an einem kleinen Bach, der durch das Unterholz floss. Der Regen hatte ihn anschwellen lassen, und das Geräusch von plätscherndem Wasser überdeckte die Geräusche meiner Bewegung. Hier blieb ich stehen, die Schnauze erhoben, um die Luft zu wittern. Der Geruch von Menschen war stärker geworden. Ich war nah dran.

Plötzlich durchbrach ein neuer Geruch die Luft. Es war schwach, fast verborgen unter dem Dunst der Stadt, aber es war da. Blut. Und nicht irgendein Blut – Wolfsblut. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, und ein tiefes Knurren entkam meiner Kehle. Emmy war hier. Irgendwo.

Ich war kurz davor, weiterzugehen, als ich ein Geräusch hörte, das meine Ohren spitzte: ein leises Summen, gefolgt von einem gleichmäßigen Brummen. Es wurde lauter, näher. Ich duckte mich ins Gras und lauschte, während meine Augen die Dunkelheit durchsuchten.

Lichter flackerten in der Ferne, wurden heller. Es war ein Fahrzeug, das sich langsam die Kießstraße entlangbewegte. Der Klang seines Motors war dumpf, schwer – kein gewöhnliches Auto. Das war ein Jägerfahrzeug.

Meine Muskeln spannten sich, und mein Atem wurde flach. Ich wusste, dass ich mich nicht bewegen durfte. Das Licht des Fahrzeugs würde mich sofort verraten, wenn ich nicht tief genug im Schatten blieb. Es war ein Spiel der Geduld, und ich konnte nur hoffen, dass Tobias weit genug weg war, um unbemerkt zu bleiben.

Das Brummen des Motors wurde lauter, und ich konnte das Fahrzeug jetzt klar erkennen. Es war groß, mit einem massiven Aufbau und verstärkten Metallplatten an den Seiten. Die Scheinwerfer durchbrachen die Dunkelheit, und für einen Moment schien es, als würden sie direkt auf mich gerichtet sein.

Ich hielt die Luft an, meine Pfoten fest in den Boden gedrückt. Es gab kein Entkommen, wenn sie mich sahen. Meine einzige Chance war, still zu bleiben und darauf zu hoffen, dass sie vorbeifuhren.

Der Wagen hielt plötzlich an. Das Brummen des Motors wurde tiefer, als er in den Leerlauf schaltete. Mein Herz raste, und mein Instinkt schrie mich an, wegzulaufen. Aber ich wusste, dass Bewegung mich verraten würde.

Ich duckte mich tiefer ins Gras und wartete, während das Geräusch von Türen, die geöffnet wurden, die Luft durchbrach. Schritte folgten, schwer und laut, und ich konnte die Stimmen von Menschen hören. Sie waren zu weit entfernt, als dass ich die Worte verstehen konnte, aber ihr Tonfall war ernst, angespannt.