Adeline blickte sich im Ballsaal um, auf der Suche nach Tante Eleanor. Als sie merkte, dass die Madam abgelenkt war, schlich sie vorsichtig und zaghaft rückwärts, bis sie aus dem Blickfeld verschwand. Langsam aber sicher entkam sie in den Schatten des Saales und schlich auf den Balkon hinaus. Die kalte Luft streichelte ihre Haut sanft und provozierte das Aufkommen von kleinen Gänsehautschauern. Sie atmete zittrig die erfrischend schöne Brise ein. Der Vollmond war nicht mehr zu sehen, und außer ihr und dem sterngesprenkelten Nachthimmel war niemand hier draußen.
Sie schloss die Augen, lehnte sich über das Balkongeländer und sehnte sich nach einem Leben weit, weit weg von diesem Ort. Sie wollte zurück nach Kastrem, den Ort ihrer Geburt. Doch das riesige Anwesen dort war von einem schrecklichen Usurpator besetzt, der Adeline ihres Geburtsrechts beraubte.
"Ich wusste, dass ich dich hier finden würde, meine liebe Adeline."
Adeline antwortete nicht, sondern genoss weiterhin die knackige Herbstluft, die dem Winter näherkam. Die Blätter raschelten in der Ferne und sangen ein Lied, das sonst niemand zu schätzen wusste.
"Die Schweigebehandlung wirkt nur bei Menschen, die sich wirklich um dich kümmern."
Bei diesen Worten fuhr Adeline auf. Sie fühlte sich tief getroffen, doch seine Worte schmerzten sie nicht.
"Und dazu zähle leider auch ich", fügte er hinzu.
Ihre Stirn legte sich in Falten. Bedeutete das nun, er interessierte sich für sie, oder nicht? "W-was meinst du damit?"
Das spöttische Lächeln auf Elias' Lippen wurde noch breiter. Die Welt könnte vor ihm in Flammen stehen, und er würde immer noch lachen. Belustigung funkelte in seinen Augen – als wäre jedes Wort ein Scherz.
"Wann bist du so zurückhaltend geworden?", fragte er sie.
Im fahlen Mondlicht wirkte Adeline atemberaubend. Ihre Schultern leuchteten, und ihr Körper schien in übernatürlichem Glanz. Ihr Haar, das kaskadenartig herabfiel, glänzte wie Tropfen der Sonne. In dem gesamten Ballsaal voller Frauen konnte keine es mit ihrer Schönheit aufnehmen. Würden viele jedoch anders behaupten, so würde er ihnen einfach die Zungen herausschneiden und für ein rätselhaftes Ende sorgen.
"K-kanntest du mich als Kind?", fragte sie leise.
"Ich bin älter, als du dir vorstellen kannst."
Das Grinsen auf Elias' Gesicht wurde noch tiefer. Sie betrachtete ihn skeptisch. "Nach so vielen Büchern, wie du sie gelesen hast, hätte ich gedacht, dass du weiser wärst als das, liebe Adeline."
Adeline schnaubte. Seine Augen funkelten bei dieser kleinen Geste. "Ich weiß, dass Reinblüter länger leben als gewöhnlich. Sie sterben nicht, es sei denn, es geschieht mit einem silbernen Messer."
"Das möchte man den Menschen jedenfalls glauben machen."
Adeline wandte ihren Kopf hastig zu ihm. Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit. "Was ... willst du sagen?"
Wenn Adeline vorhatte, den reinblütigen König zu töten, musste sie die richtige Taktik kennen. Was brachte es, mit einem silbernen Dolch am Oberschenkel herumzulaufen, wenn er nicht sinnvoll eingesetzt wurde?Was wolltest du damit sagen, was ich gemeint habe?"
Adeline verengte die Augen. Versuchte er absichtlich, nervtötend zu sein? Seine Wortwahl verwirrte sogar jemanden mit ihrem Scharfsinn.
Als er sah, wie sichtlich genervt sie war, wurde sein Lächeln noch breiter. Es machte ihm offensichtlich Spaß, Leute zu necken. Das war ihr schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen aufgefallen. Und selbst in der Nacht, die sie mit ihm verbracht hatte, hatte er nichts unversucht gelassen, um sie zu ärgern.
Sie blinzelte einmal und plötzlich war er direkt vor ihr. Überrascht wich sie zurück, doch ohne Anstrengung zog er sie wieder zu sich. Sein Druck im Rücken brachte ihre Brüste dazu, aneinander zu streifen.
"Was machst du da?", fragte sie in leisem Flüsterton. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass die Vorhänge zugezogen waren. War das sein Werk?
Elias Luxton ragte über sie auf. Er war groß und wohlgeformt. Die Spitze ihres Kopfes erreichte kaum seine Schultern. Mit seiner großen Hand hätte er sie im Nu zermalmen können.
Sie schluckte, im Wissen, dass er ihr leicht Schmerzen zufügen könnte. Behutsam führte er seine Hand an die Seite ihres Gesichts. Ihre Wirbelsäule versteifte sich. Sie hielt den Atem an, während er sanft über ihr Haar strich. Er roch nach süßer Minze… und sie wusste, dass er auch so schmecken würde.
"Meine Kette", sagte sie plötzlich. "Kann ich sie zurückhaben?"
Ein leises Kichern entwich Elias. Sie gab ihr Bestes, nicht zu zittern, auch wenn sich ihr Magen krampfte und ihr Herz aussetzte. Das Geräusch glich dem leisen Knurren eines Löwen. Er streichelte mit der Handrückseite ihre rechte Wange.
Für einen Moment fiel ihr Blick auf einen großen Rubinschmuckring. Der Stein war zu einer scharfen Rechteckform geschliffen, umgeben von sich windendem Weißgold, ähnlich den Dornen einer Rose.
"Manchmal stotterst du, manchmal nicht. Warum ist das so?"
Adeline blinzelte. Sie bemerkte selten, wenn sie nicht stotterte. Es sei denn, es war in Ashers Nähe, bei dem sie sich am sichersten fühlte.
"Ich erinnere mich, du hast nicht gestottert, als du bei deinem liebsten Jüngling warst", sagte er sanft. Seine Stimme ließ Funken durch ihren Körper schießen. Sie war so leise wie ein Wiegenlied und zugleich süß. Doch sie spürte die unterschwellige Drohung. Sie war verdeckt, aber sie konnte seine Frustration fühlen.
Er war schlecht gelaunt, doch seine Liebkosungen blieben zart. Sie hatte noch nie zuvor einen Mann wie ihn getroffen – jemanden, der seine Wut in diesem Maße unterdrücken konnte.
Als sie zu ihm aufblickte, sah sie das Unwetter, das in seinem verdunkelten Blick brodelte. Seine Augenfarbe ähnelte der eines Blutbades. Er wirkte einschüchternd, aber war ihr nie gegenüber grob. Was sollte das alles bedeuten?
"Bin ich so attraktiv, dass ich dich verzaubere?", neckte er.
Adeline blinzelte sich zurück in die Realität. Sie schubste ihn fort, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Gegen ihn zu stoßen war, als würde man gegen eine Mauer drücken. Ihre Hand traf auf seine steinharte Brust.
"Möchtest du, dass ich gehe?"
Adeline nickte.
"Wie schade."Sie blickte erneut auf und zeigte ihre eindeutige Missbilligung.
"Es ist mir egal, was dir gefällt."
Adeline keuchte bei seinen Worten. Dieses Mal schob sie ihn stärker weg. Ohne zu zögern, ergriff er ihre beiden Handgelenke. Sie stieß einen Protestschrei aus. Er zog sie unerbittlich näher heran und beugte seinen Kopf. Ihr Atem stockte. Sie hörte das Zittern ihres Herzens und das Rauschen ihres Blutes, das die Außenwelt übertönte.
"W-willst du mich etwa verspeisen?", piepste sie wie eine Maus in der Falle.
Elias prustete laut und höhnisch. Sie wich zurück, ihr Gesicht erhitzt vor Verlegenheit. "Das weiß ich nicht."
Adeline sah wieder zu ihm auf, machtlos in seiner Gegenwart. Er stand unangenehm nah. Seine langen Schenkel drückten durch ihr Kleid und spreizten eines ihrer Beine. Sie musste ihr Bein anheben, damit er mit seinem Knie nachgab und sich entschuldigte. Sie könnte ihn dort treten, wo es weh tut - zwischen die Beine.
Der Gedanke war verführerisch.
"Du schmeckst wirklich unverschämt süß ..."
Adeline schnappte nach Luft. Ihre Erregung schnellte nach oben, schneller als eine ungesicherte Kugel. Hat … hatte er in jener Nacht von ihr getrunken?
"Du hast doch nicht etwa—"
"Nein, natürlich nicht", sinnierte er. "Ich trinke nur von Frauen, die bereitwillig sind und mich anflehen, ihr Blut zu nehmen."
Adelines Gesicht erblasste. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie vergessen hatte, wie gefährlich seine Art war. Im Krieg waren Vampire dafür berüchtigt, Menschen die Köpfe abzureißen. Sie tranken das Blut ihrer Feinde.
"Ich würde es bevorzugen, wenn du mich in Ruhe lassen würdest."
"Aber wie kann ich das tun, wenn unser Verhältnis bereits vollzogen ist?"
Auf der Stelle wurde Adeline fast ohnmächtig. Ihre Knie gaben nach. "Das stimmt nicht!" rief sie aus und erschreckte ihn.
"Es sei denn, du hast es getan, während ich bewusstlos war—"
"Das war ein Scherz, Liebes", beruhigte er sie. Aber sein Blick hatte einen dunklen Schimmer. Fand seine kleine Beute etwa den Gedanken abstoßend, dass er sie entjungfert hat?
"Wir haben nichts getan, was über deine Grenzen hinausging", sagte er sanft.
Elias ließ ihr Handgelenk los und fuhr fort, die Seite ihres Gesichts zu berühren. Sein Daumen strich über ihre glatte Wange und zeichnete sanfte Kreise, in der Hoffnung sie zu beruhigen. Seine andere Hand lag auf ihrer Taille und zog sie näher zu sich heran.
Heute Abend war der Wind stark. Er wollte nicht, dass ihr kalt wurde. Obwohl er ihr nie Wärme spenden konnte, von seiner eiskalten Berührung bis hin zu seiner einschüchternden Präsenz, würde ihr Körper doch zumindest von seinem geöffneten Anzug leicht umhüllt werden.
"I-ist das der Grund, warum du mich bedrängst? Wegen dieser einen, bedauerlichen Nacht—"
"Damals schienst du es nicht zu bereuen. Vor allem, nachdem du dich auf mich geworfen hast."
"D-du hättest dich zurückhalten können, wie ein Gentleman!"
"Aber ich habe mich wie ein Gentleman verhalten", überlegte er.
"N-nein, hast du nicht—"
"Ich war zärtlich zu dir und habe mich wie ein Mann benommen, nicht wahr?"
Ihr Gesicht errötete. Selbst in der Dunkelheit konnte er es sehen. Das brachte ihn zum Lachen. Er konnte ihren Herzschlag hören – erratisch gegen ihren Brustkorb hämmernd, so als würde ihr armes Herz nach draußen drängen. Er lehnte sein Kinn auf ihren Kopf und genoss das Geräusch ihres in Panik geratenen Herzens.
Das also war der Auslöser für ihr Stottern.
Adeline stotterte unbewusst immer dann, wenn sie nervös, verlegen oder ängstlich war. Er fragte sich, wann und wie sie diesen Bewältigungsmechanismus entwickelt hatte. Als Kind war sie eines der selbstbewusstesten und lebensfrohsten Mädchen, die er je kannte.
Es schien, als ob die Blumen für sie blühten, die Sonne für sie tanzte und die Welt ihre Auster war. Überall, wo sie hinging, brachte sie Freude.
"K-können wir so tun, als wäre diese Nacht nie geschehen … bitte?"
Elias fühlte sich brüskiert. Sein Griff um ihre Taille wurde fester und er hörte auf, mit ihrem Gesicht zu spielen.
"Ja, das kann ich."
Sie stieß einen kleinen, bebenden Seufzer der Erleichterung aus. Er war froh, dass sie glücklich war. Er selbst war es sicherlich nicht. Doch dann überraschte sie ihn. Unbewusst lehnte sie sich vor und ihre Stirn stieß gegen seine Brust.
Diese kleine Geste lockte ihn. Sie war bezaubernd töricht. Ihr Haar fiel über ihre Schultern und enthüllte die Länge ihres schönen Halses. Ein kleiner Kinnwinkelwechsel würde genügen, um sich in sie zu verbeißen.
Adeline roch süß, wie ein Stück Kuchen, das ein Kind nicht berühren durfte. Er leckte sich über die Unterlippe.
"Danke", sagte sie schüchtern.
Elias seufzte. Sie bedankte sich bei ihm, während er ans Verschlingen dachte. "Was immer dich glücklich macht, meine teure Adeline."