Chereads / Seine Majestät's Hinterhältige Sünden / Chapter 2 - Kleines Rehkitz

Chapter 2 - Kleines Rehkitz

Walzer-Musik: Joe Hisaishi - Das Karussell des Lebens.

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"Er hat wirklich den Verstand verloren, oder?", erklang eine gereizte Stimme aus den oberen Rängen des Ballsaals. Er stand auf einem Balkon, der einen Blick über die gesamte Tanzfläche bot. Aus all den anwesenden schönen Frauen wählte er die mit der prüdesten Ausstrahlung.

"Seine Majestät hat sie im Auge, seitdem sie den Ballraum betreten hat", warf eine andere Stimme ein, fast belustigt über den Ärger seines Zwillingsbruders. "Sie kommt dir nicht bekannt vor, Weston?"

Westons Lippen verzogen sich zu einer tiefen Grimasse. Durch seine silberne Brille beobachtete er sie genauer. Die arme Frau wurde zum Mittelpunkt der Tanzfläche gezerrt. Eigentlich mehr hingeschleift, denn ihr Blick ließ die Majestät nicht los.

"Es scheint, als würde Seine Majestät ausnahmsweise mal wohltätig sein", spuckte Weston aus. Alle Blicke waren auf sie gerichtet und die Menschen wichen zurück wie das Rote Meer. Ein Narr allein würde einen Reinblüter, der Macht und Reichtum ausstrahlte, nicht erkennen.

"Ach, großer Bruder, du bist so gemein", kicherte Easton. Er stützte seinen Arm auf Westons Schulter und spähte über das Geländer. Seine Augen leuchteten auf beim Anblick der Frau.

"Sie ist eine Augenweide, wenn du mich fragst", ergänzte Easton mit fröhlicher Stimme. Der Kristallleuchter ließ sie im besten Licht erscheinen. Brillante Lichtstrahlen tanzten auf ihrer zierlichen Silhouette. Sie hatte die Statur eines Schwans und das unschuldige Wesen eines Rehkitzes.

"Ihre Persönlichkeit ist so engelsgleich wie ihr sonnengeküsstes Haar", bemerkte Easton. Plötzlich blickte sie nach oben, mit Augen aus reinem Smaragd. Sein Herz setzte beinahe aus.

Eastons breites, spöttisches Lächeln verschwand. Er stieß seinen älteren Bruder unsanft an und sein Ellbogen traf Westons Hals.

"Du Rohling!" knurrte Weston und schob seinen Bruder von sich. "Wie viele Pasteten hast du den Dienstmädchen heimlich zugesteckt? Du bist schwerer als ein schlachtreifes Schwein."

Easton stöhnte über die Verstimmung seines Bruders. Was war nur in ihn gefahren? "Was ist dir über die Leber gelaufen?", brummelte er und rieb seinen schmerzenden Arm.

"Deine Zukunft", knurrte Weston wütend. Er war schlecht gelaunt wegen der Einmischung Seiner Majestät. Der heutige Ball sollte nicht nur den Geburtstag Seiner Majestät feiern, sondern auch die Suche nach einer Gemahlin beinhalten.

Prinzessinnen aus aller Welt, Prominente, Politikertöchter, Konzern-Erbinen, die Liste war lang. Die Prophezeiung hatte gesprochen. Am Tag des Vollmondes, wenn die Werwölfe heulen und die Sterne sich ausrichten, würde sich die Seelenverwandte Seiner Majestät offenbaren.

Anstatt dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, hatte der brutale König eine Frau aus den verborgenen Schatten des Balkons gezerrt. So viel also zur erwarteten Seelenverwandten. Man stelle sich nur ihre Überraschung vor, als sie ihre Liebste in den Armen einer anderen vorfand.

"Nein, Weston, sieh nur!", Easton zeigte mit seinem Kinn auf das Mädchen. "Dieser Balkon ist gut verborgen hinter den dicken Vorhängen. Niemand kann uns entdecken, doch diese einfache Menschin hat uns mühelos gefunden."

Weston verdrehte die Augen. "Als ob." Er sah über die Reling und tatsächlich, er sah nur die Oberseite ihres Kopfes. Ihr Haar ähnelte dem Sonnenlicht des späten Nachmittags – je nach Winkel eine Mischung aus beeindruckendem Gold und schimmerndem Honig.

"Sie ist solch eine steife Dame. Warum sieht sie aus, als würde sie persönlich mit dem Teufel tanzen?", murmelte Weston.

Easton rieb sich erneut den Arm. Vielleicht hatte ihn das Licht getäuscht? Doch das war unmöglich. Auch er war ein Reinblüter. Nur zehn Familien besaßen das ursprüngliche Blut der Vampire. Die stärkste aller Rassen; alle anderen Vampire stammten von den Reinblütern ab.

Die Stärke eines Reinblüters war unvergleichlich. Sie konnten es mit zehn Hybriden aufnehmen ohne mit der Wimper zu zucken. Die Welt war ihr Spielplatz, und sie taten, was sie wollten. Doch die Identität der zehn Familien war unbekannt. Sie wurde geheim gehalten.

"Sie hatte waldgrüne Augen", stellte Easton fest. "Du glaubst doch nicht etwa, dass sie die Goldene Rose ist?"

Westons Laune verdüsterte sich weiter. Dieses kleine, schwache Ding war die Goldene Rose? "Verarsch mich nicht mit so einem dämlichen Scherz, du Dummkopf."

Easton verdrehte die Augen. "Wie oft musst du mich an einem Abend beleidigen? Das ist schon deine achte Beleidigung und die Party hat gerade erst angefangen!"

Weston spottete. "Es ist keine Beleidigung, wenn es die Wahrheit ist...", seine Stimme verstummte. Der bedauernswerte Mensch hatte hochgeschaut. Die Beute starrte den Raubtieren direkt in die Augen.

Sein Bruder hatte nicht gelogen. Sogar aus der Ferne sah er ihren neugierigen Blick klar und deutlich. Durch die schweren burgunderroten Vorhänge, durch die magische Barriere, hatte sie sie entdeckt.

Es war eine unmögliche Aufgabe. Eine einfache Menschin wie sie sollte dazu nicht fähig sein. Seine Augen verengten sich. Wer genau war diese Frau?"Langweile ich dich etwa?"

Adeline zuckte zusammen, als seine Stimme unerwartet erklang. Tief und verführerisch streichelte sie ihre Haut. Sie war nervös in seiner Gegenwart, ungeachtet der mutigen Dinge, die in jener Nacht geschehen waren. Der Alkohol hatte sie angetrieben, und sie konnte sich an wenig erinnern. Doch ihre schmerzenden und zittrigen Schenkel vergaßen nicht.

Seine Lippen berührten beinahe ihr Ohr. Sie schauderte, als er sie sanft streifte. Sein Atem war warm und kitzelnd auf ihrer Haut.

"Du bist schon zum zweiten Mal abgelenkt, kleines Rehkitz."

Adeline wandte ihren Blick vom Balkon ab. Die ganze Zeit über hatte sie die neidischen, aber auch neugierigen Blicke gespürt, die auf sie gerichtet waren. Es schien, als lauere von allen Seiten eine Falle. Doch zwei Paar Augen stachen ihr besonders ins Auge. Oder zumindest war das die Anzahl, die sie gezählt hatte. Versteckt hoch oben in der Decke, hinter zugezogenen Vorhängen saßen zwei Personen. Was machten sie dort auf dem Balkon? Attentäter vielleicht?

"Jemand versucht, mir meine Arbeit wegzunehmen", sagte sie mit leiser, zurückhaltender Stimme.

Seine Augenbrauen hoben sich vergnügt. Ihre Arbeit? Eine liebreizende Prinzessin wie sie hatte eine Aufgabe? Was für eine seltsame Vorstellung. Zugegeben, sie übertraf stets alle Erwartungen. Wie in jener Nacht, als sie zu ihm kam und ihm stammelnd ihre unsterbliche Liebe gestand.

"Und was ist deine Aufgabe, kleines Rehkitz?", neckte er sie.

Adelines Griff um seine Hand verfestigte sich. Sie bewegten sich über das Parkett und ihr kam es merkwürdig vor. Warum beobachteten sie so viele Menschen? Warum wirkte Tante Eleanor, als könnte sie jeden Moment in Ohnmacht fallen?

"Da – da sind zwei Personen auf dem Balkon, ganz oben, verborgen zwischen den Ziergardinen. Sie haben uns schon eine ganze Weile beobachtet", verriet sie zögerlich. "Ich glaube, sie suchen nach Seiner Majestät..."

Als er den Kopf hob und seinen Blick schweifen ließ, trat sie schnell näher zu ihm. Er war überrascht. Sofort kehrte seine Aufmerksamkeit zu ihr zurück.

"Nein!" sagte sie hastig. "Schau nicht hin!"

"Ach, das erinnert mich an die besagte Nacht." Er ließ ein sanftes, tiefes Lachen hören. Sie hatte sich an ihn gedrückt. Bei dieser Erkenntnis trat sie schnell zurück. Die Hand, die an ihrem unteren Rücken lag, zog sie wieder näher zu ihm.

"Ich habe dich nur aufgezogen, Liebes", flüsterte er ihr ins Ohr.

Adelines Herz war ein Verräter. Er war jemand, den sie geschworen hatte, zu meiden. Sie hatte sich vorgenommen, ihn nie wiederzusehen. Und doch stand sie hier, in seinen Armen, während er ihre Hand hielt. Gemeinsam glitten sie über die Tanzfläche, ihre Körper berührten sich.

Sein Griff war fest und stark. Wie ein Raubtier, das seine Beute im Kiefer hielt. Er würde sie niemals loslassen.

"Hör auf damit", forderte sie mit zitternder Stimme.

"Womit aufhören?"

"Hör auf, mich zu ärgern. Ich kenne dich doch gar nicht..."

"Unsinn", erwiderte er. "Adeline, das verletzt mich."

Adeline spannte sich an. Ihr Name lag ihm so leicht auf der Zunge, als sei es ihm bestimmt, ihn auszusprechen. Er lächelte sie von oben herab an, der schelmische Unhold, der er war.

"Wie kennst du meinen Namen?" fragte sie.

Es war ihr Glück, dass er kicherte. Das Lachen ließ Funken durch ihren ganzen Körper fahren. Allein dieser Klang brachte ihre Zehen zum Kribbeln. Alles, was er tat, erinnerte sie an die Nacht, als die Kerzen flackerten und draußen der Regen tobte. Doch im Schlafzimmer wütete ein noch weit größerer Sturm.

"Liebe Adeline, hast du es schon vergessen?" sinnierte er. "Ich kenne deinen Namen schon lange, lange bevor du geboren wurdest."